Im Süßigkeitenrausch

Da will man nur mal eben eine regionale Kleinigkeit für eine Bekannte in einem XL-Supermarkt besorgen und dann steht man da vor einem Regal mit lauter Süßigkeiten aus der Kindheit. Schnappatmung. Herzrasen. Hektische Flecken im Gesicht. „Geht es Ihnen gut?“ fragt ein Mann vom Sicherheitsdienst, doch ich kann nicht antworten. Zuviel Spucke im Mund. „Alles gut!“ antwortet Ralf in meinem Sinne und leitet mich um die Ecke. Doch da sind noch weitere Regale mit noch viel mehr Süßigkeiten. Mein Mund klappt auf und bleibt so hängen wie eine kaputte Schublade. Ich fürchte, man wird mich spät am Abend hier raustragen müssen….

Ostern im Sommer

Weil ich ein Mensch bin, der sich gern selbst reflektiert, frage ich mich zu Hause, warum mich ein paar tausend Süßigkeiten so aus der Bahn werfen können. Ich bin schließlich keine Frau, die sich ständig etwas Süßes in den Mund stopft. Wenn meine Mutter mir alle vierzehn Tage eine Wundertüte mit Obst & Gemüse schenkt, dann putze ich Rosenkohl, schnabuliere Weintrauben und freue mich auf ein Tomatenbrot zum Frühstück. „Ach, ich bin nicht so der süße Typ“, sagte ich neulich noch zu meiner Freundin Clara, als wir im Hansapark waren und sie wissen wollte, ob ich auch einen Crêpe wolle. Ich würde eine Portion Pommes immer einem Stück Torte vorziehen, wenn ich wählen müsste und esse dennoch zu gerne Toffifee und Gummibärchen, allerdings in Maßen. In unserem Küchenschrank stehen noch Pralinen und zwei Tafeln Schokolade von Ostern. Weil man den Postangestellt:innen im Hochsommer nicht Osterpralinen zum Dank für den Aufstieg in den dritten Stock schenken kann, habe ich mich neulich aufgeopfert und diese (also die Pralinen, nicht den Postboten) vernascht, aber ich brauch das nicht jede Woche. Was war da also los im XL-Supermarkt?

Ahojbrause

Mit Sabine, meiner zwei Jahre älteren Freundin, die im gleichen Mietshaus wohnte wie ich, hatte ich als Kind sehr oft sehr viel Spaß. Wir sind zusammen gewachsen, sowohl körperlich als auch psychisch. Streitereien haben wir unter uns ausgemacht, Manchmal wusste meine Mutter gar nicht, warum ich früher vom Spielen draußen nach oben in die Wohnung kam. Wir fanden immer etwas Spannendes zu unserem eigenen Unterhaltungswert. Mal war es das Bauen eines Staudammes am Bach, mal Klickerspiele mit Glasmurmeln, mal das Reiten auf Mülltonnen, die unsere Pferde darstellen sollten. Wenn wir dann den ganzen Tag draußen spielten, freuten wir uns, wenn ihre oder meine Mutter uns aus dem Fenster aus zuwinkten und riefen, dass wir uns etwas Süßes abholen durften. Was für unsere Eltern früher ein Butterbrot mit Zucker war, das war für uns ein Strohhalm, gefüllt mit Brausepulver. Zuerst musste man einen scharfkantigen Schnipsel an den bunten Strohhalmen abbeissen und schon rieselte das Brausepulver entweder gleich in den Mund oder aber auf den Finger, wo es mit Freude von uns weggeschleckt wurde. Wir kreischten wie verrückt, wenn eine unserer Mütter Ahojbrause gekauft hatte und stritten um das leckerste Päckchen mit Himbeergeschmack, denn Zitrone mochte wir beide nicht. Im Grunde gab es bei den Süßigkeiten oder Schnuckekram, wie wir es als junge Hessinen nannten, schon ein paar Dinge, die wir nicht gerne mochten, aber wir nahmen mit, was wir kriegen konnten. So haben wir zum Beispiel mal einer Nachbrain geholfen, ihren entlaufenen Hund wieder einzufangen. Dankbar strich sie dem Hund durch’s Haar und uns durch’s Fell, kramte in ihrer Schublade und gab uns daraus eine Tüte Marshmellows. „Vielen Dank, sehr nett“, stammelten wir und gingen lächelnd rückwärts zum Gartentor. „Bäh, ich esse das nicht!“ sagte Sabine und streckte angeekelt ihre Zunge raus. „Ich auch nicht, schenkst du es mir!?“ fragte ich sie. „Was willst du denn damit, wenn du es nicht magst?“ fragte sie argwöhnisch mit den Händen in den Hüften und zugekniffenen Augen. „Ich will sie meinem Bruder schenken, der isst sie nämlich gerne“, sagte ich und bei diesem Codewort war ihr klar, dass ich es ernst meinte. Fünf Marshmellowwürfel wanderten von ihrer Hand in meine. Ich steckte sie in meine Hosentasche und freute mich, sie später meinem Bruder schenken zu können. Normalerweise überprüfte meine Mutter all die Wäsche, die in die Wachmaschine kam, aber dieses eine Mal muss sie es vergessen haben. So zog sie schließlich völlig verklebte Wäsche aus der Maschine und fragte uns, von wem der vergessene Kaugummi kam. Ich habe ihr nicht erzählt, dass es kein Kaugummi, sondern fünf Marshmellowwürfel waren. Kleben tut beides und meine Kinderserie fing an. Ganze dreimal musste die Wäsche nochmals gewaschen werden, bevor sie nicht mehr klebte und verbrannt süß roch.

Verpackungen

„Willst du auch mal abbeißen?“ fragte ich meine Mutter und hielt ihr die Milchschnitte vor die Nase. „Nee, das ist mir zu süß“, sagte sie und schüttelte den Kopf. Ich war fünf Jahre alt und mochte die Milchschnitte auch nicht. Es war die Verpackung, die mich reizte. An der Verpackung der Milchschnitte war nämlich ein dünnes rotes Band, und wenn man daran zog, öffnete sie sich. Das fand ich faszinierend. Die Oma meiner Freundin hatte uns vor kurzem eine große Dose „Quality Street“ mit bunt verpackten Bonbons gereicht. Blau, lila, grün und gold glitzerten die kleinen Bolchen, die mir überhaupt nicht schmeckten, aber unbedingt ausgepackt werden mussten. Ich fand es sehr verwunderlich, dass in dieser Dose Bonbons waren, denn meine eigene Oma bewahrte in ihr ihre Knöpfe und das Nähzeug auf. Die Chocolate Chips, die Mama mal für einen Fernsehabend kaufte, waren auch so toll verpackt, denn die Schachtel war oben wie eine Blume gefaltet, die ich zu gerne öffnete und schloß. Dextro Energen, Babybel, Milchschnitte, es gab vieles, was ich nicht aß, aber aufmachen wollte. Die Hüllen der After Eight Minztäfelchen sammelte ich auf Familienfesten ein und verwahrte sie in einem Karton unter meinem Bett. Völlig unwissend, was ich damit machen wollen würde, lagen sie da vor sich hin, bis sie einem Umzug zum Opfer fielen. Schon witzig, dass ich als Kind stets dachte, man dürfe After Eight erst nach acht Uhr essen. Man hätte mich als Kind locker als Testerin für Verpackungen arbeiten lassen können. In einem Fragebogen hätte ich dann ankreuzt, wie der Schweregrad des zu öffnenden Produkt gewesen sei. Leicht, schwer, mit den Zähnen oder gar nicht. Wobei es „gar nicht“ bei mir gar nicht gab. Ich fetzte alles auf und liess es dann liegen.

Wandertag mit Süßkram

Aber ich wollte ja über Süßigkeiten schreiben, die ich liebte. Viele davon gibt es zum Glück heute noch. Nippon zum Beispiel, diese kleinen Puffreisschokohäppchen, fand ich so lecker, dass ich mich daran auf einem Wandertag der Schule mal völlig daran „überfraß“. An Wandertagen packte unsere Mutter uns immer etwas Süßes in den Rucksack. Vielleicht fand sie Wandertage öde und wollte uns damit etwas Gutes tun. Wir gingen über Brücken und durch Wälder, stiefelten durch hohes Gras und knirschenden Kies, erklommen kleine Hügel und betraten Täler. Ich sah wenig von der Landschaft, da ich mich insgeheim fragte, wann wir eine Rast machen und ich entdecken würde, was sich meine Mutter für mich hat einfallen lassen. Meist war es eine Tafel Schogetten, die man nicht brechen musste, da jemand in der Fabrik sich schon die Mühe gemacht hatte, die Tafel in kleine Stücke aufzuteilen. Mit einer Tüte Himbeerbonbons konnte man mir den Tag verschönern. Sie sahen aus, als wären sie in eine Gugelhupfform gegossen. Himbeerrot und groß. Wenn man sich solch ein Bolchen in den Mund steckte, war erstmal eine halbe Stunde lang Ruhe, denn es war größer als zwei Daumennägel und so uneben beschaffen, dass man sich die inneren Wangentaschen regelmäßig beschädigte. Runde Kirschlollis, eckige PEZ-Bonbons oder Nappo in Rautenform, ich hatte sie alle. Am allerliebsten mochte ich die Erdbeerbonbons mit Füllung, bei der die Verpackung aussah, als wären dort wirklich Erdbeeren drin versteckt. Trillerpfeifen mit Traubenzucker waren ebenfalls ein Highlight meiner naschhaften Kindheit. Trällerierierie, Trällerierierie, Trällerierierie. Seltsamerweise verschwanden meine Trillerpfeifen immer kurz nachdem ich sie benutzt hatte auf unerklärliche Weise. „Die Kruste bleibt am Brot dran, denn das trainiert die Kaumuskeln!“ hatte meine Mutter bestimmt. Aber taten das die Storck Riesen mit Karamellgeschmack nicht auch? Mindestens zwei Milchzähne habe ich mithilfe dieser kleinen Würfel verloren und nicht bereut. Wir trainierten unsere Mundmotorik, in dem wir mit Hubba Bubba Kaugummis Blasen bliesen, ließen fruchtigen, bunten Knusperreis in unsere Münder rieseln und waren fasziniert von Knisterkaugummi, das lautstark förmlich in unseren Mundhöhlen explodierte. Im Kiosk gab es irgendwann Naschtüten für 20 Pfennige, und ich glaube, dass das so war, weil der Kioskbesitzer keine Lust mehr darauf hatte, dass man seine Zeit stiehlt, weil man sich nicht entscheiden konnte, was man für die eine D-Mark in der Hand alles haben wollte.

Der übergroße Lolli

Und dann gab es eine Zeit, da war ich auf Süßes gar nicht gut zu sprechen. Ich war sieben Jahre alt, seit drei Jahren im örtlichen Karnevalsverein und stand nun auf der Bühne mit einem Stock unter meinem Shirt. Der Stock steckte an meinem Rücken von den Schulterblättern bis zum Kopf. Am Ende des Stockes über meinem Kopf befand sich ein großer bunter Kreis aus Pappe, und dieser war in einer transparenten Knisterfolie eingepackt. Keine Frage, ich war ein großer Lutscher. Unsere Tanzlehrerin fand es eine tolle Idee, dass wir als Gruppe zusammen als Lollis auftraten und zum Lied „Lollipop“ der Chordettes die Beine schwangen. Ich habe immer so gerne in der Garde getanzt, aber da war ich das erste Mal am überlegen, mich dauerhaft krankzumelden. Der Holzstock stieß mir immer wieder in den Rücken, der Song verlor nach dem hundertsten anhören an Begeisterung und diese blöde Knisterfolie machte mich fast wahnsinnig. Ich war so glücklich, als der Aschermittwoch das Ende der Karnevalsaison einläutete.

Zurück im Supermarkt

Ich sehe Esspapier und grusele mich. „Das klebte immer so am Gaumen“, erkläre ich dem Ralf und greife zu den kleinen Kreisellollis mit dem Cowboy am Stiel, bevor ich Kaugummi aus der Tube und meine geliebten Tic Tacs mit Orangengeschmack in XL-Größe sehe. Auf der Fahrt nach Hause versuche ich im Auto zu verstehen, warum mich all diese Süßigkeiten und die damit verbundene Reise in die 80er Jahre so begeistert hat. Es waren die 80er Jahre. Mein Opa war im 2. Weltkrieg und kam mit schlimmen Erinnerungen nach Hause. Die Kinder, die meine Großeltern bekamen, sind zwischen 1947 und 1967 geboren worden. Es gab den Aufschwung, es ging den Leuten nach den Kriegsjahren ein wenig besser. Den Schrecken verdauen und weitermachen. Die 70er waren mit Aufbruchstimmung ein spannendes Jahrzehnt. Gefühlt aber waren es die 80er, in denen es allen unbeschwert gut gehen durfte. So ist zumindest mein Gefühl. Es gab einen großen Überfluss an Dingen, die man nicht brauchte, aber unbedingt haben wollte. So wie ich, die nun im Auto sitzt und Kaugummis aus der Tube isst. „Blasen machen kann ich noch“, sage ich zu Ralf, und während sich eine gigantische Apfelgeschmackblase wie ein aufgepusteter Luftballon aus meiner Mundhöhle erstreckt, vergesse ich leider, dass wir nicht mehr in den 80ern, sondern in 2021 leben. Denn ich habe meine Maske noch auf, als die Riesenkaugummiblase platzt und nun in meiner Maske klebt. Früher Marshmellows in den Hosentaschen, nun Kaugummi in der Maske. Und die Tic Tacs in der Riesendose? Sind mir heute viel zu süß. 😉

Herzlichst eure Steph ❤

4 Kommentare zu „Im Süßigkeitenrausch

  1. Liebe Steph, das kenne ich noch von früher. wir hatten gegenüber der Grundschule einen Laden mit Malerbedarf, aber die waren wirklich clever und hatten all die herrlichen Süßigkeiten an der Theke . So ist mein gesamtes Taschengeld in deren Kasse gewandert, ich sage nur Leckmuscheln. Auch ich konnte am Wandertag kaum erwarten bis es endlich eine Rast gab und ich in meinen kleinen karierten Rucksack schauen durfte.
    Sunkist, kleines Würstchen und eine kleine Packung Kekse ganz für mich alleine.
    Schöne Erinnerungen an eine schöne Kindheit.
    Dir noch einen schönen Sonntag liebe Grüße Annette

    Gefällt 1 Person

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