
Gerade Eltern werden es kennen: Das Kind, welches man eben vom Kindergarten abholte, erzählt nicht, was es dort erlebt hat. Mehreres Nachfragen ergibt nichts, das Kind pocht darauf, dass heute nichts passiert sei. Doch abends dann, wenn es im Bett liegt und die Eltern ihm noch eine Gute Nacht-Geschichte erzählen wollen, da bricht dann alles heraus. „Der Kevin hat heute beim Versteckenspielen nur bis 9 statt 10 gezählt!“ „Die Linda hat in die Hose gemacht und der Lars konnte nicht mitturnen, weil er seine Turnsachen nicht dabei hatte.“ Das Kind meiner Freundin hat gerade eine Phase, in der sie ihre Mutter abends im Bett nach dem Tod fragt. Wo komme ich hin, wenn ich tot bin und werde ich dann jemand anderes sein? Auch wenn diese Frage einem einen kleinen Hieb ins Herz versetzt, sie ist völlig normal für Kinder und es ist gut, dass sie sich und ihren Eltern diese Fragen stellen.
Die wunderbare Elisabeth Kübler-Ross, deren Bücher ich alle gelesen habe, schrieb einmal, dass wir eigentlich von Geburt an immer wieder Verluste erleben und lernen damit umzugehen. Es ist uns einfach nicht mehr bewusst….
Meine erste Kuschelliebe
Ich war zweieinhalb Jahre alt und hatte das Bett voll mit Kuscheltieren. Trotzdem konnte ich mich nicht für einen festen Kuschelkumpel entscheiden, ich mochte sie alle gleich. Wir wohnten in einem Mietshaus mit zwei Parteien. Unten wohnte Sabine mit ihrem großen Bruder und ihren Eltern, oben drüber wohnte ich mit meiner Mama und meinem großen Bruder. Sabine war zwei Jahre älter als ich und liebte es, sich um mich zu kümmern. In ihren Gedanken war sie die Puppenmutter und ich ihr Kind. Oft kam sie zu uns hoch, klopfte an die Tür statt zu klingeln und fragte aufgeregt, ob sie mich aus dem Mittagsschlaf aufwecken dürfe. An einem Tag hatte sie, die Vierjährige, ihr eigenes Kuscheltier dabei, als sie mich wecken kam. Meine Mutter zog in meinem Zimmer vorsichtig das Rollo hoch, Sabine schaute mich durch die Gitterstäbe meines Bettes an und schwupps hatte ich ihr Kuscheltier in den Händen. „Nein, du süßes Baby, das ist mein Kusseltier“, sagte sie in mildem Ton, als spräche sie zu einem Äffchen im Käfig. „Gib mir mein Kusseltier zurück!“ hörte man sie vehementer, als sie merkte, dass ich nicht gewillt war, es ihr zurückzugeben. Meine Mutter musste eingreifen, aber auch sie hatte keine Chance. Sobald mir dieses Tier, das keines war, entnommen wurde, brüllte ich, was meine Lungen hergaben. Es handelte sich dabei um einen Ernie. Er hatte einen gestreiften Pulli an, blaue Hosen, rote Schuhe, ein orangefarbenes Gesicht und schwarze Haare auf dem Kopf. „Du bekommst ihn später zurück“, beruhigte meine Mutter Sabine. Trotzig ging Sabine in den Hinterhof, wo sie den anderen Kindern schon von weitem „Die Sephi hat mein Kusseltier gekaut!“ zurief. Sie meinte wohl geklaut, aber mit dem Kauen hatte sie auch nicht unrecht. Ich kaute auf der roten Nase von Ernie herum, fasste ihm in seine schwarzen Haare und presste ihn auf meine Wange. Es wäre sicher einfacher gewesen, einem Affen im Zoo die Banane zu klauen, als mir meinen Ernie wieder wegzunehmen. Meine Mutter war verzweifelt, aber nicht ratlos. Sie wies meinen neun Jahre älteren Bruder an, auf mich aufzupassen, schwang sich auf’s Rad und fuhr hinunter ins Dorf, wo es ein „buntes Lädchen“ gab, in dem man so allerhand kaufen konnte. „Habt ihr noch einen Ernie?“ rief sie atemlos, als sie die Tür des Lädchens betrat. Kopfschütteln der Mitarbeiterinnen. „Aber wir hätten noch einen Bert“, sagte eine der Verkäuferinnen und meine Mutter holte schnell ihr Portemonnaie hervor, um mit Bert im Fahrradkorb nach Hause zu fahren. Sabine wollte aber Bert nicht, sie wollte ihren Ernie zurück, den ich nicht hergab. Es brauchte sehr viel Überzeugungsarbeit meiner Mutter, um Sabine klarzumachen, dass Bert auch geliebt werden wolle. Ab da war Ernie mein fester Freund. Mein Kuscheltier, das ich nie wieder loslassen wollte. Wir alterten gemeinsam. Irgendwann hing sein Arm nur noch an einem seidenen Faden, so abgeliebt war er. Meine Mutter nähte den Arm wieder an und es störte mich keineswegs, dass der Arm nun viel kürzer als der andere war. Seine Farbe verblich und die Haare fielen ihm aus. Trotzdem liebte ich ihn und wollte nirgends ohne ihn sein. Erst als ich zur Schule ging, kühlte sich unsere Beziehung ein wenig ab und irgendwann war er einfach nicht mehr da. Weitergereist…. Der erste kleine Verlust im Leben eines Kindes.
Der flockige Teppich
Mein Kinderzimmerteppich war rot, hatte große weiße Punkte und war sehr flockig flauschig. Wenn Sabine und ich Playmobil spielten, dann taten wir das stets bei ihr, denn auf meinem Teppich fielen die Figuren wegen der Flockigkeit des Teppichs immer um. Ich war jetzt ein Schulkind wie sie und mächtig stolz auf meine ausfallenden Zähne. Fünf Stück hatte ich bereits verloren. Aufbewahrt wurden sie in einem kleinen Holztöpfchen mit Deckel. ‚Meine ersten Milchzähne‘ stand darauf geschrieben. An einem hektischen Morgen vor Schulbeginn fiel das Töpfchen um und der Inhalt landete auf dem flauschig flockigen Teppich. Meine Zähne jetzt dort auf die Schnelle wiederzufinden war unmöglich machbar. Eher hätte ich eine Nadel im Heuhaufen gefunden. „Such ich später“, sagte ich mir mit abwinkender Hand und beeilte mich, zur Schule zu kommen. In der dritten Stunde, wir hatten gerade Rechnen bei Frau Klug, da hatte ich plötzlich so ein komisch unbeschreibliches Gefühl. Aber es konnte auch am Unterricht liegen. Mathematik war noch nie mein Freund. Wer hätte ahnen können, dass meine Mutter daheim den Staubsauger anschmiß, um mein Zimmer zu saugen, während ich Subtraktion lernen sollte? Sie wusste nichts von dem umgefallenen Töpfchen mit kostbarem Inhalt und so wunderte sie sich vermutlich auch nicht, als es fünf mal kurz klackte beim Saugen. Nun waren meine Milchis also das zweite mal weg. Das erste mal, als sie mir ausfielen und das zweite mal, als der Staubsuager sie fraß. Was ein Jammer…
Ich habe nichts verloren, sondern dazugewonnen
In den Jahren später merkte ich, wie es immer irgendein Verlust in meinem Leben gab und das wird auch anderen so ergangen sein. Der erste Liebeskummer und die damit verbundene Trennung, der Verkauf des ersten eigenen Autos, als Erwachsene zu groß für das Bällebad bei IKEA zu sein, der Umzug der besten Freundin in eine andere Stadt, die geliebte Jacke, die man auf einer Party vergaß, die nicht wiederholbaren Nächte, an denen wir illegal ins Schwimmbad eingedrungen sind, um zu baden, die zerbrochene Lieblingstasse und so weiter und so fort. Der Tod eines geliebten Menschen ist damit nicht zu vergleichen. Allerdings haben uns all diese kleinen Verluste, die wir schon wieder vergessen hatten, stärker gemacht und vielleicht haben sie uns auch vorbereitet auf die großen Ereignisse, die uns bevorstehen. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich bin dem Sarg meiner Tochter gefolgt. Nie wieder würde die Sonne so schön scheinen, nie wieder würde ich Freude empfinden können, die ewige Trauer würde von nun an mein Leben begleiten. Wie gut, dass ich nur beim letzten Satz recht behielt. Das Leben hatte noch etwas mit mir vor, das Kapitel war noch nicht zu Ende geschrieben. Ich besann mich auf etwas, was ich gut kann, und das war, mich anderen mitzuteilen. Die Erste, die das spüren konnte, war meine Kollegin Ruth. Sie war mir die Tage nach der Beerdigung immer wieder aus dem Weg gegangen, und das tat weh. Ich fühlte mich, als hätte ich eine schlimme, ansteckende Krankheit und so sprach ich sie an. „Es ist….naja…es ist, weil ihr euer Kind verloren habt“, sagte sie und schaute mir nicht in die Augen. „Aber wie kommst du denn darauf?“ fragte ich sie und lächelte. Damit sie nicht dachte, ich wäre nun wohlmöglich komplett durchgedreht, erklärte ich es ihr, so wie es unser Pfarrer uns erklärt hatte. „Nele ist längst bei Gott und auf Abrahams Schoß, wie kann sie da verloren sein?“ Und so meinte ich es auch. Verlieren kann man einen Autoschlüssel, den Schulatlas, die Buskarte oder sein liebstes Kuscheltier. Aber bei einem Menschen, der tot ist, weiß ich, wo er ist und das ist im Himmel. Jedenfalls sehen Ralf und ich das so und finden Trost. Schon auf der Trauerfeier fragte ich die Gesellschaft, die aus vielen Freund:innen, Angehörigen und Arbeitskolleg:innen bestand, ob sie nicht bitte aufhören könnten zu weinen? Denn in meinen Augen war Nele nun in einer anderen Welt voller Frieden und umgeben von großartiger Liebe. „Sie ist doch noch so klein und kann eure Tränen nicht verstehen, denn ihr geht es gut“, sagte ich und als ob es ein Zeichen von oben wäre, hörte es auf zu regnen und für einen kurzen Moment kam die Sonne hervor…
Wiedersehen
Wir werden uns wiedersehen und so wusste ich auch, wie ich meine Zeit hier auf Erden gestalten wollte. Nicht verbittert, missgünstig oder voller Wut. Mein Kind im Himmel soll stolz auf mich sein und so helfe ich anderen Menschen in Not, enagiere mich für die Rechte anderer, weine, wenn ich die Situation in überfüllten Flüchtlingslagern sehe, bin eine gute Zuhörerin und gehe seit dem Suizid meines Bruders in Therapie. Es gab immer wieder Situationen, die mich an meine Grenzen gebracht haben. Dass eine nahe Verwandte mir nicht kondolierte, weil sie meinen Bruder lange nicht gesehen habe, zum Beispiel. Was gibt man mir als damals an einer Depression erkrankten Person da für ein Gefühl zum Weiterleben? Aber ich bin – auch dank meines Verhaltenstherapeuten – über solche Situationen hinweg und gehe weiter mit viel Liebe und Sonne in meinem Herzen Schritt für Schritt weiter. Jeden Tag. Die Wunden heilen nicht, aber sie tun nicht mehr so weh. Anderen Menschen Gutes zu tun, hilfsbereit sein, ohne sich selbst zu vergessen und jemanden anzulächeln, auch wenn er es nicht tut, das sind Dinge, an denen ich unentwegt festhalte. Für Nele, für mich.
Elisabeth Kübler-Ross schreibt in ihrem Buch „Über den Tod und das Leben danach“ folgendes: Manch einer fragt: “ Warum müssen so wunderschöne Kinder sterben?” Die Antwort lautet ganz einfach, daß diese Kinder in ganz kurzer Zeit gelernt haben, was man lernen muß. Und das sind für verschiedene Menschen ganz verschiedene Dinge. Eines muß jeder lernen, bevor er zurückgehen kann, woher er kommt, und das ist bedingungslose Liebe. Wenn Sie das gelernt und praktiziert haben, dann haben Sie die größte Prüfung bestanden. (…) Die meisten Menschen sehen all ihre schwersten Lebensbedingungen, ihr Geprüftwerden, ihre Drangsale, ihre Schrecknisse und alle Verluste als einen Fluch an, als eine Strafe Gottes, als etwas Negatives. Wenn man doch nur begreifen würde, daß nichts, was einem begegnet, negativ ist, ich betone, ganz und gar nichts! Alle Schicksalsschläge, Leidenserfahrungen und selbst die größten Verluste, die man durchzumachen hat, auch alle Dinge, von denen man im nachherein sagt, “Wenn ich vorher davon gewußt hätte, würde ich nicht geglaubt haben, sie durchstehen zu können”, sind alles Geschenke. Wir können unser Schicksalsweh und Leid mit dem Schmieden des glühenden Eisens vergleichen. Es ist eine Gelegenheit, die einem gegeben wird, um seelisch zu wachsen. Dies ist der alleinige Grund unserer Existenz auf Erden. Man kann nicht seelisch wachsen, wenn man in einem wunderbaren Blumengarten sitzt und sich von jemandem auf einen silbernen Tablett das großartigste Essen servieren läßt. Aber man wächst, wenn man krank ist, wenn man Schmerzen hat, wenn man einen schmerzlichen Verlust entgegennehmen muß. Man wächst, wenn man nicht seinen Kopf in den Sand steckt, sondern wenn man den Schmerz annimmt und ihn zu begreifen sucht, und zwar nicht als einen Fluch oder eine Bestrafung, sondern als Geschenk für sich, um damit einen ganz bestimmten Zweck zu erfüllen.

Ich hoffe, dass dieser Text euch nicht traurig gemacht, sondern euch tröstet. Im Bezug zu meinem ersten Ernie, der irgendwann entschwand und nicht mehr auftauchte, bekam ich vor drei Jahren ein ganz besonderes Geschenk von meiner Mutter zum Geburtstag: Es trägt einen gestreiften Pulli, hat blaue Hosen an und rote Schuhe. Ihr wisst bestimmt, um wen es sich handelt, oder? 😉
Bleibt gesund oder werdet es. Verliert nicht die Hoffnung und lasst euch trösten. Nach Regen erscheint immer wieder die Sonne, so ist das ungeschriebene Gesetz des Himmels. Ich schicke jetzt ein paar Seifenblasen hoch zu Nele und danke meinem lieben Schwiegervater, der meine Seifenblasenmaschine in Nullkommanix wieder repariert hat.
Herzlichst eure Steph ❤
Passend zum Thema: https://stephistwach.wordpress.com/2019/04/11/weingummiteufel-und-der-liebe-gott/
Liebe Steph, danke für Deinen zu Herzen gehenden, berührenden Text! Jetzt verstehe ich auch meine Schwiegermama viel besser, als sie mir irgendwann nach dem Tode meiner geliebten Lynn liebevoll sagte: Du musst sie gehen lassen, Wörny, sie wartet ganz sicher dort oben auf Dich!
Und sie hat recht. 😍
Ganz liebe Grüße,
Werner
LikeGefällt 2 Personen
Aber ja lieber Werner, wenn unsere Zeit irgendwann gekommen ist, dann warten da Lynn und Nele und viele andere. Bis dahin sind wir hier auf Erden gute Menschen. Hab vielen Dank für deine Zeilen Wörny 😉 Steph 😘
LikeGefällt 1 Person
So schön geschrieben hast du das liebe Steph.
LikeGefällt 2 Personen
Danke liebe Monika 😘
LikeLike
danke für diese zu Herzen gehende Geschichte, Stephi
LikeGefällt 2 Personen
Ich danke Dir liebe Mama ❤
LikeGefällt 1 Person