
Sommer 1984. Tag meiner Einschulung. Mit meiner hellblauen Cordhose, dem pastellgelben Pulli und einer blauen Schultüte mit aufgedruckten gelben Enten stehe ich da und sehe ein bisschen genervt aus. Eigentlich hatte meine Mutter mir noch Schuhe mit Klettverschluss gekauft, aber just am Vorabend der Einschulung lernte ich, meine Schnürsenkel selber zu binden. Bevor nebenstehendes Foto vor meinem neuen Lernort entstanden war, hatten sich alle Nachbarn aus der Strasse zusammengefunden, um mich zu begrüßen, zu beschenken und anschließend in die Schule zu verabschieden.
Unsere Nachbarin Frau Weber weinte, als sie mir einen selbstgenähten Turnbeutel in die Hand – und einen Kuss auf die Stirn drückte. Frau Hoff sagte, es würde schon alles gut werden und meine Mutter sagte, wir müssten jetzt endlich mal los. Es war, als würde ich in ein Krisengebiet entsandt und nicht in die Schule geschickt werden.
Die Aufgeregtheit meiner Mitmenschen rund um das Event meiner Einschulung konnte ich damals gar nicht verstehen. Klar fand ich es toll, nun auch zur Schule zu gehen, allerdings hatte das so viele andere Gründe als die, die Erwachsene sich so vorstellen…
Endlich würde ich dem Geheimnis der viereckigen Kakaotütchen mit angeklebtem Strohhalm auf die Spur kommen, die mein Bruder mir so manches mal aus der Schule mitbrachte. Bei uns im Kindergarten gab es nur Pfefferminztee in runden Kannen und ohne Strohhalm.
Endlich würd ich als Unterrichtsfach >Sport< in der Schule haben und dieser wäre nicht in einem kleinen Turnraum im Keller, sondern in einer Turnhalle. Die Halle kannte ich bereits aus meiner Zeit als „Noch-nicht-Schulkind“, denn dort fand wöchentlich das Kinderturnen statt, zu dem meine Mutter mit mir einmal in der Woche nachmittags ging. Wenn sie mich für das Kinderturnen in der Umkleidekabine der Grundschule umzog, war das für sie stets ein schwieriges Unterfangen, denn ich konnte es nie erwarten, endlich mit einem freudigen Geschrei diese Halle mit all meinen Glücksgefühlen des sich Bewegens zu erfüllen. Wenn sie mir den Rollkragenpulli auszog, um mich in die Turnsachen zu bekommen, war es schlichtweg so, als würde sie versuchen, einem wildgewordenen Pferd ein Geschirr anzulegen. Anstrengend. Anschließend sauste ich davon wie ein Auto meines Bruders auf seiner Carrera Rennbahn und lief in dieser für uns Kinder riesigen Halle erst einmal sehr viele Runden, bevor ich mich mit meinen Freunden auf den Mattenwagen schmiss, um von der Leiterin des Kinderturnens umhergefahren zu werden. Wir hüpften, rollten und sprangen, was das Zeug hielt. Aus Turnen wurde Sport und ich konnte mein Glück nicht fassen, dass dies ein Unterrichtsfach war. Herrlich.
Ein weiterer Aspekt meiner Freude, bald ein Schulkind zu sein war der, dass ich nun neue Wege gehen könnte, denn die Strecke zur Schule war eine völlig andere als die zum Kindergarten. Zugegeben, ein bisschen Wehmut schlich sich da schon ein, denn ich liebte meinen Kindergartenweg sehr. Anfangs mit Mama an der Hand durfte ich die kurze Strecke in meinem letzten Kindergartenjahr alleine gehen und das war immer ein Spaß. Oft spielte ich dabei, dass ich Postbotin sei und wichtige Briefe in meiner Tasche hätte. Damals hatte ich wie viele Kinder keinen Rucksack sondern eine schlichte Brottasche. Wie der Name schon sagt, befand sich dort auch nur das Brot drin. Keine Trinkflaschen, keine an Karabinerhaken hängenden aufblasbaren Sitzkissen, keine Regenponchos zum Ausfalten oder Desinfektionstücher. Schlichtweg Brot. Nothing else.
Einmal rief der Kiga bei meiner Mutter an, da ich zur gemeinsamen Frühstückszeit noch nicht dort erschienen war. Völlig übertrieben fand ich die ganze Aufregung darüber, denn die Post verteilte sich nun mal nicht alleine! Außerdem musste ich auf dem Weg noch ein paar Schnecken retten. Diese waren nach dem Regen aus ihren Löchern gekrochen und sollten auf keinem Fall von jemandem unachtsamen kaputt getreten werden. Aus lauter gutem Dienst an meinen Mitbürgern und der Tierrettung hatte ich sogar das Angebot des Herrn G. ausgeschlagen. Dieser hatte mich auf meinem Weg zum Kiga gesehen und extra für mich sein Auto angehalten. „Komm, steig ein, ich fahr dich schnell!“ hatte er gesagt. Ich setzte Schnecke Numero 5 an diesem Tag meines Weges ins Gras, kam dann aus der Hocke hoch, fuhr mir mit dem Handrücken über die triefende Nase, wischte selbige an meinem Regenmantel ab und sagte: „Nein danke. Ich darf nicht mit Fremden mitfahren.“ „Aber ich bin doch nicht fremd, du kennst mich doch“, sagte er und rief, meine Worte ignorierend, nochmals, ich solle doch einsteigen, es würde schließlich regnen. Wenn der wüßte, dachte ich mir. Denn ich mochte den Regen. Zum einen lag das an meinem Lackmantel, der immer so herrlich quietschte, wenn ich mich bewegte. Zum anderen kamen nach dem Regen immer die Schnecken aus ihren Verstecken herausgekrochen und die liebte ich nun mal.
Ich blieb standfest und wurde dafür (nicht nur am besagten Tag) von meiner Mutter für mein Verhalten sehr gelobt.
Nun also Schule
Die erste Schulwoche begann ernüchternd. Dennis Klein, der überhaupt nicht klein war und zusätzlich ein ziemlicher Rüpel, Dennis Klein aus der 4. Klasse tat etwas, was mich stinkepinkesauer machte. Er nahm meine Brotdose, klaute mir das Brot daraus, biss in meine Wurststulle und als er merkte, dass da noch kleingeschnittene Salatgurkenscheibchen drauf waren, spuckte er den Bissen aus, grinste blöd und warf meine wunderschöne Brotdose mit dem darauf abgebildeten rollschuhfahrenden Mädchen auf den Boden um mit einem großen >Kracks< draufzutreten.
Ich biss mir auf die Lippen und befahl mir, jetzt auf keinen Fall loszuheulen. Die Tränen, die dann dennoch kamen, entstanden aus reiner Wut. Ich hätte ihm am liebsten eine reinsemmeln wollen. Doch weil meine letzte Rauferei mit einem Jungen aus unserer Straße eine lange Diskussion mit meiner Mutter nach sich gezogen hatte, hielt ich meine zu Fäusten geballten Hände lieber in meinen Jackentaschen. Damals hatte Martin Müller mir sein Holzgewehr über den Rücken gezogen, was mir angesichts meiner angeborenen Wirbelsäulenkrümmung so weh tat, dass ich mich nur noch rumdrehte und ihn blind vermöbelte. Ich glaube, dass meine Mutter es schon gut fand, dass ich mich wehren konnte. Aber Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen ging dann doch zu weit.
Noch am gleichen Tag als Rüpel Dennis wahrscheinlich zum ersten mal in seinem Leben Gurkenscheiben aß, stand meine Mutter bei der seinen auf der Matte und wollte Erklärungen. Die Rüpelmutter fand das alles nicht so tragisch, erklärte sich dann aber Augen rollend dazu bereit, die Sache mit ihrem Sohn zu besprechen. Am nächsten Tag kam sie bei uns vorbei und brachte mir eine neue Brotdose. Dose? Das war keine Dose, dass war eine Box für Fernfahrer! Sie war braun, hatte Luftlöcher und war so groß, dass da sicherlich zwei große Schnitzel und ’ne Flasche Bier reingepasst hätten. JUMBOBOX stand darauf geschrieben. Adieu Rollschuhgirl…
Wie nun auch in meinem Leben, schaute ich nach vorn und ließ mir von so etwas nicht die Laune verderben. Ich war in der Schule, hurra! Die anfängliche Neugier über die viereckigen Kakaotütchen mit Strohhalm wichen der Neugier, nun lesen zu lernen und nicht mehr von den Erwachsenen abhängig zu sein. Ich würde endlich prüfen können, ob es wirklich stimmt, dass auf der Rückseite des Fernsehers stand, dass dieser nur bei Regen funktioniert und wäre nicht mehr auf Hinweise mit Bildchen angewiesen. Pah, Babykram! Ich würde zu meinem Bruder auch mal sagen können, dass er seine Legosteine wegräumen müsse, weil ich an dem Tisch nun – wichtig popichtig – Hausaufgaben machen müsse.
Sicherlich würde ich auch noch dem Geheimnis der ABC-Schützen auf die Spur kommen. Denn das verstand ich noch nicht ganz. Zwar hatte ich eine orangefarbene Schildmütze mit grünem Kreuz drauf von der Schulbehörde geschenkt bekommen, aber als Kind eines Mannes, der Mitglied im dörflichen Schützenverein war, wunderte ich mich, warum ich nun eine Schützin sein sollte. Wäre Bildung mein Gewehr? Ja, nur so konnte es sein. Bildung zu bekommen würde mich schützen bei meinen noch kleinen Schritten in die große Welt.
Herzliche Grüße an alle Mädchen und Jungen, die nun eingeschult wurden, viel Kraft und Spaß und gute Laune an ihre Eltern, Lehrer*innen und überhaupt… fühlt euch alle nett gegrüßt.
Steph ❤
„Ich würde endlich prüfen können, ob es wirklich stimmt, dass auf der Rückseite des Fernsehers stand, dass dieser nur bei Regen funktioniert“ 😀
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Wunderschöne Erinnerungen und so süß geschrieben. Bei mir ist leider alles weg. Wahrscheinlich verdrängt. Liebe Grüße und einen schönen Sonntag für Dich 🙂
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