Fototermin

Wenn im Kindergarten einmal im Jahr der Fotograf kam, um uns abzulichten, dann sagte unsere Erzieherin zu uns, wir sollen uns alle auf die Bänke des Turnraums setzen. Es fiel uns schwer, so dazusitzen, denn schließlich war es unser Bewegungsraum, den wir vom Toben, Rennen und Turnen her kannten. Saßen wir endlich alle, dann kam unsere Erzieherin mit einem grobzackigen Kamm und ging uns damit durch die Haare. Ich weiß noch, dass ich das stets ganz fürchterlich fand, denn sie kämmte mir meinen Pony nach links in eine Position, wie ich meine Haare sonst nie trug. Justin Bieber war damals noch nicht geboren aber ich hatte dank meiner Erzieherin schon seine Frisur.

Dann kam der Fotograf. Jeder von uns musste sich einzeln auf einen Holzwürfel setzen. Es wurde ein großer weißer Schirm aufgespannt und ich weiß noch, wie ich dachte: „Wozu der Schirm, die Sonne scheint doch nur draußen?“ Hinter mir und allen anderen zu Fotografierenden war eine blaue Wand aufgebaut, die als Hintergrund dienen sollte. Sie sah irgendwie pixelig aus.

Ich mochte diese Fototermine nie. Als Kind nicht und als Erzieherin, die ich irgendwann selbst wurde, schon gar nicht. Woran das liegt, möchte ich hier schreiben…..

Der Fotograf, den ich mit vier Jahren kennenlernte, war genervt, als er unseren Kindergarten betrat. „Gerade sitzen!“ „Kopf höher!“ und „Finger aus dem Gesicht!“ rief er. An jedem Kind hatte er etwas auszusetzen. Ich glaube, er hatte total vergessen, dass das für viele von uns Kindern der erste Fototermin dieser Art und wir keine trainierten Dressurpferde waren. Als ich endlich dran war, ging ich mit vorsichtigen Schritten zu dem Holzwürfel, auf dem ich Platz nehmen sollte. „Schneller, ich hab noch andere Termine!“ blaffte er und so setzte ich mich schnell hin. „Dieser Rundrücken, das Kind sitzt ja ganz krumm!“ rief er und tupfte sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn. Ich fühlte mich an seinem Schweißausbruch schuldig. Wäre ich nun schuld, wenn er einen Herzinfarkt bekommt und stirbt, weil ich nicht richtig sitzen konnte? Mein Opa väterlicherseits ist sehr früh gestorben. Kam aus dem VW-Werk, in dem er arbeitete, heim, legte sich ins Bett und war drei Tage später tot. Der neue VW Jetta stand noch vollgetankt vor der Tür. Als Kind hat mich das sehr beschäftigt und so saß ich mit zusammengebissenen Zähnen auf dem Würfel und wollte um Gottes Willen alles richtig machen, damit der Mann nicht sterben muss. War allerdings auch falsch. „So wird das nichts, du lachst ja gar nicht, lach doch mal!“ Schüchtern begann ich zu lächeln und damit er weiterhin am Leben blieb, versuchte ich mich schließlich an einem Lachen. „Nicht so viel, sonst sieht man deine Pausbacken so sehr!“ rief er. Hmmmm. Ich wußte damals noch nicht, was Pausbacken sind, aber ich hatte scheinbar welche und die wollte er nicht sehen. Es machte ein paarmal *Klick* und blitzte und ich war endlich entlassen und durfte wieder gehen. Abends im Bett fragte ich meine Mutter, was Pausbacken sind und ob das was Schlimmes sei. Und während sie mir meine Fragen liebevoll erklärte und sagte, dass der liebe Gott mich genauso haben wollte, wie ich bin, sie mich unendlich liebt und mein Bruder und ich ihre allerschönsten Geschenke seien, da fragte ich sie, ob sie morgen im Kindergarten nachfragen könne, ob der Fotograf noch lebt. Weil ich erst mit vier Jahren in den Kindergarten kam und zwei Jahre später eingeschult wurde, gab es nur zwei Termine mit dem gereizten Fotografen.

Das ganze Thema holte mich erst wieder ein, als ich selbst Erzieherin wurde und nach Jahren in der Jugendlichenarbeit meine Tätigkeit in einem Kindergarten begann. „Nächsten Monat kommt der Fotograf“, teilte unsere Chefin mir und den Kolleginnen in einer Teamsitzung mit. Alle schienen sich zu freuen, nur ich saß da mit zusammengebissenen Zähnen und presste mir ein Lächeln hervor. Doch nun wäre ich in einer anderen Rolle. Ich würde diesen Menschen mit Argusaugen beobachten und die mir anvertrauten Kindern mit allen Mitteln verteidigen. So wie mit mir damals würde er mit den Kindern nicht umgehen! Es sollte sich später herausstellen, dass nicht der Fotograf das Problem war. 😉

Der Tag des Fototermins war gekommen und nichts war wie sonst. Denn ich erkannte „meine“ Kinder nicht wieder. „Jo mei, is denn scho Fasching?“ wollte ich den Eltern fragend zurufen, aber anhand ihrer angespannten Gesichter konnte ich mir vorstellen, dass die diesen als Witz gemeinten Satz überhaupt nicht witzig finden würden. Die kleine Marla (vier Jahre) kam in einem Prinzessinenkleid mit Kunstfellstola und sah darin ein bisschen aus wie Anastasia die Zarentochter. Franziska (5) hatte ein Cocktailkleid an und Leopold, von allen nur Leo genannt, trug ein kariertes Hemd mit Fliege zur braunen Cordhose. „Meine Güte, was ist denn hier los?“ fragte ich meine Kollegin, die in der Küche den Frühstückstee für die Kinder zubereitete. „Was meinst du?“ fragte sie. „Naja, Franzi trägt ein Cocktailkleid, welches ich nicht mal zu meiner Konfirmationsfeier hätte tragen dürfen und Leo sieht aus wie mein alter Physiklehrer“, stellte ich fest. „Das ist alles für den Fototermin“, sagte sie und fand das scheinbar völlig normal. „Naja, das ist schon ein wenig übertrieben, findest du nicht?“ Ihre Antwort konnte ich nicht hören, denn plötzlich stand Natalias Mutter vor mir und gab mir klare Anweisungen für den Fototermin. Ich sollte vorab noch mal den Zopf ihres Kindes kontrollieren und gegebenenfalls diesen neu flechten, sagte sie und gab mir einen ausgedruckten Zettel in die Hände. „Auf dem Zettel ist alles beschrieben“, sagte sie und rauschte von dannen. „Naja, einen Zopf werde ich ja wohl noch flechten können“, sagte ich zu mir selbst und ging in meinen Gruppenraum, wo meine Assistentin die Stühle für den Morgenkreis zusammenstellte. Dann sah ich Natalia (6) und schluckte. Ich schaute erneut auf das ausgedruckte Papier ihrer Mutter und las „Fischgrätenzopf ganz leicht selber flechten“. Na super. Und wie stellte sich die Frau Mama das nun vor? Sollte ich jetzt zu der Sozialpädagogischen Assistentin sagen, sie muss den Morgenkreis alleine leiten, weil ich erst einmal lernen muss, wie man einen Fischgrätenzopf flechtet? Das Schlimme war, dass ich aus meiner Wut gar nicht heraus kam, denn als nächstes erschien Julia im Raum. Das Kind, welches sonst glatte Haare besaß, konnte mit ihren Locken nun dem Nürnberger Christkindl Konkurrenz machen. „Guten Morgen, Julia“, sagte ich, als sie mir in die Arme lief. Kein Wort über ihr Aussehen ging über meine Lippen. Während meiner Ausbildung hatte ich gelernt, dass man Mädchen oft sagt, wie schön sie aussehen und damit das Bild verfestigen, Mädchen hätten einfach nur gut auszusehen. Einem Jungen würde man das ja auch nicht sagen, oder? Ich sagte also nichts. Das übernahmen die anderen (weiblichen) Kinder. „Oooh, siehst du schön aus!“ und „So tolle Locken will ich auch haben!“ riefen sie begeistert, während Julia sich drehte wie eine Spieluhrballerina. „Ich hab heute nacht mit Lockenwicklern im Haar geschlafen“, erzählte sie sichtlich stolz. „Hat das nicht wehgetan?“ fragte Sonja (5) staunend. „Ja schon, aber meine Mama hat gesagt, wer schön sein will muss leiden“, antwortete Julia. Übelkeit stieg in mir hoch. Es gab nur wenige Kinder, die so aussahen wie sonst auch und deren Eltern nicht so einen Zinnober veranstalteten wegen eines Fototermins im Kindergarten.

Um 10 Uhr war es endlich soweit. Der Fotograf betrat das Gebäude und nett wie ich bin, habe ich ihm erst einmal ein Getränk angeboten, bevor ich ihm den Turnraum zeigte. „Nein, nein, ich werde die Fotos draußen im Garten knipsen“, sagte er und bedankte sich für den Kaffee, dem ich ihm reichte. „Es wird eine Fotomappe geben. Darin enthalten werden sein: eine Portraitaufnahme des Kindes in Größe XL, einem Gruppenfoto und 12 kleinen Klebebildchen, ebenfalls mit den Portraitbildern des jeweiligen Kindes“, sagte er. Zusammen kostet die Mappe 30 Euro, aber die Eltern haben die Möglichkeit, nur einzelne Bilder auszuwählen“, sagte er. „Joah, machen sie mal!“ antwortete ich lax, ohne auch nur zu ahnen, was da noch auf mich zukommen würde….

Mit dem Satz: „Der Leo hat in die Hose gemacht!“ empfing mich meine Assistentin. „Groß oder klein?“ „Klein.“ „Hast du ihn umgezogen?“ „Nein.“ „Mein Gott, warum denn nicht, es ist doch auch für ihn nicht schön, in einer vollen Hose rumzulaufen!“ sagte ich empört und schaute in der Garderobe nach, ob seine Eltern ihm „Ersatzklamotten“ an den Haken gehängt hatten. Nein, hatten sie nicht. Also war mein nächster Gang der zur Kleiderkammer unseres Kindergartens. Dort hatten wir für „Pipi und Kaka in der Hose-Fälle“ einen Vorrat an (Unter-)Hosen, Strümpfen, Strumpfhosen und Kleidern. Das Blöde war, dass der Schrank nie aufgeräumt oder nach Größen sortiert war, weswegen man immer wieder Zeitverschenkend darin rumwühlen musste, bis man was Passendes fand. Ein anderes Problem war, dass die Kleiderspenden der Eltern manchmal unmöglich waren. Löchrige Socken oder Jeans mit Flecken sollten dort meiner Meinung nach einfach nicht liegen. Mehrer Male in der Teamsitzung angesprochen, nie hat sich was daran geändert. „Wo bleibst du denn, die Kinder sind so unruhig“, rief meine Kollegin. „Ich suche nach einer geeigneten Hose in Leos Größe und finde hier nur Leggins in Pink oder mit bunten Punkten“, stöhnte ich. Doch dann kam uns der „Dschungelfunk“, die sogenannten Buschtrommeln, zur Hilfe. Denn die Mutter von Amalia hatte beim Bringen ihres Kindes gesehen, dass Leo in die Hose gemacht hatte und sofort mit ihren langen Fingernägeln eine Nachricht in ihr Handy getippt. Ich habe die Nachricht nie gelesen, aber vermutlich sah sie so aus: Dein Leo hat sich in die Hose gemacht und soll nun aus der Kleiderkammer Zeux bekommen, was vermutlich ganz arg schlimm aussehen wird. Willst du, dass er SO auf einem Gruppenbild für die Ewigkeit abgebildet wird? Stell dir mal vor, er bewirbt sich nach erfolgreichem Studium für die Präsidentschaftswahl in den USA und dann taucht ein Bild auf, welches ihn in Clownshosen zeigt?“ Egal was sie schrieb, es zeigte Wirkung. Leos Mutter kam mit ihrem Porsche Boxter angebraust und erwischte mich, wie ich gerade in der Kleiderkammer nach einer Hose für ihn suchte, noch rechtzeitig vor dem so wichtigen Fototermin. Sie hielt mir einen Kleiderbügel vor die Nase, an dem ein frisches Hemd, eine frische Cordhose und eine frische Fliege baumelten. „Ooookay…. und die Unterhose?“ fragte ich mutig. Nein, die hatte sie vergessen, weswegen ich dann noch einmal in der Kleiderkiste umherwühlte.

Der Fotograf war einfach super. Verständnisvoll ging er auf jedes Kind ein und wenn dann doch mal ein Kind beim Portaitsitzen in der Natur aussah, als würde es gleich weinen, dann sagte er mir, ich solle mich neben ihn stellen und ein paar Faxen machen, um das Kind zum Lächeln zu bringen. Faxen machen. Das konnte ich! Und so kamen viele schöne Bilder dabei heraus. Am Ende des Tages war ich sichtlich erledigt. Doch damit war es ja noch nicht getan….

„Also ich nehme nur das Gruppenbild und die Aufkleber, der Rest kann zurück“, sagte mir Zoes Mama und drückte mir die Bildermappe wieder in die Hand. Ich zückte meinen Kugelschreiber und machte mir Notizen, denn sie musste nur für die Bilder zahlen, die sie haben wollte. Die nächsten drei Wochen ging das so weiter. „Das Gruppenbild will ich nicht, denn da hat mein Kind ja die Augen zu“, maulte Jannis‘ Mutter und Marlas Mama beschwerte sich, dass die Kunstfellstola ihrer Tochter auf dem Foto verrutscht sei. Strafend blickte sie mich an und ich wünschte mir, ich würde meinem Gesichtausdruck mal beibringen, Gefühle bei sich zu behalten. „Ich finde mein Kind auf den Bildern nicht gut getroffen“, schoss Lulus Mutter den Vogel ab. „Können wir das bitte besprechen, ohne das Lulu neben uns steht?“ bat ich die Mutter. Ich konnte das alles nicht verstehen. Meine Mutter hatte, sowohl im Kindergarten als auch in der Schule, stets jede Fotomappe vollständig gekauft und das, wo wir so wenig Geld besaßen. Nie wäre ihr eingefallen, dass ich nicht gut aussähe. Nach drei langen Wochen, in denen ich mir vorkam, als sei ich die Sekretärin des Fotografes, nach drei Wochen zwischen zerpflückten Fotomappen, seitenweisen Notizen und Stress, war der Spuk endlich vorbei. „Bis zum nächsten Jahr“, sagte der Fotograf mir am Telefon. „Ja, bis zum nächsten Jahr“, antwortete ich matt. Und da, dass wusste ich jetzt schon, da würde es ganz anders laufen, liebe Freunde 😉

Habt alle eine schöne Zeit ohne Stress und Ärger.

Herzlichst Steph ❤

3 Kommentare zu „Fototermin

  1. Ach, wie herrlich.
    Bin auch Erzieherin gewesen. Mit den Kindern hatte man eher weniger Probleme, als mit den Eltern. War zwar nicht im KTH, sondern wie man es damals nannte, im Vollheim, und später in einer Behinderten WG. Und auch da waren eher die Eltern problematisch und nicht die Klienten. Musste echt viel schmunzeln bei dieser Geschichte.

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  2. Liebe Stephi!
    Du sprichst mir aus der Seele. Bis vor kurzem war ich noch eine Kindergartenmama eines 6 jährigen Sohnes, der letzte Woche eingeschult wurde. Ich erinnere mich tatsächlich an Eltern, die von den Erzieherinnen im Kindergarten, genau diese Sachen erwartet haben. Den Zopf oder Frisur noch mal richten und schauen, dass auch sonst alles ordentlich sitzt. Und dann die Klamotten!!! Ich habe unserem Sohn immer das angezogen, was er sonst auch angezogen hätte. Und die Fotos sind immer schön geworden und selbstverständlich, haben wir immer das gesamte Set gekauft!

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