
Das Buch über „Die kleine Raupe Nimmersatt“ wird 50 Jahre alt und in mir werden mal wieder schöne Erinnerungen wach …
1981 war ich 3 Jahre alt und ein „arbeitsloses“ Kind, denn ich ging nicht in den Kindergarten. Mehrere Male hatte man versucht, mich in diese Einrichtung zu bringen, in der ich nicht sein wollte. Den Grund für mein vehementes „dagegen sein“ weiß ich nicht mehr, denn alle dort waren sehr nett und mir zugetan. Aber nach mehreren Anläufen, mich dort zu halten, viel Geschrei meinerseits und den damit verbundenen Ohrproblemen der Erzieherinnen hieß es, ich solle doch erst einmal zu Hause bleiben und im Alter von 4 Jahren mein erneutes Debüt versuchen.
Meine Mutter versuchte mich daheim zu fördern, wo es ging. Über zu geringen Austausch mit anderen Kindern musste sie sich nicht sorgen. Wir wohnten in einer Sackgasse, in der viele andere Kinder lebten und mit denen ich – nach deren Feierabend aus dem Kindergarten – umher streunte, um viele schöne Abenteuer in der Natur zu erleben.
Einmal in der Woche unternahmen meine Mutter und ich eine Tour zur örtlichen Bücherei des Dorfes, in dem wir wohnten. Und diese Fahrten waren der Beginn meiner großen Liebe zur kleinen Raupe Nimmersatt.
Meine Mutter schob ihr Fahrrad aus der Garage, setzte mich auf den Kindersitz, der sich hinten auf dem Gepäckträger befand und sagte diesen einen Satz, den nur Kinder kennen, die wie ich in den 80er Jahren aufwuchsen: „Halt die Beine weg von den Speichen.“ Damals waren die Fahrradsitze sicherheitstechnisch nicht so gut ausgestattet wie jetzt und unter uns Kindern erzählten wir uns gerne Gruselgeschichten darüber, wie ein Kind mal mit dem Fuß in eine Fahrradspeiche gekommen war. Das sollte abschreckend wirken. Gepolstert waren diese Sitze auch nicht. Ich glaube, das war ein Holzbrett welches mit Wachstuch bestückt war. Der Airbag war der Rücken der Mutter.
Alle 2-3 Wochen fuhr meine Mutter mit dem Rad (und mir hinten drauf ) zur Bücherei. Zwar hatte ich einige Bücher zu Hause, aber sie wollte mir gerne neue Anreize zum Lesen und Betrachten geben.
Der Weg zur Bücherei war mit dem Rad ein bisschen beschwerlich. Wer die Kasseler Berge kennt, der hat eine Ahnung davon, wie dieser Weg in einem kleinen hessischen Dorf ausgesehen haben könnte. Meine Mutter rollte mit mir die Straße, in der wir wohnten, hinab, nahm Anschwung für den Hügel (den wir immer den Kindergartenberg nannten, weil sich dort „oben“ auch der Kindergarten befand) und schaffte es mit Schnaufen und sehr viel Anstrengung, den Berg ohne abzusteigen radelnd zu erklimmen. Ich auf meinem Fahrradsitz war da sicher keine große Hilfe, im Gegenteil. „Schneller, schneller!“ rief ich und klopfte auf ihren Rücken, um sie anzufeuern. Das mag ziemlich frech erscheinen, jedoch hatte sie mir die Welt der Bücherei gezeigt und ein Feuer in mir entfacht. Zum Glück ging es nach dem Erreichen des Kindergartenbergs wieder einen Berg hinunter, sodass sich meine arme geplagte Mutter ein wenig ausruhen konnte. Indes war ich so dermaßen aufgeregt, dass ich meine Beine kaum mehr still halten konnte und fast vergaß, sie von den Speichen fernzuhalten.
Die Bücherei war gegenüber der Post und schon das war für mich ein Highlight, denn welches Kind liebt es nicht, sich im Warteraum einer Behörde auf einen Stuhl vor einen kleinen Tisch zu setzen, um dort mit einem Kugelschreiber, der an einer Kette hängt, wichtige Formulare auszufüllen? Es gab dort keinen Kindertisch, geschweige denn eine Kinderecke mit Spielsachen, aber das wollte ich auch nicht. Sich an einen der Erwachsenentische zu stellen, auf einem der Stühle Platz zu nehmen und mit dem Kugelschreiber an der Kette alles auszufüllen, was man ausfüllen kann, war schon extrem toll. Das durfte ich auch lange machen. Bis ich in den orangenen Schwamm biss, der eigentlich nur dazu gedacht war, dass Menschen dort ihre Briefmarken anfeuchteten…..
Die Bücherei, die wir wöchentlich besuchten, war in einem alten Gebäude untergebracht. Es roch nach Papier. Sessel und Stühle im Stil der 60er Jahre standen neben den ellenlangen Regalen voller Bücher, die alle geduldig warteten, bis sie jemand herauszog. „Dieses Buch will ich ausleihen!“ rief ich aufgeregt und zeigte es meiner Mutter. „Oh, die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle, schön.“ sagte sie und ging mit mir zur sogannten Kasse.
Die nächsten Tage las mir meine Mutter jeden Tag das ganze Buch vor. Nichts durfte weggelassen oder verändert werden. Wie jedes Kind hatte ich Milliarden von Nervenzellen in meinem Gehirn und dieses klatschte Beifall, wenn die Synapsen knallten. Mir gefiel die Geschichte der kleinen Raupe so sehr, dass ich gar nicht merkte, wie ich nebenbei einiges über die Welt der Raupen, aber auch das Zählen und Aufzählen, Farben und Bezeichnungen einiger Lebensmittel lernte. Der Unterschied zwischen Salat- und Essiggurke zum Beispiel. Ach, es war einfach zu schön. Die kleine Raupe fraß und fraß, aber satt war sie immer noch nicht….
… und so ging es mir auch. Nicht wegen des Essens. Sondern wegen der Bücher. Ich konnte es kaum erwarten, wieder in die Bücherei zu kommen, und so holte meine Mutter zwei Wochen später wieder das Rad aus der Garage, sagte mir, ich solle die Füße von den Speichen fernhalten, radelte den einen Berg hinunter, den anderen wieder hinauf und dann wieder hinunter, bis wir wieder vor der Bücherei standen.
„Dann such dir mal was Schönes aus.“ sagte sie und schaute sich selbst ein wenig um. Wohlmöglich dachte sie, sie hätte nun Zeit dafür. Allerdings stand ich nach einer Minute wieder vor ihr und hielt das Buch der „Kleinen Raupe Nimmersatt“erneut in den Händen. „Wie bitte? Dieses Buch hatten wir doch gerade erst ausgeliehen. Es gibt noch so viele andere, schau dir alles mal in Ruhe an!“ Das tat ich und trotzdem wurde es bis auf wenige Ausnahmen immer wieder das Buch der Raupe, die sich durch alles Mögliche frisst, einen Kokon baut, darin verschwindet und als wunderschöner Schmetterling erblüht. Nach dem x ten mal hätte man denken können: „ Warum kauft die Mutter ihrem Kind das Buch nicht einfach?“ Meine Antwort darauf ist, dass ich dann niemals so oft die Welt der Bücher hätte entdecken können, und dafür bin ich meiner Mutter sehr dankbar.
Kinder an Literatur heranzuführen ist das einfachste von der Welt und so bedeutsam und prägend für alles, was ihren späteren Weg angeht. Kindern, denen regelmäßig vorgelesen wird, haben das große Glück, dass ihre Vorstellungsgabe, Phantasie, Kreativität und das Einfühlungsvermögen geschult wird. Und über die Entspannung will ich gar nicht erst reden. Noch heute liebe ich es, zu lesen und bin glücklich über meine heimische Bibliothek, die ich mir in all den Jahren zusammengesammelt habe.
Der Geburtstag der „Kleinen Raupe Nimmersatt“ war ein schöner Anlass für mich, dieses schöne Erlebnis wiederzuentdecken. Ach ja, als ich Jahre später selbst Erzieherin wurde und Geld verdiente, habe ich mir sehr viele andere Bücher des Autoren gekauft.
- Die kleine Spinne spinnt und schweigt
- Nur ein kleines Samenkorn
- Der kleine Käfer Immerfrech
- Abends aß Arthur Ananas
Schön war´s! Tausend Dank an Eric Carle für das Erschaffen so vieler schöner Geschichten und Happy Birthday, kleine Raupe Nimmersatt.