Im ersten Teil konntet ihr ja lesen, wie ich den Schnee in meiner Kindheit erlebte. Wie ich stets verzückt und verzaubert von der weißen Masse war. Und heute? Ist meine Schneesehnsucht noch immer nicht vorbei. Seit Tagen nerve ich den Ralf, weil ich endlich Schnee will. Und dann bekam ich einen Brief… dazu aber später.

Damals, als ich als Erzieherin in einem Kindergarten arbeitete, da kam ich durchaus auch mal an meine Grenzen, wenn ich mit 25 Kindern nach draußen in den Winterwundergarten gehen wollte. Die Zweitkraft, die mich eigentlich in meiner Arbeit unterstützen sollte, war meistens schwer beschäftigt damit, sich die Haare zu kämmen, weswegen ich sie in Gedanken Loreley nannte. Allen Kindern in ihre Schneeanzüge, Regenhosen oder sonstiges zu verhelfen, war eine sehr Rücken-unfreundliche Angelegenheit. Ständig rutschte ich auf meinen Knien hin und her. Hier einem Kind in die Schuhe helfen, dort einem in die Hose. Ich bräuchte dringend Knieschoner.
Bevor wir uns alle für den Gang nach draußen anzogen, schickte ich alle Kinder noch einmal zur Toilette. Dann atmete ich tief durch und wartete in der Garderobe auf das Eintreffen der ersten Kinder nach ihrem Toilettengang. Sobald sie dann da waren, schmiss ich mich auf die Knie, um die Operation „Kinderzwiebel“ einzuleiten. „Die Großen helfen bitte den Kleinen!“ rief ich durch den Flur.
Zuerst widmete ich mich Paula. Die hatte einen Jeansrock an. Ich überlegte noch, wie ich einem Kind eine Regenhose anziehen soll, wenn dieses einen Rock trägt, als Paula mir genaueste Anweisungen gab: „Die Mama hat gesagt, du sollst mir den Rock ausziehen und dann sollst du mir eine Jeanshose anziehen und dann sollst du mir die Regenhose…“
„Schon klar, ich hab´s verstanden!“ unterbrach ich sie. „Und wo soll ich jetzt bitteschön eine Jeanshose für dich herkriegen?“ fragte ich und bekam auch prompt eine kompetente Antwort: „Die Mama hat sie hier in die Tüte getan!“ Und warum hat Mama ihrem Kind nicht gleich eine Jeanshose angezogen statt eines Minirocks im Winter? Nun denn. Paula war schnell angezogen. Ich robbte weiter zum nächsten Kind: Emma. Emma hatte eine ganz spezielle Ausrüstung für „draußen“. Erst musste man ihr ein paar dicke Socken anziehen, dann die Regenhose, die immer rutschte. Dann die Stiefel, die Erzieherinnenunfreundlich waren, weil sie neben einem Reißverschluss zusätzlich auch noch zum Schnüren waren. Dann die Jacke, die ebenso „reißverschlüsselt“ werden musste, bevor sie mit Druckknöpfen plus Klettverschluss in Hüft- und Halsgegend zugemacht werden konnte. Dann noch der Schal um den Hals gebunden und die Mütze aufgesetzt. Fertig. Das Kind sah aus, als würde es den Mount Everest besteigen. Wie ein gut verpacktes Geschenkpaket stand sie vor mir. Nächstes Kind… Ob es wohl unter Erzieher*innen internationale Wettbewerbe dazu gäbe? Wer kann 25 Kinder im Winter schneller anziehen? Das Preisgeld würde ich stiften, um Kindern im Alter von drei Jahren Schuhe zu kaufen, die sie eigenständig an- und zuziehen könnten.
Während ich Tina in ihre Fingerhandschuh verhalf (ein schwieriges Unterfangen, denn der Daumen steckte im „Fach“, welches für den Zeigefinger angedacht war), ließ mich der Satz vom bereits fertig angezogenen Janis (5) hellhörig werden. „Und wenn ich dann mal Pippi machen muss, dann stell ich mich halt einfach an einen Baum!“ sagte er ganz unverblümt. Mein Herz pochte mir spürbar bis zum Hals, denn mir schwante Böses. Im Zeitlupentempo drehte ich mich um und sah ihm dann fest in die Augen.
„Musst du etwa noch mal auf die Toilette?“ fragte ich ihn. „Ach nein“ antwortete er und schüttelte seinen bemützten Kopf. „….und wenn ich dann wirklich mal muss, dann stell ich mich halt an einen Baum“, wiederholte er und tat mit seiner behandschuhten Hand eine beschwichtigende Geste. „Du stellst dich nicht an einen Baum, schließlich bist du kein Hund. Wenn du jetzt Pipi machen musst, dann gehst du hier auf dem Kindergartenklo und zwar JETZT“, sagte ich zu ihm und zog energisch den Reißverschluss seines Anoraks wieder auf. Inständig hoffte ich, dass nun nicht wieder das Solidaritäts-Pinkeln los ging. Es gab nämlich ein ungeschriebenes Gesetz welches besagte, dass, wenn ein Kind muss, auch alle anderen müssen.
Die größeren Kinder standen schon an der Glastür, die zum Garten führte und scharrten mit den Hufen. Sie wollten endlich nach draußen. Weil ich durch die Glastür sehen konnte, dass eine Erzieherin aus der anderen Gruppe mit ihren Kindern bereits draußen war, fragte ich sie, ob die Großen schon mal zu ihr nach draußen kommen dürfen. Juchuuh, sie durften. Wild schreiend liefen sie in den verschneiten Garten. Wo war eigentlich Loreley? Ich konnte sie nicht suchen, denn Sven weinte. Weil er keine Handschuhe dabei hatte, dachte er, er dürfe nicht mit nach draußen. „Aber natürlich darfst du mit nach draußen. Ich hole dir Handschuhe aus der Kleiderkammer“, sagte ich und ergänzte meinen Satz mit einem fragenden „Hakuna Matata?“ „Hakuna Matata!“ sagte er und strahlte endlich wieder. Diesen Satz, der aus dem suahelischen kommt und übersetzt so viel heißt wie „Es gibt keine Probleme“, hatte ich den Kindern aus meiner Gruppe schon früh beigebracht. In der Kleiderkammer stehend und nach Handschuhen suchend, klopfte mir ein Kind auf den Po. Es war Mila. „Meine Omeletts sind weg“, sagte sie und schaute mich wartend an. „Deine was?“ „Meine Omeletts.“ Ich kannte dieses wunderbare Kind schon so lange, wusste allerdings nun überhaupt nicht, was sie meinte. „Deine Ohringe sind weg?“ versuchte ich ihren Satz zu verstehen. „Nein, die Omeletts“, stellte sie nüchtern klar. Mein Hirn ratterte auf Hochtouren. Was meinte dieses Kind denn nur? „Ich suche jetzt Handschuhe für Sven raus und danach helfe ich dir“, versprach ich Mila und schickte sie wieder in die Garderobe. „Das sind ja Mädchenhandschuhe, die will ich nicht anziehen!“ maulte Sven, als ich ihm meinen Fund präsentierte. „Warum sind das Mädchenhandschuhe?“ fragte ich sicherheitshalber mal nach. Vielleicht konnte ich ja noch etwas dazu lernen? „Weil die gelb sind“, war seine knappe Antwort. „Also ich hab noch kein Mädchen mit gelben Handschuhen gesehen“, entgegnete ich. „Meine Mama zieht immer so gelbe Handschuhe an, wenn sie zu Hause putzt“, erklärte mir der kleine Mann. „Ach und deswegen magst du keine gelben Handschuhe anziehen?“
„Mmmmh!“ „Dann weißt du also noch gar nicht, dass Superhelden stets gelbe Handschuhe tragen?“ fragte ich ihn. „Aber meine Mama…“ wollte er antworten, als ich ihn unterbrach. „Tja, deine Mama ist eine Superheldin, dass hast du wohl noch nicht gewusst?“ „So, jetzt zieh bitte die Handschuhe an und geh nach draußen in den wunderbaren Schnee, ich muss noch Mila bei ihrem Rührei helfen.“
Bei Milas Omelett handelte es sich um die gefütterten Socken ihrer Gummistiefel. Als Inlett hatten es ihre Eltern stets betitelt und Mila machte daraus eben ein Omelett. Herrlich, oder? Fakt war, das Omelett war weg! Dicke Socken aus der Kleiderkammer halfen auch hier. Später würde sich herausstellen, dass ihr großer Bruder die Inletts genommen hatte, um sie dem selbstgebauten Schneemann im Kindergarten-Garten als Handschuhe anzuziehen.
Ich war kurz vor’m Ziel. Nur noch ein Kind winterfest für den Gang nach draußen machen, dann könnte ich allen anderen in den Schnee folgen. Dann kam Emma rein und weinte, weil ihre Regenhose wieder rutschte.
Ich begab mich also wieder auf die Knie, zuppelte an ihrer Kleidung herum und versuchte alles, um es ihr in ihrer Kleidung so bequem wie möglich zu machen: Pulli in die Hose und die Träger der Regen-Latzhose über Kreuz. Weil sie die Träger aber nicht über Kreuz tragen wollte, weinte sie noch mehr als vorher. >Lieber Gott, lass es Frühling werden< bat ich in Gedanken. 25 Minuten Anzieh-Zirkus lag hinter mir. Die Zweitkraft Loreley fand ich schließlich in der Küche. Sie blätterte in Prospekten und sagte, es sei ihr heute zu kalt zum Rausgehen. Ich schluckte meinen Ärger hinunter, vertagte ein ernstes Gespräch mit ihr auf später und tat es „meinen“ Kindern gleich: Mit einem großen >Juchhhuuu < rannte ich nach draußen und freute mich auf alles, was der Schnee hergab. Was für eine schöne Erinnerung an meine Zeit im Kiga.
Zurück ins Heute:
Der Ralf kennt meine Schneeliebe. Der Ralf bekam mit, wie sehr ich ein paar Flocken herbeisehnte. Der Ralf hörte, wie ich sauer wurde, weil es noch nicht flockte. Und dann bekam ich vor ein paar Tagen einen Brief…
Im Januar bekommt man oft nur Rechnungen. Umso größer war meine Überraschung, als ich einen Brief aus dem Postkasten holte, der so gar nicht nach einer Rechnung aussah. Lauter Schneekristalle waren auf dem Briefumschlag aufgeklebt. Ich drehte den Brief um, damit ich den Absender sehen konnte. P. Trus stand darauf. Häää? Ich kannte keinen Herrn Trus. Was wollte er von mir? Neugierig öffnete ich den Brief und las folgende Zeilen:
Liebe Steph,
ich weiß, wie sehr du den Schnee magst. Und ich habe auch gehört, wie du neulich sagtest, dass du ganz schön ungemütlich werden könntest, wenn es nicht bald mal schneit. Lass dir gesagt sein, dass manche Dinge Geduld erfordern. Ja, ich weiß, dass ist nicht deine Stärke. Vielleicht ist das deine Prüfung? Bleib so wunderbar verrückt, verzückt und lass dir dein so schönes Gemüt nicht nehmen. Segensreiche Grüße.
P. Trus
Tja, was soll man dazu sagen? Und wisst ihr was? Als ich gestern Abend diesen Blogeintrag fertig schrieb und mich im Wohnzimmer zufrieden in meine Decke kuschelte, da rief der Ralf plötzlich: „Es schneit!“ Ich habe ihm kein Wort geglaubt. Nicht mal aufgestanden bin ich, weil ich dachte, er veräppelt mich. „Das wäre doch ein urkomischer Zufall, wenn es nun schneien würde“, dachte ich. Weil ich mich immer noch weigerte, aufzustehen. Hat Ralf ein Video vom Schnee gedreht und es mir gezeigt. Danach war bei uns aber einiges los, sage ich euch. Ich hab‘ gejubelt, hab getanzt und konnte mein Glück nicht fassen. Nun bin ich seitdem in Daueraufregung, sodass ich heute Nacht erschöpft einschlafen werde. Schlaft auch ihr gut.
Herzlichst
Steph ❤
Ein wahre Heldin bist Du in meinen Augen. Was für eine Geduld. Was für ein großes Herz. Man müsste allen Erziehern/innen mindestens das Doppelte zahlen. Und einen Orden hättet ihr auch alle verdient. Aber ich denke, dass da nicht mal Dankbarkeit und Anerkennung von den Eltern kam. Jedenfalls nicht sehr oft. Vielen Dank für diesen schönen Beitrag, der mir einen Einblick in das Herz einer Erzieherin und ihre Aufgaben gibt. Alles Liebe, Monika
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Liebe Monika, ich danke dir von ganzem Herzen für dieses wunderbare und wertschätzende Lob meiner und der Arbeit vieler Erzieher+innen gegenüber. Deine Zeilen haben mich so sehr erfreut und heute durch einen trüben regnerischen Tag gebracht. Viele liebe Grüße an dich, du wunderbare Frau. ❤
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