
„Der Daniel hat auf mein Bild gemalt!“ – „Die Frauke hat mir mein Kuscheltier geklaut!“ – „Der Peter hat einen Popel an den Blumentopf geschmiert!“ – „Der Nils hat einen Legostein im Klo runtergespült!“ Es gab eine Zeit, da standen die Pegel auf Sturm in unserem Gruppenraum. Ich war Erzieherin in einer heterogenen Gruppe von 25 Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren und mittlerweile schwer genervt von den Petzereien einiger Kinder. Ich war damals erst seit circa vier Wochen die Gruppenleitung. Mein vorheriger Arbeitgeber, ein Bildungsträger hatte Insolvenz angemeldet und uns alle entlassen. Auch wenn ich die Arbeit mit Jugendlichen und heranwachsenen Erwachsenen stets aufregend und toll fand, war es mein Wunsch gewesen, nun wieder im Elementarbereich arbeiten zu können.
Aufräumen? Nie!
Wir mussten uns erst gegenseitig kennenlernen, die Kinder und ich. Ich weiß noch, dass ich an meinem ersten Arbeitstag alleine mit den Kindern war. Meine pädagogische Zweitkraft, die mir die Tages- und Zeitabläufe hätte erläutern können, war krank und ich somit auf mich allein gestellt. Die sechsjährige Conny nahm mich ein wenig unter ihre Fittiche. „Wenn der Zeiger von der Uhr auf neun steht, machen wir einen Morgenkreis“, erklärte sie mir und zeigte auf die bunte Uhr im Gruppenraum. „Dahinten am runden Tisch frühstücken wir und vor dem Mittagessen gehen wir immer in den Garten raus zum Spielen.“ „Und wann räumt ihr auf?“ fragte ich sie. Verschmitzt schaute sie mich an und blieb mir zunächst eine Antwort schuldig. Ich hörte die Uhr im Hintergrund laut ticken. Dann schlug sie die Augen nieder und sagte: „Nie!“ Wie wunderbar, dass dieses sonst so verantwortungsbewusste und hilfsbereite Vorschulkind sich bei der Frage nach dem Aufräumen wie jedes andere Kind benahm.
Schinken klopfen
Am Anfang bin ich jeder Situation, in der mir ein Kind am Ärmel rüttelte und mir etwas petzte, sofort nachgegangen. Wie gesagt, kannten die Kinder und ich uns noch nicht so gut, uns gegenseitig einschätzen zu können. Man will ja auch wissen, was in den Ecken vor sich geht, um Gefahren abzuwehren. Dann hatte ich ein Schlüsselerlebnis mit Tina (5). Diese kam ganz entrüstet zu mir und beschwerte sich, dass Kai in die Kuschelecke wollte, obwohl sie doch schon dort mit ihren drei Freundinnen spielte. (In die Kuschelecke durften immer nur vier Kinder, weil dort sonst kein Spiel mehr möglich wäre.) Ich konnte Tina zunächst nicht viel Aufmerksamkeit schenken, weil ich mit Frau Müller telefonierte, die ihren Sohn für den heutigen Tag krank meldete. Unbeeindruckt davon klopfte Tina mir auf den Po. „Der Kai will in die Kuschelecke, aber da spielen wir doch schon!“ gab sie erneut zu Protokoll. Ich hielt mir währendessen ein Ohr zu, um Frau Müller am anderen Ende des Telefons besser verstehen zu können. „DER KA….HAI WI..HILL IN DIE KUSCHELECKE, ABER DA SPIE..HE ..LEN WIR DOCH SCHO..HON!!!“ Tinas Worte wurden lauter und ihr Klopfen auf meinen Allerwertesten stärker. „Gleich“, murmelte ich ihr zu, zwinkerte ihr zu und lauschte Frau Müllers Worten. Als diese allerdings in ihren Erzählungen keinen Schluss fand und mir unbedingt die Konsistenz vom Stuhlgang ihres Sohnes telefonisch durchgeben wollte, hielt ich es für angebracht, dass Gespräch diplomatisch nett zu beenden. Tina hatte indes meinen Po schon weichgeklopft, ebenso wie meine Nerven. In solchen Situationen half es mir immer sehr, wenn ich an die Cellulitis dachte, die ich dank dieser ganzen Po-Klopferei bestimmt nie bekommen würde. Ich hatte den Hörer kaum aufgelegt, als Tina schon wieder krähte: „Der Kai will in die Kuschelecke, aber da spielen wir doch schon!“ Mit den Augen suchte ich kurz den Gruppenraum nach Kai ab und fand ihn… am Frühstückstisch. Mindestens fünf Meter von der Kuschelecke entfernt.
„Meine liebe Tina“, sagte ich in leicht ärgerlichem Ton, „der Kai sitzt am Frühstückstisch und den einzigen Gedanken, den er gerade hegt, ist der, wie er seine mitgebrachten Süßigkeiten am schnellsten isst, ohne dass ich es mitbekomme. Der möchte gar nicht in eure Kuschelecke!“ „Aber vorhin wollte er es noch!“ empörte sie sich. „Und um mir zu erzählen, was der Kai vorhin wollte, hast du jetzt 20 Minuten damit verbracht, mir das erzählen zu wollen und deine Freundinnen warten lassen. Auch nicht so schön, oder?“ Hmmm. Sie zog von dannen.
Karl-Heinz, der Actionheld
Tage später eine ähnliche Szene. Dieses mal war es Paul (5), der sich bei mir lauthals darüber beschwerte, dass Ivi (4) ihm seine Superactionhero-Figur geklaut habe. „Und warum hast du heute an einem Dienstag deine Superactionhero-Figur dabei, wenn bei uns immer am Mittwoch Mitbringtag ist?“ fragte ich ihn, bevor ich zu Ivi ging und den kleinen Actionhelden aus dem Puppenbett holte, in das sie ihn gelegt hatte. „Ich hab den Actionmann Karl-Heinz getauft, denn so heißt mein Opa. Bei mir hat er es viel besser als bei Paul“, rief Ivi entzürnt. „Karl-Heinz schläft jetzt in Pauls Brottasche und wartet auf den Mitbringtag“, sagte ich streng und bettete den kleinen Kerl in Pauls Rucksack. „Superactionhero-Figuren schlafen nie!“ versuchte sich Paul, der mir dabei zuschaute, an einem Widerstand. „Das mag sein, aber dieser Held ist nach all der Petzerei ein wenig müde und braucht jetzt dringend eine Pause.“
Als ich Feierabend hatte, reflektierte ich den Tag und machte mir so meine Gedanken. Diese ewige Petzerei hatte nicht nur Karl-Heinz schrecklich müde gemacht, auch ich war matt. Es müsste sich etwas ändern. Per se ist das Petzen gar nicht so negativ. Es spricht dafür, dass Kinder gewisse Grundregeln kennen, also ein gutes Regelverständnis besitzen und verlangen, dass diese eben auch eingehalten werden. Andererseits sollen sie auch lernen, Konflikte selbständig zu lösen. Für den Erwerb der eigenen Sozialkompetenz ist das ein wichtiger Punkt. Würde man im Alltag des Kindergartenlebens auf jede kleinste Petzerei der Kinder immer selbst reagieren, in dem man sich vom Petzerkind zum Ort des Geschehens ziehen lässt um dort für Klarheit zu sorgen, hätte das einen Domino-Effekt zur Folge. Die Kinder würden sich nicht mehr selbst um das Fehlverhalten des anderen kümmern und diesen nur noch anschwärzen. Denunziantentum. Außerdem blieb der Lerneffekt des „Ich habe einen Konflikt selbstständig ohne verbale und körperliche Gewalt lösen können“ aus. Eben das wollte ich in meinem Erziehungs- und Bildungsauftrag gerne erreichen: Kinder dazu zu erziehen, lösungsorientiert zu denken. Am nächsten Tag im Stuhlkreis würde ich mit den Kindern darüber reden.
Wir klären das im Stuhlkreis
„Manchmal gibt es Situationen, die uns nicht gefallen. Mir gefällt es zum Beispiel nicht, wenn ich mit der S-Bahn fahre und keinen Sitzplatz bekomme, obwohl noch Sitzplätze frei wären. Aber auf den eigentlich freien Sitzplätzen haben andere Menschen ihre Tasche abgestellt. Was könnte ich denn da jetzt machen? fragte ich die Kinder. „Deinem Papa Bescheid sagen, damit er mit den Leuten schimpft!“ sagte Paul. „Und wenn ich keinen Papa habe?“ fragte ich zurück. „Dann muss deine Mama kommen und das regeln!“ sagte Mimi (5). „Wie wäre es, wenn ich mich selbst darum kümmere und die Leute freundlich frage, ob sie ihre Tasche wo anders abstellen können, damit ich mich hinsetzen kann?“ Oh ja, das kam gut an bei den Kindern. „Wenn wir etwas sehen, das nicht in Ordnung ist, dann sollten wir uns immer erst einmal die Frage stellen: „Habe ich selbst schon versucht, an der Situation etwas zu ändern? Denn manchmal, und das geht jedem mal so, da ist man so stinkewütend, dass man den anderen nur deswegen verpetzt, weil man sich wünscht, dass dieser mal so richtig schlimmen Ärger bekommt. Ist das schön?“ Die Kinder schüttelten verneinend betroffen ihre Köpfe. Wir konnten in diesem Stuhlkreis auch noch klären, wo der Unterscheid zwischen ‚Bescheid sagen‘ oder ‚Petzen‘ liegt. Es war ein toller Stuhlkreis. Zusammen konnten wir neue Regeln für unseren Gruppenalltag aufstellen. Damit es dabei blieb, bastelte ich mir einen Mund mit Zähnen, den ich mir in die Hosentasche steckte. Die Kinder kannten den Mund aus dem Stuhlkreisgespräch. Er sollte sie stets daran erinnern, dass sie einen Mund zum Reden und Konfliktlösen haben. Sobald ein Kind in Petzabsicht zu mir kam, holte ich erst einmal den Mund heraus. Es gab so einige Kinder, die auf dem Weg zu mir plötzlich scharf abbremsten, wenn sie sahen, wie ich den Mund aus der Tasche holte. Ja, es „fruchtete“.
Drei Tage später stand Melli (6) vor mir und gab ein gutes Beispiel für den Unterschied zwischen Petzerei und Bescheid geben ab. Ich saß mit Mia (3) am Tisch, um mit ihr den Umgang mit der Schere zu üben. „Die Jungs machen im Waschraum Quatsch“, sagte Melli. „Schlimmen Quatsch, Quatsch, bei dem man Bescheid sagen soll!“ ergänzte sie aufgeregt. Und ja, sie hatte recht.
Wasserhähne putzen
Im Waschraum standen drei fünfjährige Jungs aus unserer Gruppe und putzten mit den Zahnbürsten der anderen Kindern die Wasserhähne.
„Ähem“, räusperte ich mich kurz, um den jungen Kerlen klar zu machen, dass ich ihr Tun beobachtete. Während die anderen blitzartig die Zahnbürsten ins Waschbecken fallen ließen und sich im „Lämmchenblick“ übten, sah Flori in seinem Verhalten nichts Schlimmes. Im Gegenteil. „Mein Vater macht das auch immer“, gab er mir zur Antwort, ohne dass ich ihm eine Frage gestellt hätte. „Soso, dein Vater putzt also mit der Zahnbürste den Wasserhahn“, stellte ich fest. „Nee, nicht mit einer Zahnbürste, mit ’ner Drahtbürste!“ sagte er und klang ein wenig stolz.
„Und ist das, was du da in der Hand hältst, eine Drahtbürste“? fragte ich und deutete mit dem Finger auf das nun unbrauchbare Zahnpflegeutensil. Flori schüttelte energisch den Kopf. „Neee, aber im Spiel tun wir so, als wäre es eine.“ Über diese gute Antwort musste ich innerlich schmunzeln. Aber natürlich ging so etwas gar nicht. Ich erklärte den Jungs, was an ihrer Aktion verkehrt war und erläuterte die Gründe. Mit dem kleinen 1×1 in Hygienekunde verließen sie geläutert den Waschraum und gingen wieder in den Gruppenraum. Ich wiederum machte Elternbriefchen für die Brottaschen für diejenigen Eltern fertig, deren Zahnbürsten ich nun entsorgen musste.
Petzeritis besiegen
Wie gesagt klappte alles wunderbar und machte mich stolz. Wir hatten gemeinsam die fiese „Petzeritis“ besiegt und dabei eine Menge gelernt. Zudem hatte ich mehr Zeit, mich um die Kinder zu kümmern, da ich nun nicht mehr ständig zu irgendwelchen Streiterein gerufen wurde. Während ich das schreibe, überlege ich, wie man das auf die erwachsenen Menschen übertragen könnte. Als es den ersten Lockdown gab und unser Bundesland seine innerdeutschen Grenzen schloss, um zu verhindern, dass Menschen aus Risikogebieten zu uns an die Ostseeküste reisen, da sah sich unser Nachbar jeden Tag mit Beleidigungen konfrontiert. Er fuhr einen Dienstwagen mit Münchner Kennzeichen, und so glaubten einige Menschen, dass er nicht hier leben und wohnen würde. Er war irgendwann so genervt, dass er sich einen Zettel hinter die Windschutzscheibe klebte, auf der er sich erklärte, der Arme. Inzwischen wohnt er nicht mehr hier.
Aktuell feiern die Nachbarn aus dem Haus nebenan eine Minifeier. Sie stehen zu viert mit Abstand zueinander im Garten um einen Feuerkorb herum und trinken Glühwein. Ich wünsche ihnen, dass von den anderen Nachbarn keiner an akuter „Petzeritis“ leidet und die Polizei ruft. Und wenn doch, dann wissen die Feuerkorbnachbarn ja, wo ich wohne. Ich helfe gern beim Beseitigen der Petzerei und der gebastelte Mund liegt bestimmt auch noch in irgendeiner Schublade herum. 😉
Ich wünsche euch allen eine gute Zeit.
Herzlichst eure Steph