Futterneid

In einer Kindergartengruppe mit 25 Kindern tobt zum Glück immer das Leben. Eine schöne, aber mitunter auch sehr laute Tatsache. Da quiekt Lara, weil Martin sie ärgert, schreit Sascha, weil er sein Geschirr nicht selber aufräumen will, und brummt ein Flori furchtbar laut, weil er „im Spiel“ ein Bauarbeiter mit Presslufthammer ist. Doch dann gab es einmal am Tag eine Stille im Raum, die gespenstisch erschien. Dann war ich plötzlich alleine im Gruppenraum. Wie in einer Wüste kam ich mir vor. Der Wind pfiff leise durch den Raum und wenn ich mit dem Essenszulieferer telefonierte, dann hallte es, als befände ich mich im Kölner Dom. Das alle Kinder plötzlich weg, verschwunden waren, beunruhigte mich allerdings kein bisschen. Ich wusste ja, wo sie waren. Denn ich bin eine Zauberin. Mit nur einem Wort konnte ich alle Kinder wegzaubern. Das magische Wort hieß: AUFRÄUMEN.

Die sieben Geißlein

Es war wirklich immer das gleiche Spiel: Ich ließ ein Kind die Aufräumglocke läuten und stand kurz darauf allein im Zimmer. Wie in dem Märchen mit den sieben Geißlein ging ich anschließend in den Flur und zupfte vier Kinder hinter dem Brottaschenwagen, drei hinter der Tür, und weitere drei unter dem Flurtisch hervor. Zwei Kinder versteckten sich im Garderobenschrank, fünf im Personalzimmer. Den größten Fang (zehn Kinder!) machte ich immer im Waschraum. Dort saßen die Flüchtigen dann auf den kleinen Toilettchen und pressten, was das Zeug hielt. Schon aus diesem Grund hätte ich die Aufräumzeit locker in Blasentraining umbenennen können. Ich habe noch nie so viele Kinder erlebt, die kollektiv alle auf’s Klo mussten, nur weil es Zeit zum Aufräumen ist. Ich wäre eine schlechte Zauberin, wenn ich nur den einen Zauberspruch beherrschen würde. Ich kann schon mehr! So schaffte ich es, dass sich alle Kinder in kürzester Zeit wieder im Gruppenraum einfanden.

Das magische Wort hierfür hieß: MITTAGESSEN.

Schneewittchen

Kaum ausgesprochen, marschierten sie dann auf Toilette, hinterließen in der selbigen dann das, was ich den „12-Uhr-Stinker“ nannte, wuschen sich die Hände und erschienen wie völlig ausgehungert wieder in der Gruppe. Während ich den Essens-Container in die Gruppe schleppte, saßen die Kinder alle am Tisch, stampften mit ihren Gabeln rhythmisch auf dem Tisch herum und riefen: „Wir haben Hunger! Wir haben Hunger! Wir haben Hunger!“

Da drängte sich mir manchmal schon die Frage auf, ob ich wirklich Kindergartenkinder betreute oder eine Horde Bauarbeiter.

Mit den Gedanken war ich dann oft bei Schneewittchen. Ob diese ihre Bergarbeiter-Zwerge auch nur dadurch beruhigen konnte, wenn sie mit der großen Suppenkelle im Essenstopf rumrührte, so wie ich? Denn nur wenn ich diese Geste ausführte, ermahnten sich die Kinder gegenseitig selbst zur Ruhe und wir konnten mit dem Gebet anfangen. In meiner Gruppe gab es das „gleitende Frühstück“, welches besagte, das die Kinder selbst entscheiden durften, wann sie am Vormittag frühstücken wollten. Dazu war im Gruppenraum immer ein runder Tisch mit Frühstücksgeschirr, Besteck und Tee eingedeckt. Ich hatte die Kinder ,die im Spiel waren und vergaßen, dass sie noch nichts gegessen hatten, immer im Blick und sprach sie gezielt an. Auch ich saß oft dort und vesperte, wie es in Franken hieß. Und jetzt geht’s endlich los mit dem Futterneid…

Rotkäppchen

Eine Kollegin hatte einen runden Geburtstag und bat uns Mitarbeiterinnen alle in die Küche. Die Kinder waren noch nicht da bzw. wurden die Kinder, die bereits da waren, in der Frühgruppe betreut. Als wir uns in der Küche eingefunden hatten, lüpfte die Geburtstagskollegin das Tuch über ihrem Korb. Sofort ging ein Raunen durch die Küche. In dem Korb befand sich eine Flasche Wein und ein Kuchen. Nein, dass war nur Spaß, sie war ja schließlich nicht das Rotkäppchen. Was sie uns da zeigte, war eine Himbeertorte, wie ich sie zuvor noch nicht gesehen hatte. Sie sah aus wie gemalt, war aber echt. Auf dem Knusperboden befand sich Grieß mit Joghurt, alles war sehr rosa und kleine Sahnetupfer rundeten das Himbeerträumchen ab. Wir vergaßen fast, ihr ein Geburtstagsständchen zu singen, so sehr faszinierte uns die Torte. Doch schon gleich holte mich die Realität ein. Wie sollte ich dieses Kuchenstück essen, ohne dass die Kinder davon Wind bekamen? Meine direkte Kollegin, die als Zweitkraft in meiner Gruppe beschäftigt war, schaute mich an. Wir wußten beide, dass es ein gefährlicher Ritt sein würde, zwei Tortenstücke für uns in den Gruppenraum zu schmuggeln. „Wir könnten jetzt schnell essen“, schug sie vor. „Es ist jetzt 7:40 Uhr, ich kann das jetzt nicht“, sagte ich. Und dann wurde ich mutig. „Wir werden nachher – wie immer – frühstücken. Die Kinder befinden sich dann im Freispiel und kriegen das bestimmt gar nicht mit.“ Ein leichtes Zittern in meiner Stimme ließ mich nicht unbedingt sicher erscheinen. Doch es kam, wie ich es wollte.

Der süße Brei

Gegen 9:30 Uhr starteten wir den Versuch, den Gruppenraum mit den Tortenstückchen auf dem Teller zu betreten. Wir gingen auf leisen Sohlen (den Teller über dem Kopf haltend) zum leeren Frühstückstisch und setzten uns. Habt ihr schon einmal Dokumentationen über Tiere im Fernsehen geschaut? Zunächst schien keiner der Kinder bemerkt zu haben, was wir da auf den Tellern transportiert hatten. Doch es dauerte nicht lang und ich spürte ein Schnauben in meinem Nacken. Die Geier hatten das tote Aas entdeckt. Oder doch nicht? Es war Chayenne (5), die plötzlich an unserem Tisch erschien und uns anstarrte. Was wollte sie? Petzen? Etwas mitteilen? Erzählen, dass die Mama ein Baby erwartet? Fragen über Fragen. Immer noch starrten wir das Kind und es uns an. Die Kuchengabel wollte unbedingt in die Torte stechen und mein Hirn sendete unaufhörlich Signale aus: IssdenKuchenissdenKuchenissdenKuchenissdenKuchen…

„Was ist denn?“ fragte ich Chayenne schließlich. Schweigen. Das Kind gab keine Antwort und starrte unentwegt auf unsere Tortenstücke auf den Tellern. Es dauerte keine Minute, da erschien Kind Nr. 2 neben uns. Auch dieses Kind war sprachlos und schaute nicht uns, sondern unsere Kuchenteller an. So ging das immer weiter. Ähnlich wie wilde Hyänen, die mitten in der Abgeschiedenheit der Steppe das frische Blut eines toten Zebras erduften und sich dann im Pulk vor dem toten Aas versammeln.

Erst Kind Nr. 4 fand die Sprache wieder und rief: „Oh wie lecker, so eine Torte würde mir auch sehr gut schmecken!“ und ließ dabei seine Zunge in kreisenden Bewegungen über seine Lippen fahren.

Hier gibt es nichts zu sehen!

Der anfangs leere Frühstückstisch war mittlerweile völlig überfüllt. Die Kinder standen alle um uns herum, sodass wir uns wie die Beckhams zu Besuch in Nürnberg fühlten. Oder wie tote Zebras in der Steppe.

„So, jetzt geht mal wieder spielen!“ startete ich den Versuch, endlich in den Genuss der himbeerigen Versuchung zu gelangen. „Es gibt hier nichts zu sehen!“ ergänzte ich, als die kleine Meute sich nicht vom Platz bewegte. Keine Reaktion der Kinder. Verstohlen blickte ich zur Seite. Dort stand Marie. Aus ihrem offenen Mund rann eine leichte Spur des Geifers. Ich schaute zur anderen Seite und entdeckte Flori, der sich zeitlupenartig den Bauch rieb und immer wieder „lecker“ sagte. Der Appetit verging uns. Es macht wirklich keine Freude, etwas Leckeres zu essen, wenn man dabei von Kindern angestarrt wird, die so tun, als bekämen sie jeden Tag nur Brot und Wasser zu Essen. Diesen Gedanken äußerte ich schließlich auch vor den Kindern, indem ich sagte: „Die Anne und ich haben heute einmal einen Kuchen bekommen. Schön. Ihr habt hin und wieder auch mal Schokokekse, Milchschnitte oder ’nen Fruchtzwerg dabei. Abgesehen von den Gummibärchen, die ihr manchmal von uns ausgeteilt bekommt. Also geht nun wieder spielen und schaut uns bitte nicht beim Essen zu.“

Das war wirklich nicht fies und entsprach vollkommen der Wahrheit.

Anne und ich waren in solchen Sachen einfach zu zart besaitet. Ich weiß von der Nachbargruppe, dass die dortigen Erzieherinnen sich fast täglich Brezeln oder Kuchen vom Bäcker holen und diese vor den großen Augen der Kinder problemlos essen. So weit würden wir nicht gehen (Vorbildfunktion), aber hin und wieder darf so was schon mal sein. Mutiger geworden, hat Anne uns zwei Wochen später eine Leberkässemmel vom Metzger mitgebracht. Sie verheimlichte dies auch nicht groß, drückte mir die Metzgertüte in die Hand und verließ mich mit den Worten „Ich schau mal nach, ob wir noch Senf haben!“ in Richtung Küche. Mein Mund stand vor Erstaunen offen. Doch auch hier waren wir nach nur wenigen Minuten umringt von Kindern. „Schmeckt dir das guhuuut?“ fragte mich Kai und ließ das Brötchen in meiner Hand nicht aus den Augen. Tja, was soll man da sagen? „Du kannst doch zaubern“, flüsterte mir Anne augenzwinkernd zu. Ach ja, wie konnte ich das nur vergessen? „Kinder, es ist Aufräumzeit!“ Und schon waren wir alleine im Raum und das Suchspiel ging von vorne los….

Hattet ihr auch schon solche Erlebnissse? Als ich letztens in einem Supermarktcenter einkaufen war, bin ich fast über ein circa vierjähriges Kind gestolpert, welches sich schreiend auf den Boden gelegt hatte, um seinen Protest darüber, dass sein Vater ihm keinen „Schießburger“ kaufte, Ausdruck zu verleihen. Ich werd‘ jetzt mal Essen machen. Quiche Lorraine. Für Ralf vegetarisch und für mich mit Speck. Da kommen wir uns nicht in die Quere.

Habt eine schöne Woche.

Herzlichst Steph ❤

2 Kommentare zu „Futterneid

  1. Liebe Steph, ich kann diese kleinen hungrigen Wesen mit ihren Kulleraugen direkt vor mir sehen :-). Sehr süß. Ach übrigens, kannst du mal den Teller mit den Gummibärchen rüberschicken. Da hab ich jetzt so einen Appetit drauf. Alles Liebe, Monika

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