Alutüte

Montagmorgen. Nebel über der Stadt. Beschlagene Fenster und erdiger Geruch zeugen davon, dass der Herbst im Lande angekommen ist. Ich sitze mit Strickjacke, dickem Pullover und Thermostrumpfose vor dem PC und studiere die Morgenlage in der Welt. Montags gibt es bei uns keine Zeitung und ich bin froh, denn um nichts in der Welt würde ich nun runtergehen und sie aus dem Briefkasten nesteln wollen. Mir ist einfach zu kalt und ich weiß, dass es – Ende September – noch zu früh ist, um Ralf anzubetteln, damit er die Heizung anstellt. Ob ich mich im Badezimmer ein bisschen warm föhnen sollte? Lieber nicht, das kostet unnötig Energie. Ich nehme die vorletzte Tablette des Blutdrucksenkers aus meinem Blister und mache mir eine Notiz im Kopf. Auf jeden Fall muss ich heute noch in der Praxis meiner Hausärztin anrufen, um ein neues Rezept ausgestellt zu bekommen! Auf dem Balkon sehe ich Vögel, die sich aus einer der halb verwelkten Sonnenblume Körner rauspicken. Mein Magen knurrt und ich denke an leckere Haferflocken mit Apfelstückchen, weswegen ich mich in die Küche begebe um mir eben dieses Frühstück zu zubereiten.

Dinge, die ich nie vergesse: Das im Kühlschrank noch ein Schokopudding steht. Wann die Uhren vor und wann sie zurück gestellt werden. Termine bei meinem Therapeuten. Meinen Hochzeitstag. Geburtstage von allen Menschen die ich mal kennengelernt habe.

Was ich vergesse: Bei meiner Ärztin anzurufen, um nach einem neuen Rezept für mein Medikament zu fragen.

Dienstagmorgen: Irgendwas war doch heute? Ach ja, an dem Tag vor zehn Jahren ist mein Mathelehrer in Rente gegangen. Ich habe es bei Facebook erfahren. Ich war damals so happy darüber, dass er die Schulzeit mit mir ohne größeren Probleme überstanden hat. Wer mir als absolute Matheniete mal Differenzialrechnungen lehren wollte, ohne zur Therapie zu müssen, hat meinen absoluten Respekt. Hmmm, war sonst noch was? Ralf wegen der Heizung zu fragen fällt immer noch flach. Vielleicht versuche ich es mal Mitte Oktober. Da werden ja auch die Uhren wieder zurückgestellt. Das merke ich mir immer daran, dass die Strandkörbe an der Ostsee nun wieder zurück in ihr Winterlager gestellt werden. Im März werden sie wieder raus, also nach vorne gestellt. Am Samstag ist Feiertag, der 3. Oktober. 30 Jahre ist die Wiedervereinigung schon her. Wahnsinn. Irgendwas war doch noch? Irgendwas hatte ich vergessen. Aber was? Nach einer heißen Dusche im kalten Bad wird es mir einfallen.

Ich stehe schon mit einem Fuß in der Dusche, da fällt es mir wie Schuppen aus den Haaren. Meine Ärztin! Mein Rezept! So ein Mist! Der Blick auf die Uhr zeigt mir, dass die Praxis telefonisch nur noch fünfzehn Minuten erreichbar ist. Fluchend versuche ich in Windeseile ungeduscht wieder in meine Klamotten zu kommen. Meine geringelte Strumpfhose ist komplett verdreht, ihre bunten Streifen schmiegen sich nicht mehr ringförmig um meine Beine. Ich sehe ab der Hüfte aus wie eine verbogene Schraube. Nur noch zehn Minuten, bis ich meine Ärztin erreichen kann. Ich ziehe mir schnell meinen flauschigen Bademantel über und ärgere mich, warum mir das nicht vorher eingefallen ist. Auf dem eiligen Weg zum Telefon trete ich im Flur auf eine Kastanie, die von der Kommode gerollt ist. Kastanien sollen bei Rheuma helfen. Hier verursachen sie gerade nur Schmerzen. Schnell die Nummer der Praxis gewählt, versuche ich meine Stimme wieder zu finden, die mir beim Treten auf die Kastanie abhanden gekommen ist. Räusper, räusper. Da ertönt schon das Freizeichen. Gott sei Dank ein Freizeichen und keine besetzte Leitung. Tut…tut… tut…. Wie eine Marathonläuferin bin ich am Start. Sobald sich jemand am anderen Ende des Telefonhörers meldet, werde ich losbrettern mit meiner Anfrage. „Guten Tag“ meldet sich eine Stimme und ich rase los. „Hier ist…und ich benötige ein…“. Weiter komme ich nicht, denn ich rede mit dem Anrufbeantworter. Dieser informiert mich darüber, dass die Praxis für drei Tage wegen Wartungsarbeiten am IT-System geschlossen ist. Ich bin so baff, so außer Atem, dass ich vergesse, mir die Nummer der Praxis aufzuschreiben, die als Vertretung meiner Hausärztin arbeitet. Langsam wird es echt eng mit der Zeit. Bieten nicht alle Arztpraxen nur bis 11 Uhr eine telefonische Annahme für Termine oder sonstiges?

Der Zeiger der Uhr steht bereits auf 10:58 Uhr. Inzwischen ist mir gar nicht mehr kalt, im Gegenteil, ich schwitze, während ich zittere, weil ich nicht weiß, ob ich da noch jemanden ans Ohr bekomme. Schnell nochmal den Anrufbeantworter meiner Hausärztin abhören, um mir die Vertretungsnummer zu notieren. Inzwischen ist mir so warm, dass ich mich aus meinem flauschigen Bademantel pelle. Da sehe ich zufällig, wie der Nachbar aus der Dachgeschosswohnung gegenüber an seinem Fernglas dreht, um es schärfer zu stellen. Also schnell wieder mit den Armen in den Bademantel hinein und mit der freien Hand die Nummer des Vertretungsarztes eintippen. „Bitte bitte, geh ran!“ flehe ich mein unsichtbares und mir unbekanntes Gegenüber an, als ich ein Freizeichen höre. „Guten Tag, hier ist die Praxis von Dr. Hasenohr, was kann ich für Sie tun?“ Bei dem Satz „Was kann ich für sie tun?“ bricht so viel Erleichterung von mir ab, dass ich plötzlich nur noch stottern kann. Wie die Streifen auf meiner geringelten Strumpfhose bin ich plötzlich so aus der Form, dass ich nur das Nötigste von mir gebe. „Ähm, ich bin so kalt und brauche Stephanies, weil die mir ausgehen und meine Ärztin ist nicht da.“ Was für ein Gestammel! Doch ich werde verstanden. Allerdings verstehe ich nichts, da die unsichtbare Frau am Telefon flüstert. Ich frage dreimal nach und dreimal sagt sie mir das gleiche: „Dann müssen sie vorbeikommen.“ Tja, klar, was sonst? „Wir machen jetzt die Praxis zu und sind von 14:00 bis 15:30 Uhr wieder da.“

Die Busfahrer:innen streiken, mein Fahrradreifen ist platt und Ralf will mich nicht so gern mit dem Auto fahren lassen, weil ich mich im Stadtverkehr oft sehr echauffiere, um es nett auszudrücken. Kühe, Schweine, Ochsen, wenn ich fahre, begegne ich immer allerhand Tieren auf der Straße. Also fährt er mich schnell und wartet im Auto, während ich zu dem Vertretungsarzt gehe. Das Haus ist ein altes Gebäude von 1900. Die Türklinke ist weit oben in Höhe meiner Augen. Ein bisschen komme ich mir vor wie Alice, die das Wunderland betritt. Ob ich gleich auf die lustige Grinsekatze treffe? Ein Tee beim verrückten Hutmacher wäre auch nicht schlecht. Ich setze meinen Mund-Nasen-Schutz auf und betrete einen dunklen Flur. Weil draußen die Sonne so hell schien, habe ich für eine kurze Zeit Probleme, mich zu orientieren. Es rumpelt irgendwo mehrfach laut, dann huscht etwas Weißes an mir vorbei. Das weiße Kaninchen? Soll ich ihm folgen? Lieber nicht, draußen wartet der Ralf und ich wollte ja auch was ganz anderes hier. Was war das noch? Ach ja, die Tabletten, das Rezept. Vorsichtigen Schrittes gehe ich weiter, bis ich Licht am Ende des Flures sehe. Da ist die Anmeldung. Ich mache mich kurz bemerkbar, da huscht schon wieder etwas Weißes an mir vorbei. Jetzt kann ich erkennen, wer das ist. Die Apothekerin von gegenüber. Ihr weißer Kittel flattert umher, als sie einen Kanister abstellt und wieder von dannen geht. Mit einer einladenden Handbewegung zeigt die Sprechstundenhelferin mir auf, dass ich an die Theke kommen kann. In einem geordneten Satz bringe ich mein Anliegen hervor und darf mich setzen. „Wo denn?“ frage ich, weil ich nicht weiß, wo das Wartezimmer ist. „Gleich hier vorne“, sagt die nette Frau an der Theke und zeigt mit dem Finger auf einen Stuhl hinter mir. Statt im Wartezimmer sitze ich hier vorne bei der Anmeldung, direkt vor der Theke. Wie früher im Schulunterricht, wenn ich mal wieder zu viel mit meiner Klassenkameradin gequatscht habe. Da musste ich nach einigen Ermahnungen irgendwann auch direkt vor’m Lehrerpult sitzen.

„Was liegt denn da, da liegt doch was?“ wundere ich mich. Es sieht aus wie ein quadratisches Sitzkissen aus Alufolie. Wo man sowas wohl herbekommt? Im Coronaleugnerladen CLL? Gibt es den überhaupt? Das mit meinen Selbstgesprächen im Kopf muss unbedingt aufhören, denke ich und frage mich, ob es dagegen auch was von Ratiopharm gibt. Mein Therapeut findet allerdings, dass ich in Ordnung bin. Nur an den Feineinstellungen hapert es noch wein wenig. Als ich mich vorsichtig hinsetze, knistert das Alusitzkissen leicht. Sehr bequem ist es jetzt nicht unbedingt, aber ich will ja auch nicht lange dort sitzen. Ein weiterer Patient erscheint an der Theke. Wir grüßen uns mit Blicken, obwohl wir uns nicht kennen. Er hatte einen Arbeitsunfall, erfahre ich unfreiwillig. „Ich habe zum Kalender geschaut und da hat es dann ‚Knack‘ gemacht. Seit dem kann ich meinen Kopf nicht mehr bewegen“, berichtet er. Als die Arzthelferin ihn fragt, ob er schon einmal in der Praxis war, schüttelt er vehement den Kopf. So ist das also, wenn man seinen Kopf nicht mehr bewegen kann. Vermulich hat er statt auf den Kalender zur Uhr geschaut und bemerkt, dass es noch zu lang hin ist bis zum Feierabend, denke ich und schäme mich, weil ich so etwas Böses nicht denken möchte. Der Kopfmann muss seine Telefonnummer angeben und kann sie auswendig aufsagen. Wenn ich nicht so vergesslich wäre, was Telefonnummern angeht, könnte ich ihm heute Abend eine Whatsappnachricht schreiben und fragen, wie es seinem Kopf geht. Ach ne, soll ich ja auch nicht. Helfersyndrom. Die Stimme meines Therapeuten ist bei mir wie damals der Fahrlehrer bei meiner ersten Fahrstunde.

Der Mann, der seinen Kopf nicht mehr bewegen kann, darf sich zu mir setzen, sagt die Arzthelferin. Der Arzt kommt durch eine Tür hereingerauscht und ruft drei Namen auf. Die drei Namen erscheinen wie herbeigezaubert und folgen ihm. Keiner von ihnen trägt eine Maske. Vielleicht haben sie keine hübschen Modelle? Ich wünsche mir Ablenkung in Form einer Zeitschrift herbei und frage mich, warum es so lange dauert, mir ein Rezept auszustellen? Der Zeiger der Uhr springt auf 14:20 Uhr und ich war pünktlich um 14 Uhr da. Die Topfpflanze braucht Wasser, das Bild hängt schief und an dem Aktenordnerschrank fehlt eine Schraube. Hach, wie abwechslungsreich wäre es nun, in einer Zeitschrift wie der Bunten oder Gala zu blättern. Gerne auch ein Auto- oder Computermagazin. Der Zeiger der Uhr klettert auf fünf vor halb drei, da tut sich endlich was.

Eine ältere Frau kommt von der Toilette und verabschiedet sich von der Arzthelferin. „Haben sie auch an ihre Tüte gedacht?“ fragt diese. „Ach, sie sind ein Herzchen, vielen Dank, die hätte ich nun vergessen“, sagt die ältere Dame. Dann dreht sie sich im Kreis und fragt anschließend, wo denn ihre Tasche sei, sie könne sie nicht finden? „Unglaublich, wird hier in der Praxis eine Rentnerin bestohlen?“ empöre ich mich im Geist und kann es nicht fassen. Sogar der Mann, der seinen Kopf nicht mehr bewegen kann, schüttelt diesen. „Das gibt’s ja wohl nicht“, murmelt er.

„Sie hat orangefarbene Tragebänder und ist aus Alu, weil es ja eine Thermotasche ist“, erklärt die Dame uns allen und schaut sich ratlos im Anmeldezimmer um. Da fällt es mir an diesem Tag erneut wie Schuppen von den Augen. „Ich sitze drauf!“ rufe ich und springe wie von der Tarantel gestochen aus meinem Stuhl auf. Tatsächlich ist das vermeintliche Stuhlkissen eine Aluthermotasche und nun, wo ich mit meinem heißen Hintern drauf saß, wahrscheinlich nicht mehr zu gebrauchen. Schon wieder schäme ich mich und überlege, ob ich der Seniorin ein bisschen Geld zustecken soll, damit sie sich eine neue Thermotasche aus dem Supermarkt kaufen kann. Doch sie sieht kein Problem und freut sich einfach nur, ihre Tasche wiederzuhaben. Hatte ich mich gerade noch nach Ablenkung gesehnt, so war sie nun da. Dann endlich kam der erlösende Satz der Sprechstundenhelferin. „Ihr Rezept ist fertig.“ „Vielen Dank!“ sage ich, als ich zur Theke schreite um es in Empfang zu nehmen. „Und hier ist ihre Krankenkassenkarte und ein Schreiben zur Datenschutzverordnung“, sagt sie und hält mir ein Zettel vor das Gesicht. „Danke, danke!“ wiederhole ich mich, stecke beides in meine Rocktasche und stolpere durch den dunklen Flur wieder nach draußen.

„Da bist du ja, dass ging ja schneller als ich dachte“, sagt Ralf, als er mich erblickt, wie ich aus der Praxis komme. „Schnell? Aus welcher Zeitzone kommst du denn?“ frage ich ihn und gehe im Schnellschritt auf unser parkendes Auto zu. „Ich war da gerade in einer Parallelwelt, mit einem weißen Kanninchen, einem Kopfschüttelmann mit Kopfschüttelproblemen, wenig Datenschutz und saß auf einer Alutüte!“ „Aluhüte?“ fragt Ralf erstaunt. „Nein, Alutüte“, sage ich. „Und jetzt starte den Motor, ich will nach Hause, und auf der Fahrt erzähle ich dir alles.“ Unverzüglich dreht Ralf den Schlüssel um, worauf das Auto anspringt und während er uns durch eine freie Zone von Kühen, Schweinen und Ochsen bugsiert, wackelt unser Auto ganz oft. Nicht wegen des Kopfsteinpflasters über das wir fahren, sondern weil er – aufgrund meines Erfahrungsberichtes – so oft lachen muss. „Ein Gutes hat es ja“, sagt er, als wir das Haus, in dem wir wohnen, betreten. „ Für die nächsten 98 Tage brauchst du kein neues Rezept mehr.“ Ich habe mir sofort im Kalender eingetragen, wann ich das nächste Mal zu meiner Ärztin muss und werde mir nun auch sorgfältig notieren, wann sie Urlaub hat. Das vergesse ich sicherlich nicht noch einmal.

Habt alle eine gute Zeit. Bleibt gesund und wenn ihr es nicht seid, dann wünsche ich euch eine gute Besserung. Fühlt euch gegrüßt und bleibt negativ (Coronavirus).

Herzlichst, Steph ❤

3 Kommentare zu „Alutüte

  1. Liebe Steph, vielen Dank das du mich zum Arzt mitgenommen hast. Ich habe gerade Nachtdienst und musste laut lachen. Mein Kollege schaute mich merkwürdig an. Naja er denkt bestimmt das macht das Alter. LG Ursula PS Ich wünsche euch noch einen schönen Sonntag.

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    1. 😂 Dein Kollege kennt meinen Blog noch nicht, sonst würde er eventuell mitlachen. Hab vielen Dank für deinen schönen Kommentar liebe Ursula. Ich wünsche dir einen Nachtdienst wie er für dich angenehm ist und einen erholsamen Feierabend. Liebe Grüße Steph.

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  2. Hallo liebe Steph, danke für diesen wunderbaren Bericht. Ich habe viel gelacht und mich selbst in manchen Zeilen wiedererkannt. Nur das mit der Erinnerung läuft bei mir ganz anders :-). Ich vergesse stets alle Geburtstage, selbst meinen eigenen, wenn man mich nicht daran erinnert :-). Viele liebe Grüße, Monika

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