
Es war wieder soweit, das Erntedankfest im Kindergarten stand in ein paar Tagen an. Im Flur schoben meine Kollegin und ich das Kinderplanschbecken ein bißchen zur Seite, um mehr Platz für den Gabentisch zu haben. Er sollte in der Mitte des Flures im Eingangsbereich stehen und ankommende Eltern und Kinder dazu animieren, Essensspenden darauf zu legen. Auf einem Zettel hatte ich geschrieben, was es mit der Aktion auf sich hatte. Liebe Kinder, liebe Eltern, auch in diesem Jahr wollen wir wieder Mensch in unserer Gemeinde beschenken, die wenig Geld haben, krank sind oder älter. Wir freuen uns daher, wenn ihr eine Essensspende auf den Gabentisch legt. Diese werden wie jedes Jahr nach dem Ernetdankgottesdienst von der Pfarrerin in der Gemeinde verteilt werden.
Arild (5) und ihre Freundin Bea (5) waren traurig darüber, dass das Kinderplanschbecken nun in der Ecke und nicht mehr in der Mitte des Flures stand. Ca. zwei Wochen lang hatten alle Kinder des Kindergartens ihre gesammelten Kastanien in das Planschbecken geschmissen, damit wir es in ein Bällebad, also Kastanienbad umwandeln konnten. „Ihr könnt doch immer noch darin spielen“, sagte ich und strich die Tischdecke des Gabentisches glatt. Ehrlich gesagt war ich froh um den neuen Standort des Planschbeckens, denn wenn die beiden Mädchen darin tobten, dann rollte die oder andere Kastanie oftmals quer durch den Flur und bleib unter der Garderobe, dem Brottaschenwagen oder im Windfang liegen.
9:30 Uhr, Morgenkreis. Wir begrüßten uns alle miteinander mit einem Guten-Morgen-Lied, anschließend fragte ich in die Runde, wie es den Kindern ging und ob sie etwas erzählen mochten. „Mir geht es heute nicht so gut“, begann Arild und drehte sich eine Haarsträhne um den Finger, so als wäre ihr Finger ein kleiner Lockenstab. „Mir auch nicht“, pflichtete ihr Bea bei. „Nanu, was ist denn los?“ fragte ich. „Wir sind traurig, weil du das Bällebad woanders hingestellt hast“, erklärte mir Arild. „Ja, das sind wir!“ sagte ihre Freundin Bea. Die Sorgen der beiden nutzte ich, um mit allen Kindern noch eimal zu besprechen, warum wir auf dem Flurtisch Essen sammelten und was es mit dem Erntedankfest auf sich hatte. „Was feiern wir denn eigentlich beim Erntedank?“ fragte ich in die Runde und bekam sogleich von der dreijährigen Mia eine Antwort. „Wir danken für die guten Gabeln“, sagte sie freudig. „Oh man, für die guten Gaben, nicht für die Gabeln!“ berichtigte ihr großer Bruder Flori (6). Dabei hatte Mia gar nicht mal so unrecht. Ich musste schmunzeln, weil ich plötzlich an unseren Besteckkasten in der Kindergartenküche dachte…. Darin lagen nämlich schon seit einiger Zeit Löffel und Gabeln, die nicht zu unserem Sortiment passten. „Lufthansa“ stand da drauf gedruckt. Ich hatte die Managerväter mit ihren Vielfliegermeilen in Verdacht, beschwerte mich aber nicht, da bei uns immer mal wieder Löffel und Gabeln fehlten. Um den Kindern verständlicher zu machen, wie dankbar wir sein können, las ich ihnen zunächst aus dem Buch „Vom Korn zu Brot“ vor. Sie sollten lernen, dass Brot nicht im Supermarkt wächst und was die Bauern für eine Arbeit mit der Saat, dem Wachstum und der Ernte zu tun hatten. „Und was ist mit den Fischstäbchen?“ unterbrach mich Lilly (5). „Davon erzähle ich euch morgen“, sagte ich. Notiz für morgen: Recherchieren, wie aus Fisch Fischstäbchen werden und die harte Arbeit der Fischer erklären.
Der Gabentisch im Flur war indes schon gut gefüllt. Suppen in Dosen, Gemüse, Obst, Kekse, Haferflockenpackungen, Kaffeepulver, eingekochte Marmelade und Milchtüten lagen auf dem Tisch mit der ungebügelten Decke. „Die Armen, Alten und Kranken aus unserer Gemeinde werden sich darüber freuen“, sagte die Kollegin aus der Nachbargruppe zu einem ihrer zu betreuenden Kinder. Ich legte selbst noch eine Packung Hallorenkugeln für Diabetiker dazu. Just in dem Moment kam die Mutter von Timothy zur Tür herein. Da ihr Sohn einmal in der Woche zum Osteopathen gingen, kamen sie an diesem einen Tag der Woche erst später. In ihren Händen balancierte sie ein Tablett mit Kuchen, welches sie mir mit den Worten „Ist für’s Erntedankfest“ überreichte. Ich war kurzzeitig irritiert, da mich im gleichen Moment Elsa (4) vom Klo heraus rief. „Ich hab’nen Stinker gemacht, kommst du mich abputzen, Stephiiii?“
„Ähm, das ist ja sehr nett mit dem Kuchen, aber das Erntedankfest ist doch erst Sonntag und heute ist Dienstag“, stotterte ich. „Ach so?“ fragte Timothys Mutter und klimperte mit den Wimpern. „Naja, dann können sie ja den Kuchen noch heute zu den Alten bringen“, sagte sie und rauschte wieder ab. „Stephi, mein Stinker!“ „Ja, ich komm doch schon.“ Auf dem Klo fragte mich Elsa, ob sie nun auch geerntet hätte, denn das Kaka sei ja vorher ihr Essen gewesen und sähe nun ganz anders aus. Wo ist der Telefonjoker, wenn man ihn mal braucht? „Auf jeden Fall hast du das toll gemacht“, blieb ich ihr die Antwort schuldig.
Die Zeit vor dem Mittagessen verbrachten wir im Garten. Die Kinder rutschten, wollten beim Schaukeln angeschubst werden, tobten im Blätterhaufen und bauten im Sand. Landwirt Gruber kam vorbei, um uns einen seiner Leiterwagen aus Holz auzuleihen. „Das ist großartig, Herr Gruber“, sagte ich. „Dann können wir alle Lebensmittel vom Gabentisch in den Wagen legen und diesen dann am Sonntag in der Kirche hinstellen, bevor die Lebensmittel in der Gemeinde verteilt werden.“ „Bassd scho!“ antwortete er im fränkischen Dialekt und lupfte kurz seinen Hut zum Gruß. „Ich gehe kurz rein und stelle den Wagen in den Flur“ sagte ich zu meinen Kolleginnen, damit diese auf meine Kinder mit aufpassen würden. „Bassd scho!“ hörte ich sie antworten. Als ich dann vor dem Tisch stand, staunte ich. Wo waren die Hallorenkugeln für Diabetiker denn hin? Und das Kakaopulver und die Kekse? Dort wo diese Sachen vorher waren, lagen nun Kastanien. Arild und Bea waren das mit Sicherheit nicht gewesen. Die beiden liebten ihr Kastanienbad so inständig, dass sie keine der braunen Früchte freiwillig abgegeben hätten. Ob eine der Mütter? Sooo abwegig war der Gedanke gar nicht. Frau König, die Etepetetemutter von Kara würde gegen einen neuen Satz Reifen für ihren Sportwagen so einiges eintauschen. Sie war eine der Neurreichen im Stadtteil. „Von den Reichen lernst du das sparen!“ hatte mir mal eine Kollegin zugeraunt. Allerdings war weder Bring- noch Abholzeit. Wer war der/die Täterin gewesen? Ich setzte meine unsichtbare Detektivmütze auf und behielt das Ganze im Auge.
Nach dem Mittagessen gingen die kleineren Kinder mit meiner Kollegin Maria in den Schlafsaal, um sich auszuruhen. Ich blieb mit den anderen Kindern im Gruppenraum, wo sich jeder eine Aufgabe suchte. „Liebe Sammy, holst du bitte mal deine Brottasche? Die Fotos, die deine Eltern von deinem Geburtstag nachbestellt haben, sind fertig“, rief ich Sammy (4), die mit ihren Freundinnen in der Puppenecke spielte, zu. Sie stand auf, ging zum Brottaschenwagen im Flur, kam wieder und legte mir ihre Tasche auf den Schoß. „Meine Güte, ist die schwer, hast du etwa deine Vesper heute morgen nicht gegessen?“ fragte ich, aber sie war schon wieder in ihrem Spiel eingetaucht. Ein peinliches Gefühl beschlich mich. Hatte sie tatsächlich heute morgen nichts gegessen? Wie konnte mir das nicht aufgefallen sein? Doch dann fiel mir ein, wie ich ihr aus ihrem Apfel einen Zauberapfel geschnitten hatte und geholfen hatte, ihren Joghurt aufzubekommen. Warum nur war denn dann die Tasche so schwer wie ein Schulranzen? Ich zog den Reißverschluß auf und…..was sah ich da? Hallorenkugeln für Diabetiker, Kekse und Kakaopulver vom Gabentisch. Da musste ein Gespräch her. „Sammy, setz dich bitte mal zu mir.“ „Geht nicht, ich muss gerade mit meinem Baby schimpfen“, sagte sie. „Oh, das ist blöd. Was hat dein Baby denn angestellt?“ fragte ich. „Das weiß es noch nicht so genau“, antwortete sie mir. „Dann finde ich es nicht so gut, dass du mit dem Baby schimpfst. Vielleicht redest du erst einmal mit ihm?“ Sie zuckte mit den Schultern und kam zu mir gelaufen. Ich zeigte ihr den Inhalt ihrer Tasche und fragte sie, wie das passiert sei. Wieder Schulterzucken. „Das Essen auf dem Gabentisch ist doch für die Menschen, die wenig Geld haben, und die Älteren und Kranken“, begann ich. „Geben und nehmen“, sagte sie. „Ich hab denen doch dafür Kastanien hingelegt“. Ich musste schmunzeln und verschob das Thema auf den späteren Stuhlkreis.
„Was bedeutet das Wort Nächstenliebe?“ fragte ich in die Runde. Alle Kinder unserer Gruppe, Maria und ich saßen im Stuhlkreis. Flori meldete sich. „Das ist wie wenn ich auf’m Klo war und da ist kein Klopapier mehr und dann gehe ich nicht einfach weg, weil ich fertig bin. Da gehe ich in die Nachbarkabine und hole da eine Rolle und häng sie in den Behälter damit der, der nach mir mal auf’s Klo muss dann auch Papier hat!“ „Ich weiß auch, was Nächstenliebe ist!“ rief Lola (5). „Das ist, wenn wir den Alten und Kranken aus der Gemeinde Essen bringen.“ Super, das war genau der Punkt, auf den ich hinaus wollte. Schwitz. „Und ist es dann wichtig, dass sie uns auch was geben?“ fragte ich in die Runde. Es war schon wieder Lola, die zu einer Antwort ausholte. „Nee, weil der liebe Gott will, dass wir auch einfach so geben. Aber die alten Leutchens lächeln, wenn man ihnen was schenkt und sagen ‚Danke‘ und das reicht auch“, sagte sie. Notiz in meinem Kopf: Diese Unterhaltung schriftlich festhalten. Nach einem sehr schönen Gespräch über Nächstenliebe, Dankbarkeit und Erntedank spielten wir noch eine Runde Obstsalat. Dabei ist jedes Kind ein Obst. Alina ist der Apfel, Britta die Kirsche, Timothy die Birne usw. Wenn man Äpfel & Birnen ruft, müssen die Äpfel und die Birnen ihre Plätze tauschen. Rufe ich Obstsalat, müssen alle Obstsorten tauschen. „Heute spielen wir mal die Herbstversion und nehmen den Kürbis mit dazu“, sagte ich zu den Kindern.
„Ich kenne auch ein Herbstobst“, rief Ferdinand. „Oh toll, sag mal!“ spornte ich ihn an. „Obstler“ antwortete er. „Mein Opa trinkt das immer im Herbst und sagt, da sei viel Obst drin!“ Ich hielt mir die Hand vor den Mund, um nicht laut loszulachen. Am Ende bedankten wir uns alle gegenseitig dafür, das wir heute so viel Spaß miteinander haben durften.
Und das ist es, womit ich schließen möchte. Es gibt jeden Tag etwas, wofür wir dankbar sein können. Bei mir fängt das schon an solch einem Herbstmorgen an. Ich friere und bin dankbar, dass ich eine Heizung habe, die ich anstellen kann. Ich bin dankbar, dass ich nachts in einem Bett schlafen konnte und ein Dach über dem Kopf habe. Ich bin dankbar, dass Ralfs Mutter uns oft selbstgekochtes Essen vorbeibringt und meine Mutter uns oft Wundertüten, prall gefüllt mit Obst, Süßigkeiten und anderen schönen Dingen schenkt. Ich bin dankbar, dass mich Freunde unterhalten und mir zuhören, dankbar, die Zeichen erkennen zu können, die unser Kind uns aus dem Himmel schickt. Dankbar über Aufmerksamkeiten und einen Mann, mit dem ich über alles reden kann. Es gibt noch so viel mehr, aber das würde zu viel werden. Ich danke euch, dass ihr meinem Blog folgt und mir so viele nette Sachen schreibt. Fühlt euch alle lieb gedrückt.
Herzlichst, eure Steph ❤
„Herz“
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Und ich danke Dir für Deine immer wundervollen Geschichten. Und ich danke Dir, für das Lächeln, das Du mir so oft ins Gesicht zauberst! ❤
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Danke Werner 😄😘
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Ich kann dir auch nur für deine Geschichten danken die ich wirklich sehr gerne lese….ich freue mich immer total wenn du im Reader auftauchst 😉
Alles Liebe aus dem Norden ❤
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Danke Gnubbels. Das ist so lieb von dir. 😄😘
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Ich freue mich immer über deine Geschichten. Diese ist besonders schön.
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Herzlichen Dank liebe Annette 😍
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