Tante Stephs Einkaufsladen

Das Weihnachtsfest 2019 war in unserer Familie wunderbar harmonisch. Wir aßen Kartoffelsalat mit Würstchen, hörten schöne Musik, unterhielten uns, bestaunten den Baum mit seinen leuchtenden Kerzen und schauten Fotos von früher an. Auf einem der Bilder sah ich mich als Sechsjährige und von einer Sekunde auf die nächste war ich total versunken in dieses Foto, denn es zeigte mich mit meinem Lieblingsspielzeug, welches ich Weihnachten 1984 bekam. Einen eigenen Kaufmannsladen. Selbstgebaut, knallrot und mit allem bestückt, was frau so braucht als kleine Unternehmerin…

Ich hatte in den Jahren zuvor auch schöne Geschenke bekommen, aber manche bestanden den Alltagstest leider nicht. Das kleine Schlümpfehaus, das aussah wie ein Pilz zum Beispiel war echt toll, allerdings besaß ich damals nur einen einzigen Schlumpf. Damit dieser nicht so einsam war, stellte ich ihm einen Playmobilritter mit silbernen Umhang dazu. Der Ritter war, neben einem Playmobilpolizisten auch sehr einsam, denn ich besaß sonst kein Playmobil. Leider war der Ritter zu groß für’s Pilzehaus des kleinen Schlumpfes und ich verlor die Lust am Spiel.

Die Telefone, die mein Bruder und ich mal zu Weihnachten bekamen, waren hingegen für mich der totale Kracher. Feuerrot und mit einer langen Schnur verbunden standen sie genau zwei Tage lang in meines Bruders und meinem Zimmer. Eine lange Schnur verband die Fernsprecher und wenn ich bei mir im Zimmer die Wählscheibe drehte, klingelte es bei ihm drüben. Dummerweise konnte man damit nicht wirklich telefonieren, aber es tönte so herrlich und ich freute mich, dass ich jederzeit mal eben durchklingeln konnte. Wenn mein Bruder das Klingeln nicht erwiderte, klingelte ich eben nochmal. Die Nacht war jung, ich war es auch und es gab immer etwas, was ich ihm unbedingt noch erzählen musste. Anfangs kam er nach dreimaligem Klingeln noch zu mir herüber und fragte was denn los sei? „Die Katze ist in meinem Zimmer und das will ich nicht“, sagte ich. Oder: „Mama hat mir was zu trinken neben das Bett gestellt, aber da sind jetzt Fussel drin, weil mein Plüschhund auch Durst hatte.“ Oder: „ Kannst du auch nicht schlafen?“ Als ich in der Nacht des dritten Tages die Wählschreibe drehte, hörte ich das zweite Telefon statt im Zimmer meines Bruders in meinem eigenen Kleiderschrank bimmeln. Mein Bruder telefonierte eben nie so gerne 😉

Der Puppenwagen von Fisher-Price, den ich zu meinem vierten Weihnachten bekam, war zwar nett, aber unter ihm befand sich ein kleines eingebautes Glöckchen, und immer wenn ich meinen Plüschhund darin spazieren fuhr, bimmelte es in einer Tour so sehr, dass sogar ich selbst als „Nervi“ (diesen liebevollen Spitznamen gab mir meine Familie) völlig genervt war.

In dem Keyboard, welches ich zu meinem sechsten Weihnachten bekam, liefen irgendwann die Batterien aus, den Pumuckl-Regenschirm fand ich blöd, weil ich selbst rote Haare hatte und lieber Pippi Langstrumpf gewesen wäre als ein Kobold. Das kleine Bügelbrett mit den Blumen knickte immer zusammen, wenn ich mich drauf stellte, um wie eine Surferin auszusehen. Die kleine Schnecke mit dem „Keine Tränen – Shampoo“ erwies sich als dreiste Werbelüge und die tollen Filzstifte waren ganz schnell ausgetrocknet….

Der Einkaufsladen aber war jahrelang mein allerliebstes Spielzeug. Schon an Heiligabend 1984 war ich Feuer und Flamme für dieses Geschäft. Die Regale vorne waren alle in Schräglage angebracht, damit meine Kunden sehen konnten, was ich ihnen so anbot. Hinter mir gab es ein weiteres Regal, in dem ich viele andere Artikel fein säuberlich gestapelt hielt. Es gab den „Weißen Riesen“, Jacobs Kaffee, Klare Fleischbrühe, Butterkekse, Markensalz, Kaba Trinkkakao, Semmelbrösel und Alpa Franzbranntwein. All diese Waren waren in kleine Pappschächtelchen verpackt und warteten nur darauf, eingekauft zu werden. Wer dem nicht nachkam, wurde von mir daran erinnert. Und so kam es, dass an diesem Weihnachtsabend unsere Gäste immer wieder aus ihrer bequemen Haltung auf dem Sofa aufstehen und vor meinem Lädchen knien mussten, um einzukaufen.

Da ich damals den vergangenen Sommer bei meinen lieben Großeltern mütterlicherseits verbracht und mit meiner Omi dort oft auf dem Wochenmarkt zugegen war, brachte ich händlerisches Geschick mit. „Wissen se was, liebe Frau, weil Sie so schöne blaue Augen haben, kriegen se von mir kostenlos noch ’nen frischen Fisch mit dazu“, sprach ich und packte so meiner Mutter ihr kleines Einkaufskörbchen voll. Mein Bruder bekam, weil er so ein treuer Kunde war, noch eine Maggiflasche kostenlos „obendruff“ und die Oma noch ein paar gratis Lutscher für die lieben Enkel. Als meine Mutter am Abend meinte, ich müsse nun zu Bett, wehrte ich mich mit Händen und Füßen. „Ick hab ’nen Späti am lofen, den kann ich nich einfach so dichtmachen!“ berlinerte ich, während ich an meinem Frotteeschlafanzugärmel Richtung Badezimmer gezogen wurde. Der Dialekt kam von zu viel Fernsehen, denn ich liebte „Praxis Bülowbogen“ mit Günter Pfitzmann und „Drei Damen vom Grill“ mit Harald Juhnke.

Das Geschäft blühte ein paar Tage lang, dann kam eine Durststrecke. Keiner wollte bei mir kaufen. Ob es wohl am Umzug lag? Weil der Vermieter in Form meiner Mutter das Wohnzimmer nicht mehr für meine Verkaufsfläche zur Verfügung stellen wollte, musste mein „Späti“ umziehen und befand sich nun in meinem Kinderzimmer. Die Kunden blieben aus, obwohl ich den gesamten Flur und alle Türen der Wohnung mit Werbung pflasterte. Für die Reklametafeln, auf denen „Neueröffnung“ stand und „Einkaufen wo es Spaß macht“ plus diverser Pfeile, damit man den neuen Standort auch fand, hatte ich sogar meine hauptberufliche Arbeit namens Malbücher ausmalen und mit Lego spielen aufgegeben.

An einem für mich als Selbstständige furchtbaren, weil kundenlosen Tag, schlich sich die Langweile ein und ich nahm eines der Pappschachteln aus den Regalen, um mich von der Ware zu überzeugen. Da steckte doch was drin? Es waren kleine Kügelchen, die aussahen wie aus Styropor. Frei nach dem Motto: „Ich muss probieren was ich den Kunden anbiete“ steckte ich mir die Kügelchen in den Mund und fand sie so lecker, dass es nicht bei der einen blieb. Nachdem ich den Inhalt mehrerer Pappschachteln in meinen Mund hatte rieseln lassen, kam das schlechte Gewissen, denn: Als seriöse Kauffrau konnte ich den Kunden doch keine leeren Schachteln verkaufen? Schnell rannte ich in die Küche und griff zum Glas in dem meine Mutter Maiskkörner aufbewahrte, nahm einen Trichter und füllte in jede Pappschachtel ein paar dieser Körner, die eigentlich für die Herstellung von Popcorn gedacht war.

Überhaupt hatte ich mein Geschäft komplett aufgerüstet und verbessert (Siehe auch Blogeintrag „Tüten tackern“). Ich trug einen Verkaufshut, den eine meiner Freundinnen aus einem amerikanischen Schnellimbiss bekommen und mir für Geld aus meiner Kaufmannsladenkasse überlassen hatte, bastelte ein Schild auf dem geschrieben stand >Diebstahl lohnt sich nicht! Kinder haften für ihre Eltern!< und funktionierte einen alten Milchkarton so um, dass er wie eine Überwachungskamera über meinem Laden hing. In die dreieckigen Papiertüten, die ich kostenlos vom Edekamarkt unseres Dorfes bekommen hatte, stopfte ich für meine Kunden echtes Obst, welches ich zuvor aus dem Wohnzimmer stibitzt hatte. Welche Kunden, mag man sich fragen, denn der Laden hatte ja eine Flaute? Ich lud Freunde aus der Nachbarschaft ein und war so froh darüber, dass mein Laden wieder florierte, dass ich jedem Kunden ein Trinkgeld aus meiner Kasse mit den vier Tasten spendierte. Als dieses alle war, nahm ich das Geld aus dem Monopolyspiel. Dieses Spiel spielten wir so selten, dass es kaum aufallen würde. 😉

Doch alles hat leider mal ein Ende…

Meine Mutter wollte Popcorn herstellen und fand das Glas mit den fehlenden Maiskörnern. Mein Bruder wollte mit Freunden Monopoly spielen und fand das fehlende Geld dafür in meiner Spielzeugkasse. Meine Oma schrieb mir in einem Brief, dass sie bei einem ihrer Aufenthalte bei uns das Schild in meinem Laden so toll fand und entschuldigte sich dafür, es mitgenommen zu haben. Sie fand es halt zu lustig. Ausgerechnet ein >Diebstahl lohnt sich nicht<-Schild zu „klauen“, fand ich nicht gerade toll, aber nun ja. Der Einkaufsladen musste für einen Schreibtisch weichen und ich war lange Zeit sehr traurig, mein Geschäft nicht weiter fortführen zu können.

24 Jahre später war ich Gruppenleiterin einer Kindergartengruppe. Das Konzept sah es vor, dass die Kinder an jedem Mittwoch ihr eigenes Spielzeug von zu Hause mitbringen durften. Es bimmelte, rasselte und quäkte aus jeder Ecke des Raumes. Roboter, die blinkten, Teddys, die brummten und Pferde, die nachts leuchteten, hielten Einzug in unserem Gruppenraum. Ich bat meine Kollegin mit den Kindern vor dem Mittagessen nach draußen zu gehen, damit ich den Gruppenraum für das Essen vorbereiten und anderen Verwaltungskram erledigen konnte, da entdeckte ich das mitgebrachte Spielzeug von Anna. Es war die fortgeschrittene Edition des Kaufmansladens: ein Kassenband, auf das man seine Waren legen konnte plus Kasse, rotem Schalter und Mikrofon. Meine Leidenschaft war sofort wieder entfacht. Ich schaute nach links und nach rechts und als ich mir gewiss war, dass mich niemand sehen konnte, stellte ich das Einkaufsband mit Kasse auf den Tisch, setzte mich auf einen der Kinderstühle und scannte die Ware. Aufgeregt drückte ich den roten Knopf, hielt meinen Mund ganz nah vor das Mikro und sagte: „Frau Meier, kommst du mal, ich hab‘ hier ’n Storno!“

Erschrocken drehte ich mich rum, als Anna (Blogeintrag „Kühlakkuanna“) plötzlich in der Tür stand und fragte, was ich denn da mache? „Die Frage ist wohl eher, was du hier machst, anstatt mit den anderen Kindern draußen an der frischen Luft zu sein?“ stellte ich lachend die Gegenfrage. „Ich wollte dir gerne beim Tisch decken helfen“, sagte sie und wärmte mein Herz mit dieser Aussage. „Entschuldige, dass ich dein Spielzeug ungefragt benutzt habe. Das war nicht gut von mir. Als Kind hatte ich sehr viel Spaß mit meinem Kaufmannsladen. Spielen wir eine Runde?“ fragte ich. „Danach können wir zusammen den Tisch decken und die anderen Kinder reinholen.“ Ihr breites Lächeln sah ich als unausgesprochenes Einverständnis für diesen Plan.

Eine Viertelstunde später deckten Anna und ich gemeinsam den Mittagstisch mit Tellern, Messern, Gabeln und Servietten ein. „Kannst du mir später, wenn die Kleinen Mittagsschlaf halten, von deinem Einkaufsladen von früher erzählen?“ fragte sie. „Auf jeden Fall mache ich das. Absolut gerne“. ❤

Herzliche Grüße an alle meine Leser*innen. Vielleicht habt ihr auch in der Kindheit ein Geschenk bekommen, welches euch auf lange Zeit begeistert hat? Ich wünsche euch eine schöne Zeit „zwischen den Jahren“ und danke euch für eure Treue.

Viele liebe Grüße

Steph ❤

5 Kommentare zu „Tante Stephs Einkaufsladen

  1. Oh ja, so einen Kaufmannsladen hatten meine kleinere Schwester und ich auch, damals. Und auch wir hatten eine große Freude daran, kannste glauben! 😀
    Die größte Überraschung aber war, als mit der Post damals ein etwa schuhkartongroßes Päcken, adressiert an meine Schwester und mich, ankam. Es war voll mit kleinen Döschen, Fläschchen und auch Süßigkeiten; alles Probepackungen von Maggi, passend zu unserem kleinen Laden!
    Wie die Firma Maggi dazu kam, weiß ich nicht mehr, aber für uns Kinder war es eine Sensation! 🙄
    Herzlichen Dank für das Wecken meiner Erinnerung an diese schöne Zeit.
    Ich wünsche Dir noch einen schönen Sonntag! 🙂

    Liebe Grüße,
    Werner

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  2. Es gab nichts schöneres, als einen Einkaufsladen, leider hatte ich nur einen, wo man davor sitzen musste und eigentlich nur die Puppen einkaufen konnten. Aber auch ich habe alle leeren Gläser, Packungen und Schubladen aufgefüllt. Später als meine Jungs alt genug waren gab es einen richtigen Kaufladen, aber dann doch eher für mich, meine Jungs teilten meine Leidenschaft nicht. 😃

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  3. Tolle Geschichte, ich hatte einen Kaufmannsladen, den mein Opa aus Holz vom Sperrmüll selbst gebaut hatte. Der Lack war zwar nach Jahren immer noch klebrig, aber der Laden war super. Heute haben wir in der Schule in unserem Betreuungsraum auch einen ( gekauften) Laden, und der ist sogar bei den coolen Viertklässlern noch heiß begehrt.

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