Frostschutzmittel

Dienstagmorgen um 9:00 Uhr klingelte das Telefon. Es war unser Vermieter, der nicht bei uns im Haus wohnt. „Ich brauche ihre Hilfe“, sagte er. „Aber ja, ich helfe gern, was ist denn los?“ sagte und fragte ich, ohne eine Sekunde zu überlegen. „Die Mieter unter ihnen, die haben Frostschutzmittel über die Fensterbank gekippt und nun…“ „Die haben waaaas?“ unterbrach ich ihn fassungslos. „Da läuft jetzt so eine blaue Flüssigkeit die Hauswand runter, deswegen ist meine Bitte, dass sie da jetzt mal ganz viel Wasser nachkippen.“ Blaue Flüssigkeit? Mir schwante was und ich war plötzlich wacher als wach…

Warten auf den Schnee

Es dauert lange, bis der erste Schnee in unsere schöne Stadt hereinbrach. Der Ralf atmete erleichtert auf, als die ersten Flocken vom Himmel fielen, denn er wusste, wie sehnsüchtig ich darauf gewartet hatte. Mit Rasierschaum und Speisestärke hatte ich künstlichen Schnee für die Wohnung hergestellt. Ich hatte Sara & Klara, zwei Mädchen gebastelt und sie die Klorollenpiste heruntersausen lassen. Mit Wolle und einem Pappteller hatte ich einen Skilift gestaltet und ließ meinen kleinen Kuschelhasen hoch und runter fahren. Doch der echte Schnee kam einfach nicht. Ein paar mal hatte ich gedacht, er wäre im Anmarsch. „Hör mal, die Luft knistert, bald ist es soweit“, sagte ich bedeutungsschwanger zu Ralf, der mich fast mitleidig ansah. Vor Jahren hatte er mir mal einen Brief geschrieben, in dem er behauptete Petrus zu sein. Dieser schrieb mir, dass der Schnee bestimmt bald kommen würde. Unterzeichnet war das Schreiben von P. Trus, aber ich wusste, dass der Ralf dahintersteckte. Ich kenne ja meinen Mann.

Märchenplatten

„Wenn es so richtig los geht, wenn die dicken Flocken vom Himmel fallen und alles so wunderbar weiß ist, dass man denkt, es wird nicht dunkel, wenn alle Geräusche plötzlich leiser sind und die Häuser aussehen, als wären sie mit Rasierschaum eingedeckt, dann will ich hier auf unserem Sitzsack vor dem Fenster sitzen, dem Schneetreiben zuschauen und Märchenplatten hören“, sagte ich zu Ralf. Der ging sofort zu unserm Regal mit den Langspielplatten und suchte die Märchenplatten heraus. Insgesamt stellte er sechs Märchenplatten vor unsere Stereoanlage. Alles war bereit für den den Schnee, der immer noch auf sich warten ließ.

Schneesturm im Glas

Ein paar Tag später ging der Ralf sogar noch abends mitten im Regen zum Supermarkt, um mir Babyöl zu kaufen. Ich hatte im Internet gelesen, dass man mit Babyöl, weißer Acrylfarbe und einer Brausetablette einen Schneesturm im Glas herstellen konnte und das wollte ich unbedingt ausprobieren. Wenn schon im echten Leben kein Schneesturm kam, dann wenigstens bei uns zu Hause in einem Glas. Das Ergebnis war wirklich faszinierend. Zusammen starrten wir auf das weiße Gewirbel in dem Marmeladenglas und freuten uns.

Und dann war es endlich soweit. Der Schnee kam. Ich, die tagelang und stundenlang vor dem Fenster gen Himmel schaute, bekam davon erst einmal gar nichts mit, denn ich saß im Arbeitszimmer mit dem Rücken zum Fenster und tippte am PC an einer Email für eine Freundin, als Ralf plötzlich freudig „Es schneit!“ rief. Ich dachte, er veräppelt mich, aber als mich zum Fenster umdrehte, da sah ich es auch. Es flockte vom Himmel und hatte nicht den Anschein, dass es aufhören wollte. Sofort unterbrach ich die Emailschreiberei (Entschuldige Jule) und rannte lachend von Fenster zu Fenster. Die Märchenplatten zu hören kam mir nun gar nicht mehr in den Sinn, ich war so aufgewühlt wie ein Duracellhäschen mit frischen Batterien.

Bunte Schneekugeln…

Der Schnee war gekommen, um zu bleiben und ich war total in meinem Element. Zuerst habe ich natürlich einen Schneemann gebaut. Mit einem Eierwärmer als Hut, Eierlöffeln als Händen und Kühlschrankmagnetenknöpfen an seinem Bauch. Für die Augen nahm ich Spielsteine aus unserem Mühle-Spiel. Je mehr es schneite, desto verrückter wurden meine Ideen. Es war, als hätte der Schneekasper in meinem Kopf Einzug gehalten. So holte ich zum Beispiel die transparenten Eiswürfeltüten aus dem Schrank, füllte sie mit in Wasser aufgelöster Lebensmittelfarbe und stopfte sie in den Gefrierschrank, um später bunte Eiskugeln im Schnee auf unserem Balkon zu verteilen. Mithilfe unseres Eisportionierers formte ich kleine Schneebälle und baute meinem Schneemann ein Häuschen. Ich fror buntes Konfetti in einem mit Wasser gefüllten Teller ein, baute Eislichter und bastelte aus Eierkartons heiße Teetassen mit Watte als Dampf.

und gefrorene Seifenblasen

Der Clou waren meine gefrorenen Seifenblasen. Im Internet hatte ich viele Rezepte dazu gesehen und fast bei jedem benötigte man Maissirup. Ich wusste nicht einmal, dass es das überhaupt gibt. Letzendlich fügte ich meiner gekauften Seifenblasenmischung einfach nur einen Esslöffel Zucker bei. Kalt genug war es mit -6 Grad bei uns, aber der Wind war einfach zu heftig, die Blasen flogen an den Fenstern der Nachbarn vorbei, keine blieb bei uns auf der Fensterbank sitzen. An einem Tag hatte ich die Mischung, die immer kalt sein sollte, bevor man sie pustet, über Nacht draußen vergessen. Just an diesem Tag war es endlich windstill, aber mein Seifenblasenpustestab war in der Flüssigkeit eingefroren. „Jetzt kannst du deine Märchenplatten hören“, sagte der Ralf, „ denn nun dauert es, bis die Flüssigkeit wieder aufgetaut ist.“ Ich wollte aber nicht warten, ich wollte alles sofort. Ich föhnte im Bad die Seifenlauge ein bisschen an und ging auf den Balkon. Ralf pustete eine besonders schöne große Seifenblase auf die Fensterbank und ich hielt das Foto mit der Kamera fest. Von meiner Freundin Jasmin hatte ich den Tipp bekommen, den Untergrund, auf dem die Blasen sitzen bleiben sollten, auch mit Zucker zu bestreuen und ja, es funktionierte. Die eine Seifenblase zeigte plötzlich Eiskristalle auf. Es war so spannend, dabei zuzuschauen, wie sich immer mehr kleine schöne Muster in ihr bildeten. Uns blieb schlichtweg die Spucke weg, so sehr staunten wir über dieses Spektakel.

Ein Hexenzirkel?

Der vernünftige Ralf nutzte die eisigen Temperaturen, um unseren Gefrierschrank abzutauen und stellte alle Inhalte des Frosters in eine große IKEA-Tasche auf den Balkon. In der selben Tasche sah ich wieder meine eingefrorenen Eiskugeln und verteilte sie als bunte Tupfer im Schnee. Juchuh, wie schön das aussah. Die Vögel, die wir auf unserem Balkon im Winter füttern, fanden die bunten Kugeln allerdings merkwürdig. Sie wollten den Kreis aus grünen und blauen Kugeln, in deren Mitte das Vogelfutter lag, nicht betreten. „Meine Güte, die tun ja gerade so, als ob ich einen Hexenzirkel dort platziert hätte“, regte ich mich durch die Fensterscheibe schauend auf und nahm die bunten Tupfer wieder weg. Am Sonntagabend wollten der Ralf und ich nach dem Abendessen gerne noch ein Speiseeis essen und suchten den Eisportionierer. Oh nein, den hatte ich auf dem Balkon vergessen! Er lag nun irgendwo unter einer 10 cm dicken Schneedecke und war vermutlich auf den Fliesen festgefroren. Naja, dann nimmt man halt einen Esslöffel, gell? Bei dem verbog dann leider der Stiel aber das machte uns nichts aus.

Der letzte Abend

„Heute Abend soll es noch einmal kräftig schneien und ab dann kommen frühlingshafte Temperaturen“, sagte der Ralf als ich nach der Tagesschau ins Wohnzimmer kam. Oh nein, es sollte bald vorbei sein mit der weißen Schneepracht? Ich fühlte mich, als wäre ich gerade erst richtig in Fahrt gekommen und wurde hauruck ausgebremst. „Dafür steht bald der Frühling vor der Tür und die vielen Tulpenzwiebeln, die deine Mutter uns geschenkt hat, werden in den Balkonkästen blühen“, sagte er mir, um mich zu trösten. Und ja, er hatte ja recht. Auf den Frühling freute ich mich auch schon. Im Nachhinein glaube ich, dass es genau daran lag, dass ich abends noch auf eine ganz verrückte Idee kam… Wenn es tatsächlich der letzte Abend mit Schnee sein würde, dann musste ich diesem noch ein Denkmal setzen.

Die Aufklärung

Es schneite tatsächlich den ganzen Abend durch. Wir standen vor unserem Fenster und sahen im Licht der Straßenlaterne die weißen Flocken durch die Luft wirbeln. Die Straßen waren schneebedeckt und die Autos fuhren geräuschlos über die Wege. Als Erinnnerung und Abschied musste noch ein schönes Schneebild her, befand ich und hüpfte in die Küche, wo ich im Schrank noch Lebensmittelfarbe hatte. ‚WINTER 2021‘ schrieb ich damit auf den Schnee auf unserer Fensterbank und freute mich. Zufrieden gingen wir zu Bett.

Am nächsten Morgen: Ich hatte mir gerade einen leckeren Tee gemacht, als mein Handy klingelte. Es war Dienstagmorgen um 9:00 Uhr. Unser Vermieter war am Apparat. „Die Mieter unter ihnen, die haben Frostschutzmittel über die Fensterbank gekippt und nun…“ „Die haben waaaas?“ unterbrach ich ihn fassungslos. „Da läuft jetzt so eine blaue Flüssigkeit die Hauswand runter, deswegen ist meine Bitte, dass sie da jetzt mal ganz viel Wasser nachkippen.“ Blaue Flüssigkeit? Mir schwante was und ich war plötzlich wacher als wach. Ich dachte an meine lustige Schneeerinnerung am Vorabend. Und nun tropfte mit dem geschmolzenen Schnee das blaue Wasser die Hauswand hinunter? Oh nein. Das Haus, in dem wir wohnen, hatte erst vor zwei Jahren einen neuen Anstrich bekommen. Fliederfarben. „Naja, blau passt doch gut zu lilanem Flieder“, sagte der Schneekasper in mir. „Oh mein Gott, ich werde Tausende von Euro für die Reingung der Fassade zahlen müssen“, zitterte mein normales Ich. Noch immer hatte ich unserem Vermieter am Telefonhörer. „Das war ich und das ist auch kein Frostschutzmittel, das ist blaue Lebensmittelfarbe“, sagte ich leicht zögerlich in das Telefon. „Ach SIE waren das?“ sagte er und lachte. „Lebensmittelfarbe. Ach so, na dann“, hörte ich weiter. „Wenn sie bitte dennoch ein wenig Wasser nachkippen würden?“ fragte er mich. „Sofort!“ sagte ich und ließ nicht unerwähnt, wie peinlich mir das Ganze war. Dem völlig erstaunten Ralf erzählte ich im Telegrammstil was vorgefallen war. „Ich werde mich nur noch mit einer Papiertüte über dem Kopf aus dem Haus wagen, so peinlich ist mir das!“ rief ich ihm zu, während er immer wieder sagte, dass das doch alles gar kein Problem sei. „Zuerst muss mal das Eis von der Fensterbank“, bestimmte er. Mit einem großen Geodreieck kratzte er auf der Fensterbank die blauen Eisschichten ab, die ich sofort in einen Eimer schmiss. „Das war der verrückte Schneekasper in meinem Kopf, wenn es schneit, bin ich nicht mehr ich selbst“, stöhnte ich betroffen und sah dem Ralf dabei zu, wie er mit der großen Gartengießkanne die Fensterbank begoss. „Das ist doch alles halb so wild“, beruhigte er mich. „Das ist Lebensmittelfarbe, deren Farbe verflüssigt sich von selbst und dann ist da nichts mehr zu sehen“,ergänzte er. Ich tippte anschließend mit noch immer zittrigen Händen eine Whatsappnachricht an unseren Vermieter und schickte ihm zwei Bilder. Das eine von meinem ‚WINTER 2021‘-Foto, das andere von einer wieder sauberen Hauswand. „Mir tut das so leid“, schrieb ich dazu. „Ist doch alles gut“, schrieb der Vermieter mit einem Lachsmiley zurück. Als alles wieder so richtig supersauber war, setzte ich mich erschöpft von all der Aufregung am Morgen auf das Sofa. „Weißt du was, Ralf?“ fragte ich ihn, der immer noch über meine gemalte Schneeerinnerung schmunzeln musste, „ich bin so froh, dass ich keine gelbe Lebensmittelfarbe genommen habe!“ Und ja, das fand auch der Ralf sehr gut. Gelbe Spuren im Schnee werfen weitaus mehr Fragen auf als blaue. Nun kommt bald der Frühling und der bringt seine bunten Farben selber mit.

Herzlichst eure Steph

2 Kommentare zu „Frostschutzmittel

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