(Geräusche aus dem Hinterhof Teil 4)

Ist das nicht merkwüdig? Vor einer Woche rief mich mein Vermieter an, weil blaue Flüssigkeit mit geschmolzenem Schnee die Häuserwand hinunterläuft und genau eine Woche später haben wir Temperaturen von 20 Grad. Im letzten Jahr nannte ich den Frühling einen Spätling und nun scheint es, als könnte es gar nicht früh genug losgehen.
In unserem Hinterhof herrscht endlich wieder Leben. Um in Erfahrung zu bringen, ob es stimmt, dass es 20 Grad geben soll, hätten wir weder den Wetterbericht schauen noch aus dem Fenster gucken müssen. Wir lagen im Bett, als wir morgens um 6:30 Uhr von draußen ein Kratzgeräusch vernahmen. Ich stand auf, ging zu unserem Schlafzimmerfenster und lugte durch einen kleinen Spalt des zugezogenen Vorhangs nach draußen. „Er ist es, oder?“ fragte Ralf, der sich im Bett liegend wie ein Vampir die Augen zuhielt. Vampire liegen nicht in Betten, ich weiß. Aber Ralf tat so, als würde ihn der kleine Lichtspalt im Vorhang gleich zu Staub zerbröseln lassen. „Ja, er ist es“, stöhnte ich und klaubte meine auf dem Fussboden liegende, gepunktete Flauschijogginghose auf, um hineinzuschlüpfen.
Ein Blatt im Wind
Mit ER ist unser Nachbar Herr B. gemeint. Wir nennen ihn heimlich den Spießer. Seine Frau ist Frau Spießer. Bei Herrn Spießer muss immer alles akkurat und ordentlich sein. Im Herbst kehrt er das gefallene Laub zusammen und steckt es in einen Sack. Wenn sich dann spätabends noch ein Blatt erlaubt, vom Baum zu fallen, dann rennt er in seinen Hausschuhen hektisch noch einmal nach draußen, um es zu entfernen. Es wird nichts dem Zufall überlassen, alles muss seine Ordnung haben. Als er im letzten Herbst wirklich jedes Blatt von seiner Terrasse entfernt hatte und dann ein paar Tage später ein Herbststurm über’s Land zog, da war vielleicht was los. Die Birke des Nachbarn hatte nämlich noch einmal ordentlich Blätter gelassen und diese schwebten völlig unbeeindruckt, wie Herr Spießer das fand, auf seinen Grund und Boden. Ich bilde mir ein, aus dem Fenster im dritten Stock gesehen zu haben, wie sein linkes Augenlid plötzlich unkontrolliert zuckte. Seine Frau steht ihm in nichts nach. Als der Ralf den gelben Sack mit dem zu recycelnden Müll einen Tag früher als sonst zur Abholung an die Strasse stellte, da stand Frau Spießer plötzlich neben ihm und hielt ihm eine Gardinenpredigt, die sich gewaschen hatte. Man könnte ja lobend erwähnen, dass wir unseren Müll trennen, aber nein, es blieb bei der Ansage, dass man den gelben Sack nur am Tag der Abholung vor die Tür stellt. Zwei Häuser weiter ist ein Restaurant, das seine gelben Säcke einfach immer vor die Tür stellt, wenn diese voll sind. Dort am Baum wächst kein Gras mehr, da sieht es aus, als wäre das die Abgabestelle für gelbe Säcke. Warum geht sie da nicht hin und schreit die Leute an? Ich vermute mal, sie hat es versucht und wurde von den Restaurantbesitzern ausgelacht.
Kratz, kratz, kratz
Dass der Frühling kam, wussten wir also vom Kratzgeräusch aus dem Hinterhof. Herr Spießer hatte seinen Metallrechen aus dem Gartenschuppen geholt und damit seinen steinigen Terrassenboden gerecht. Kratz, kratz, kratz. Seine Frau stand mit einem Wassereimer und Putzlappen neben ihm. Die Terrassenmöbel müssten ja von ihrer Plastikfolie befreit und mit Putzmittel ordentlich abgeschrubbt werden. Es ist sehr amüsant, den beiden dabei zuzusehen. Wie auch im letzten Jahr steht sie wie eine Staffelläuferin neben ihm und wartet auf den nächsten Schritt, der zu tun ist. Nach circa zwei Stunden war das große Putzspektakel vorüber und sie flitzten wieder nach drinnen. Vielleicht startete dort der Frühjahrsputz der Innenräume.
Matschpampenstrasse
Herr C., der im letzten Frühjahr neue Rasensaat streute, weil der Standort des Trampolins seiner sechsjährigen Tochter den Rasen ruiniert hatte, ist mit seiner Familie leider ausgezogen. Das finde ich schade, denn deren Garten sah stets aus wie ein großer Spaßpark für Kinder. Eine Rutsche führte ins mit Wasser gefüllte Planschbecken, das Trampolin lud zum Hopsen ein und die Sandkastenmuschel hatte eine eigene Matschpampenstrasse. Das Kind der C.’s quietschte immer wie ein Meerschweinchen, wenn sie ins Wasser rutschte und wenn sie auf dem Trampolin herum sprang, dann wirbelten ihre Zöpfe so lustig um ihren Kopf herum. Im Sommer haben sie oft gegrillt und zum Nachtisch gab es selbstgemachten Sandkuchen des Kindes aus der tollen Muschel. Wer jetzt wohl dort einzieht?
Taubenkaka
Das Pärchen D., die ihre Wäsche das ganze Jahr über auf ihrem Balkon trocknen lassen, haben ein kleines Taubenproblem. Ich glaube allerdings nicht, dass sie das schon bemerkt haben. Gefühlt sind sie nie zu Hause. Das letzte Mal, dass wir sie sahen, war, als der Herbststurm kam und sie ihre Unterhosen vom Apfelbaum klauben mussten, weil sie vergessen hatten, ihre zu trocknende Wäsche mit Wäscheklammern zu fixieren. Wäscheklammern benutzen sie auch heute noch nicht. Es scheint ihnen egal zu sein, durch die Nachbargärten zu robben und dort ihre Oberhemden, Stringtangas und Kuhfleckenleggings aus den Blumenbeeten zurückzuholen. Die Nachbarin über ihnen füttert die Tauben und diese sitzen nun wartend auf der Wäscheleine der D.’s und bescheren deren Wäsche neue Muster. Weiß gesprenkelt. Weil das Pärchen D. seine Wäsche stets montags raushängt und erst am Freitag wieder reinholt, bleiben ihnen die Taubenkakaspuren auf ihren Shirts wohl verborgen. Denn es regnet ja zwischendurch auch mal. Die können froh sein, dass sie nicht bei uns im Haus wohnen, denn wir haben im Winter die Möwen auf unserem Balkon gefüttert und wenn eine Möwe mal was loslässt, dann ist das nicht nur ein kleiner Klecks, das kann ich euch sagen.
Partywürste
Herrn E. habe ich euch schon in der letzten Folge „Hinterhofgeräusche“ vorgestellt. E wie Ekel. Einer, der nie grüßt und am liebsten seinen Balkongrill poliert. Der Grill war sonst dreimal die Woche in Nutzung. Ein Steak am Mittag, eine Bratwurst am Abend, der „Griller“, wie wir ihn heimlich nennen, ließ keine Gelegenheit aus, um sich auf seinem Balkon etwas zu brutzeln. Ich mag es ja auch zu grillen, es gehört zum Sommer einfach dazu. Aber wenn man dreimal die Woche seinen Balkongrill anschmeißt, ist es irgendwie auch kein besonderes Ereignis mehr, oder? Jetzt, wo das zweite Kind der Familie E. das Licht der Welt erblickt hat, ist es eh erst mal Essig mit seiner Grillerei. Eingestaubt steht das Teil nun auf dem Balkon und wird nicht mehr benutzt. Wenn seine Frau als Musiklehrerin Schüler:innen daheim Unterricht gibt, muss er das Haus verlassen. Dann kann man ihn an der Ampel stehen sehen. Dort wartet er mit einem Kind vor der Brust festgeschnallt und einem an der Hand, bis die Ampel auf Grün spingt. Statt mit seinen Kindern den nahe gelegenen Lunapark, der voll mit tollen Spielgeräten für Kinder ist, zu besuchen, geht er zu Aldi und glotzt mit hängender Zunge in die dortige Fleischauslage, während seine Kinder an ihm zerren und quengeln. Ich hab ihn neulich dort gesehen, als ich Partywürste und Veggiesteaks in unseren Einkaufswagen warf. Grüßen kann er immer noch nicht. Ich komme mir stets wie eine Vollidiotin vor, wenn ich ihn nett anlächle und daraufhin nichts erwidert bekomme. Seinen Kindern ist er da in erschreckender Weise gar kein Vorbild.
Die Neuen
Im Haus gegenüber ist eine junge Familie eingezogen. Mann, Frau, ein Kind, circa anderthalb Jahre alt. Als der erste Schnee über Nacht vom Himmel rieselte, hat die Frau ihr Kind auf einem Schlitten durch den kleinen Vorgarten gezogen. Das Kind hat vor Freude so gejuchzt, dass ich gar nicht aufhören wollte, den beiden bei ihrem Schneespaß zuzuschauen. Gestern haben sie und ihr Mann damit angefangen, ihrem Kleinkind einen Sandkasten mit Dach im Garten zu montieren und gleich mal die ganze Nachbarschaft kennengelernt. Die saßen nämlich alle an ihren Fenstern und gaben gute Ratschläge, wie man den Sandkasten mit Dach am Besten zusammenbaut. Als der Bau dann endlich fertig war, hat das Kind mit dem leeren Karton gespielt und den Sand links liegen gelassen. Vielleicht ist es im nächsten Jahr alt genug, um Sandküchlein zu backen. Ich freue mich jedenfalls, dass wieder Kinderlachen durch den Garten zu hören sein wird.
Drei Häuser weiter wohnt nun auch eine neue Frau. Wir nennen sie die Tänzerin, weil sie neulich im Mondschein tanzend durch ihren Vorgarten gehüpft ist. Sie hat vor dem Haus auf einem Grünstreifen ein kleines Blumenbeet angelegt, um zur Bienenrettung beizutragen. Die Spießer sehen erstaunlich großzügig über dieses wilde Beet, welches so gar nicht ihrer eigenen Ordnung entspricht, hinweg. Auf ihrem Balkon hat sie bunte Lampions aufgehängt. Windspiele waren da auch mal, aber vermutlich hat sich einer der Nachbarn über das nächtliche Geklimper aufgeregt und sie hat es wieder abgenommen. Manchmal fährt sie mit ihrem Auto weg und wenn sie dann wiederkommt, dann trägt sie viele Sachen aus ihrem Kofferraum in ihre Wohnung. Europaletten, Leinwände, leere Dosen. Aus der Europalette hat sie sich ein Bett gebaut. Das konnten wir sehen, weil sie es im Garten zusammengeschraubt hat. Sie trägt gern lange wallende Kleider, glitzernde Stirnbänder und sehr viele Ketten um den Hals. Als ich neulich auf dem Balkon Fotos meiner gefrorenen Seifenblasen knipsen wollte, da haben wir uns gesehen und sie hat mir freudig zugewunken. Ich mag sie.
Würstchen im Schlafrock
Gestern war der Ralf gerade beim Wäsche zusammenlegen im Schlafzimmer, da rief er mich zu sich. „Hmmmm, hier riecht es ja nach Bratwurst“, stellte ich fest. „Warum riecht es in unserem Schlafzimmer nach Bratwurst? Hast du nach über 30 Jahren dein Veggiedasein aufgeben und grillst unter dem Vorwand, Wäsche zusammenzulegen, nun heimlich Würstchen unterm Bett?“ neckte ich ihn lachend. „Das kommt von draußen.“ „Ach was ?“ „Die neuen Nachbarn. Dort, wo früher die C.’s mit ihrem Spaßpark wohnten, da sind nun neue Mieter eingezogen. Jetzt grillen sie“, flüsterte Ralf mir zu. Verstohlen schaute ich durch’s offene Fenster nach draußen. Auf einem Tapeteneinkleistertisch standen mehrere Schüsseln mit Nudel-, Kartoffel- und Tomatensalat sowie mehrere Soßen. Auf dem Kugelgrill lagen mehrere Würstchen und brutzelten vor sich hin. Dann sah ich Frau Spießer aus dem Haus der neuen Nachbarn kommen. Sie ging schnurstracks zu einem der aufgebauten Bistrotische und ordnete die sich darauf befindlichen Trinkgläser nach Farbe und Größe. Dann polierte sie mit einem Geschirrhandtuch das Besteck und schaute sich mit einem drehenden Kopf wie der einer Eule im ganzen Garten um. „Was macht sie denn im Garten der neuen Nachbarn?“ wunderte ich mich laut. „Sie hat doch sonst mit keinem von uns was am Hut.“ Der Ralf legte weiter die Wäsche zusammen und grinste in sich hinein. Er wusste definitiv etwas, das ich noch nicht wußte. „Mein Gott, kann denn keiner mal die Würstchen rumdrehen, die verkohlen doch noch auf dem Grill!“ murmelte ich, als ich sah, wie Frau Spießer sich plötzlich auf der Rasenfläche der Nachbarn hinhockte. Was tat sie denn jetzt und vor allem warum? Atemlos schaute ich ihr zu, wie sie mit der Handfläche über den Rasen fuhr. Die eine tanzt im Mondschein, die andere befühlt den Rasen. Bei uns ist immer etwas los. Dann trat der neue Mieter ebenfalls nach draußen und nun sollte sich alles aufklären. Das, von dem Ralf schon wusste. Frau Spießer stand aus ihrer Hocke auf, streckte ihren Rücken durch, zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Rasenfläche und sagte: „Den Rasen musst du spätestens nächste Woche mähen, Sohnemann!“ Ich erschrak so sehr, dass ich beim Luftholen Töne mit einsog. Es hörte sich an wie die lustigen Tröten vom Jahrmarkt. Diese, bei denen man nicht reinpusten, sondern die Luft einziehen muss, um Töne zu erzeugen. Gerade wollte ich mich zum Wäschefalter Ralf umdrehen, da kam auch die Mieterin auf die Terrasse hinaus. „Das mit dem Rasen mähen machen wir, sobald wir die Umzugskisten im Haus ausgepackt haben, liebe Schwiegermutti“, sagte sie. Ich hatte genug gehört. „Das Kind der Spießer wohnt nun nebenan?“ fragte ich den Ralf. „Oh ja, sie haben auch schon einen Durchgang von der einen Grundstückshecke zur anderen geschnitten“, antwortete er und legte das letzte Wäschestück zusammen. „Das kann ja was werden“, stöhnte ich. Und keiner drehte die Würstchen um…
Ich bin für eine Nachbarschaft, in der man sich gegenseitig hilft, grüßt und nett miteinander umgeht. Es nervt mich, dass der Griller Herr E. uns nie grüßt und wenn Frau Spießer meinen Mann anschreit, statt ihm im ruhigen Ton zu sagen, worin sie ein Problem sieht. Ich bin damit aufgewachsen, dass man sich um seine Nachbarn sorgt, wenn man diese mal ein paar Tage nicht sieht und biete mit Ralf dem 80-jährigen Nachbarn über uns wiederholend unsere Hilfe an. Wir backen zu jedem besonderen Festtag wie Weihnachten oder Ostern Plätzchen für die Mieter in unserem Haus, grüßen freundlich und sind immer für ein Gespräch mit Tiefgang zu haben. Als ich neulich mal in einem Artikel über die Anonymität der Bewohner:innen eines Hochhauses las, da kamen mir die Tränen. Allerdings fiel mir auch auf, dass einige Menschen es so haben möchten. Bloß keinen Kontakt zu den anderen. Vielleicht merken die Spießer auch mal, dass wir zwar nicht so gnadenlos ordentlich wie sie, aber dennoch nette Menschen sind. Wir dürfen gespannt sein. Ich halte die Augen für euch offen. 😉
Herzlichst eure Steph ❤
Hier geht’s direkt zu den anderen „Geräuschen aus dem Hinterhof“:
Spätling (Geräusche aus dem Hinterhof Teil 3)
Liebe Steph, ich habe 11 Jahre lang im 20. Stock eines Hochhauses gelebt. Dort hatte ich mehr Kontakt, als jetzt in meiner Mietwohnung. Hier gibt es nur drei Mietparteien. Die zwei Herren im 1. und 2. Stock, beide 32 Jahre alt, grüßen nicht und sind auch sonst rücksichtslos und anmaßend.
Im Hochhaus lebten wir mit 3 Frauen auf einer Etage. Da war meist Tag der offenen Türe. Jeder war für den anderen da. Das hat mir sehr gefallen. Leider ist das Haus inzwischen abgerissen worden. Aber ich habe gute Erinnerungen daran und an die Mieter.
Deinen lustigen ‚Bericht‘ habe ich aufmerksam gelesen. Zwischen Herrn und Frau Spießer fehlt eigentlich nur ein „Peter Lustig“, der in einem bunten Bauwagen lebt.
Herzliche Grüße
Gisela
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Hallo Steph,
das mit den Namen geben kenne ich. Meine Eltern waren und sind Weltmeister ihren Nachbarn lustige Namen zu geben.
Früher war es schön in einem Mehrfamilienhaus zu wohnen, es war immer jemand zum spielen da.
Jetzt wohne ich allein mitten in de Stadt mit drei Parteien, aber wenn man sich sieht gibt es immer ein Schwätzchen. Im Moment natürlich mit etwas mehr Abstand.
Liebe Grüße und einen schönen Sonntag
Annette
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Hallo liebe Steph. Wieder mal schön beobachtet und geschrieben :-). Ich habe auch mal in einem Hochhaus in Berlin gewohnt. Es war eine schöne Wohngegend im Westen von Berlin. Der Funkturm war ganz in der Nähe und der Grunewald. Wir hatten kaum Kontakt zu unseren Nachbarn. Jeder verbarrikadierte sich dort irgendwie.
Ich fand das sehr befremdlich. Eines Tages schaute ich aus dem Küchenfenster – wir wohnten im ersten Stock – und dann knallte etwas vor mir auf die Mülltonne unter unserem Fenster. Es war eine Nachbarin, die sich vom Dach in den Tod gestürzt hatte. Einsam war sie und unglücklich. Keiner wußte was davon. Was für ein Schock.
Es ist schön, wenn ihr freundlich zu den Nachbarn seid. Sie brauchen das. Ich wäre gerne deine Nachbarin. Herzlich, Monika
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