Das Laternenfiasko

Jeder macht das, was er am besten kann. Ist die Vielfalt dabei nicht einfach nur toll? Mein Sparkassenberater jongliert mit Zahlen so schnell, dass ich anschließend nicht mehr weiß, wie alt ich bin. Mein Physiotherapeut zeigt mir Muskeln an meinem Körper, die ich zuvor nicht kannte, meine Freundin Clara ist Redakteurin, liest Werke anderer Autor*innen und korrigiert inhaltliche oder formale Fehler. Von A wie Altenpflege bis Z wie Zoomitarbeiter*in ist jeder ein Experte auf seinem Gebiet. Und sicher ist auch ein jeder dieser Menschen mal genervt. Ich hoffe es so, denn dann wäre ich nicht alleine mit meinen Gedanken.

Erzieherin in einem Kindergarten zu sein, hat mir immer gut gefallen und dennoch gab es Zeiten, an denen ich nervlich an meine Grenzen kam. Ein kleines Beispiel bot das Ereignis des jährlichen Laternenfestes und genau hier fängt die Geschichte an…

Für Novitäten bin ich immer offen. Mal etwas ganz anders machen also sonst. Alte Muster durchbrechen, Neues entdecken, einen anderen Weg gehen also sonst. Als Paulas Mutter mich auf dem Kindergartenflur ansprach und eine Idee hatte, war ich wie immer offen, hellhörig und zugewandt. Man könne die Laternen ja mal ganz anders gestalten, sagte sie mir. „Das ist ein interessanter Gedanke. Erläutern Sie mir, was sie mit >anders machen< meinen?“ sagte und fragte ich. „Naja… bisher basteln sie ja mit allen Kindern immer eine Mottolaterne“. „Ja, jedes Jahr ein anderes Motto“, ergänzte ich lachend. „Ja und genau darüber wollte ich mit Ihnen reden.“ Um es abzukürzen. Ihr Wunsch war, dass ich fortan nicht mehr mit den 25 Kindern 25 Laternen nach einem Motto hin bastelte. Es sollte was Neues her, was Frisches, was ganz individuelles. Ich fragte mich zwar, was individueller sein könnte, als mit jedem Kind eine eigene Laterne zu gestalten, wurde aber nicht gehört.

„Wir wollen neue Laternen basteln und jede Familie sollte sich dabei selbst eine aussuchen können“, japste sie vor Aufregung und holte einen Katalog aus ihrer Handtasche. Ich verstand kein Wort. „Hier in dem Katalog gibt es Hunderte von Laternenbastelbögen und alle sind anders“, kreischte sie vor Begeisterung und ergänzte: „Das wollen wir auch!“ „Wer ist denn WIR?“ fragte ich, während ich durch ein paar Seiten des Kataloges blätterte und mich bereits fragte, wie ich das Geforderte mit Kindern von 3-6 Jahren umsetzen könne. „Na wir Eltern“, sagte sie. „Wir wollen die Laternen daheim mit unseren Kindern basteln“, ergänzte sie und stopfte den Katalog wieder in ihre koffergroße Handtasche. „Und Sie brauchen wir auch, denn sie sollen bitte die Bestellungen organisieren und koordinieren“, sprach’s und winkte mir beim Abschied zu, als sei ich eine Dreijährige.

Abends daheim war ich ein bisschen sauer. Was sollte der neue Laternenbau? Waren die Laternen, die wir bisher bastelten, nicht en Vogue genug für die Eltern? Was war aus dem Gedanken geworden, aus einer runden Käseschachtel, Butterbrotpapier, Wachsmalstiften, einem Bügeleisen und ein bisschen Draht eine schöne Laterne zu gestalten? Aber naja, Wenn ich nun nicht mit jedem einzelnen Kind eine Laterne basteln sollte, wäre es mir auch recht. Der Bayerische Bildungs- und Erziehungsplan hatte rund 500 Seiten und musste erfüllt werden. Ich hätte also viel mehr Zeit, um mit den Kindern andere schöne Dinge zu unternehmen.

Am Montag legte ich den Katalog mit dem Verweis >bitte nur anschauen, nicht mitnehmen< auf den Tisch vor meiner Gruppentür, eine Liste, in die man sich und seinen Bastelbogenwunsch eintragen konnte, hängte ich daneben an die Pinnwand. Zwei Wochen darauf waren alle Bestellungen da und wiederum eine Woche später stand die erste Mutter mit Augenringen groß wie Unterteller, zerzaustem Haar und einem zuckenden Augenlid vor mir. „Kriegen Sie das wieder hin?“ fragte sie mich und hielt mir zerknüllte Teile einer Laterne entgegen. „Hat ihr Hund mal wieder zu viel getobt?“ fragte ich lachend, während ich die Restteile ihrer kaputten Laterne begutachtend in meinen Händen drehte. „Das war ich!“ schluchzte sie und ließ sich auf das Sofa im Flur plumpsen. „Ich schaffe es nicht, die vielen Teile zusammenzubauen, dass ist komplizierter als ein IKEA-Regal mit Anleitung aufzubauen“, beschwerte sie sich. „Den anderen Eltern geht es auch so“, jaulte sie, nachdem ich ihr gesagt hatte, dass man da sicher etwas retten könne.

Nachmittags stand Paulas Mutter vor mir und bat mich inständig, einen Bastelabend für alle Eltern anzubieten, damit diese unter meiner Anleitung die bestellten Bastelbögen ihrer Laternen zusammenbauen könnten. Für mich würde das Überstunden bedeuten, aber da mein damaliger Träger eh der Meinung war, ich müsse für jede Fortbildung, die ich besuchen will, meine Überstunden hergeben, freute ich mich darüber. Denn Fortbildungen mochte ich sehr. (Der Träger nahm das Ganze übrigens zurück, als ich mich über diese zweifelhafte Methode bei der Mitarbeiter*innenvertretung informierte) 😉

Wer nun denkt, mit einem Elternbastelabend wäre die Sache gegessen , der irrt. Denn in Wahrheit fing der Stress jetzt erst an. Frau A. wollte gerne ihren Sohn mitbringen, deswegen sollte der Termin am Nachmittag stattfinden. Herr B. allerdings wollte am Abend und ohne Kind basteln und Frau C. sagte, sie fände beides toll. Mit ihren Zwillingen würde sie dann einmal am Nachmittag und einmal am Abend kommen wollen. Also hängte ich zwei Listen an die Pinnwand. Ein Terminvorschlag am Nachmittag und einen am Abend. Zwei verschiedene Tage. Hätte ich das mit den zwei Terminen mal schön gelassen. Irgendwann stand nämlich Jans Mutter davor. Eine äußerst nette Frau, aber leider auch eine von denen, die immer will, dass ihr Kind bei allem mitentscheiden darf. Weil ich gerade die gemalten Bilder der Kinder im Flur aufhing, wurde ich gezwungenermaßen Zeugin dieses Szenarios. Ich ahnte schon, was nun kam. Und es kam auch so.

„So, Jan!“, sagte sie und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Die Mutti muss da nun eine wichtige Entscheidung treffen.“

Ich hängte ein weiteres Bild auf und rollte mit den Augen. Welche wichtige Entscheidung musste sie denn treffen?

„Die Mutti hat jetzt hier zwei Termine, an denen sie sich für das Laternen basteln eintragen kann“. So. Gut. Und weiter? hätte ich gerne im Namen des Kindes gefragt, konnte mich aber gerade noch zusammenreißen.

Jan gähnte. Mit dem Kugelschreiber in der Hand drehte sie sich um und schaute in das Gesicht ihres gelangweilten Sohnes. „Die Mutti muss nun wissen, wann sie sich eintragen soll. Für den Montag oder den Dienstag?“

In mir gärte es. Wenn das die Mutti nicht weiß, wie dann ihr vierjähriger Sohn? Seit wann treffen denn Kinder Entscheidungen für die unschlüssigen Eltern? Fragte sie ihn abends auch, ob er sein Zimmer am Montag oder am Dienstag aufräumen möchte, wie sie sich die Haare schneiden lassen soll und welche Farbe das neue Familienauto haben soll?

Jan schaute immer noch gelangweilt und sortierte die Reißzwecken der Pinwand nach Farben. Ich glaube, er wäre gerne in den Gruppenraum gegangen, um mit seinen Freunden zu spielen. „Dienstag“ murmelte er schließlich und Mutti klickte kurz am Kugelschreiber, um ihn schreibfertig zu machen. Die Spitze des Kulis näherte sich langsam der Liste. „Mach halt endlich!“ flüsterte ich vor mich hin. Immer näher kam der Stift zur Liste. Ich war kurz davor einen Jubelschrei auszusenden. Als der Stift schon fast das Papier erreicht hatte, zog die Mutter ihn ruckartig zurück und drehte sich flugs zu Jan um. „Mir ist gerade eingefallen, dass der Dienstag gar nicht geht. Da hast du doch Hockey-Training.“ Ich stöhnte lauter auf als ich wollte, wurde aber glücklicherweise von der Mutter nicht gehört. Diese war gedanklich in einem Entscheidungstunnel gefangen. Das Spiel ging weiter:

„Oder magst du an diesem Tag vielleicht das Training mal ausfallen lassen?“ säuselte sie ihm zu, riss die Augen weit auf und wartete auf Antwort ihres Kindes. „Mmmmmhhhh, weiß nich’.“ Dann sagte sie den Satz, der mich echt fassungslos machte.

Sie sagte: „ Aber Jan, du MUSST dich jetzt einmal entscheiden!“ Arrrrggh!

Zwei Wochen später: Laternen-Bastel-Abend in meinem Gruppenraum. Gut gelaunt und sichtlich erleichtert, dass man ihnen nun helfen würde, betraten zehn Eltern das Zimmer, setzten sich auf die für sie viel zu kleinen Stühle und harrten der Dinge, die nun kommen würden. Scheren, Kleber und alles Zubehör stand vor ihnen wie eine Klassenarbeit, für die sie nicht gelernt hatten. „Wir kriegen das alles schon hin“, ermunterte ich die Erwachsenen auf den Kinderstühlen und strahlte voller Zuversicht. Das war ein Fehler. Genauso wie die Tatsache, die Laternenbastelei aus der Hand gegeben zu haben. Aber naja, Fehler macht man, um daraus Erfahrungen gewinnen zu können, was? 😉 Vor mir saßen verschiedene Berufsstände: Der Staatsanwalt, die Bänkerin, der Immbolienverwalter, der Koch, die Berufsschullehrerin, der Ingenieur, die Stewardess, der Unternehmer, der Gärtner und die Bundewehrsoldatin. Und alle starrten mich an, als hätte ich gerade eben „Hefte raus, Dikat!“ gerufen. Ich gebe zu, ein bisschen lustig war das schon. Allerdings sollte mir das Lachen noch vergehen….

Nach einer halben Stunde sah mein Gruppenraum aus, als sei eine wildgewordene Horde Elefanten durchgehumpelt. Bis auf den Ingeniuer stellten sie sich allesamt an, als hätten sie selbst stets die Vorschule geschwänzt. Ich hätte sie alle weit auseinander setzen sollen – jeden an einem einzelnen Tisch, denn sie brachten ihre Unterlagen durcheinander. Der Kopf der Schildkrötenlaterne des bastelnden Kochs klebte plötzlich auf der Einhornlaterne der Sparkassenfrau. Diese hatte das aber noch nicht bemerkt, weil sie gerade versuchte, sich im Waschraum Kleberflecken aus ihrem Kashmirpullover zu reiben. Im Bart des Staatsanwaltes funkelten Glitzersteine. Der Gärtner fragte, ob jemand Teile seiner Froschlaterne gesehen habe. Der Kuhschwanz der Immobilienverwalterlaterne klebte falsch herum, die Stewardess hatte mehr Federn ihrer Gänselaterne an den klebenend Fingern, als dort, wo sie sein sollten und der Unternehmer verletzte sich an der Kinderschere. Es war ein heilloses Durcheinander. Ich bestimmte den Ingenieur dazu, mir zu helfen. Meine Kollegin als Zweitkraft war erkrankt und nun musste er, der seine Laterne zügig fertig hatte, mir zur Seite stehen. Zwei Stunden später waren wir alle fertig. Die Bastelnden mit ihrer Laterne und ich mit meinen Nerven. Großzügig spendierte ich eine Runde lauwarmen Früchtetee, wir stießen gemeinsam an und ich sagte Folgendes: „ Ich habe diese Stunden mit Ihnen wirklich gerne zusammengesessen, habe gerne geholfen und dazu beigetragen, dass Ihre Kinder alle mit einer schönen Laterne nach Hause gehen. Aber wenn ich einen Wunsch äußern dürfte, dann wäre es der, dass sie mich in Zukunft meine Arbeit machen ließen, wie ich ihnen das ebenfalls zugestehe. Sie sehen ja, wo das sonst endet, oder?“ Sie stimmten mir alle einstimmig zu, lachten, klatschten mir für meine Worte Beifall und bedankten sich in den nächsten Tagen mit einem herrlich schönen Blumenstrauß bei mir. Auch das war eine schöne Erfahrung. Gewertschätzt werden für seine Arbeit und Hilfe. Superschön.

Heute haben Ralf und ich eine Laterne gemeinsam gebastelt. Ihr könnt sie auf dem Foto sehen. Es war eine tolle Teamarbeit und ich würde am liebsten gleich noch eine basteln, um dieses schöne Erlebnis noch einmal zu haben. Die Idee habe ich von Tonia/ Efraimstochter.de

Habt alle eine schöne Herbstzeit.

Herzliche Grüße

Steph ❤

10 Kommentare zu „Das Laternenfiasko

  1. Unglaublich diese Geschichte. Ein Lob und ein Dankeschön an dieser Stelle an alle Erzieher/innen und Lehrer/innen in dieser Zeit, wo Eltern alles besser wissen. Die Laterne ist wunderschön geworden. Liebe Grüße, Monika

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  2. Also bei mir verursacht das Wort „Bastelabend“ immer noch unangenehme kälteschauer 😀 ……ich bewundere dich aber wirklich! ich könnte deinen Beruf auf garkeinen fall machen…und das nicht wegen der Kinder ❤ sondern wegen der Eltern *brrrrr*!!
    Die Laterne finde ich übrigens auch super schön 🙂

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