Leuchtturm

Neulich abends, als wir zusammen im Wohnzimmer saßen und Ralf gerade dabei war, runde Hölzer in Leuchttürme zu verwandeln, um sie als Schlüsselanhänger zu gestalten, da kam mir eine schöne Erinnerung aus meiner Kindheit zurück. Sie hat mit Inklusion zu tun, mit der Erziehung meiner Mutter, mit selbstlosen Taten, leeren Batterien und Karl.

Karl mit dem Radio

Der Ort, in dem ich aufwuchs und bis zu meinem 10. Lebensjahr lebte, war unterteilt in das Oberdorf oben auf dem Berg und das Unterdorf unten am Fuße des Flusses Fulda. Wir lebten oben, gingen aber zum Einkaufen, zum Gottesdienst oder zu Vereinsaktivitäten oft ins Unterdorf. Dort unten neben der Klosterkirche, in der ich im Alter von zwei Monaten getauft wurde, gibt es noch heute eine Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. Ich fand es als Kind mit einem ausgeprägten Gemeinschaftssinn merkwürdig, dass dieses Haus da unten an einer Landstrasse gelegen weit weg war von allen anderen. Um so mehr freute ich mich, wenn wir im Oberdorf an manchen Tagen den Karl* (Name geändert) sahen. Karl war gefühlte 30 Jahre alt und lebte in der Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. Unverkennbar war sein Gang. Es sah immer ein wenig so aus, als wolle er eine Treppe herauf gehen, wenn er einen ausholenden Riesenschritt nach dem anderen machte. In seiner rechten Hand hatte er stets ein Kofferradio, welches er sich dicht ans Ohr hielt. Dazu wippte er rhythmisch mit dem Kopf. Das Erste, was mir auffiel, als ich Karl das erste Mal in unserer Straße sah, waren seine unendlich vielen Schlüsselanhänger, die an seinem Radio baumelten. Flauschige Kuscheltiere, ein Zauberwürfel in Miniformat, der Essotiger, ein kleiner Globus, ein Turnschuh, ein Kamm bildeten nur eine kleine Anzahl der Anhänger, die er an seinem Radio festgemacht hatte. Es hatte einen Grund, wenn er zu uns in die Straße kam und jeder kannte ihn. Er brauchte neue Batterien. Zu diesem Zweck hatte meine Mutter in der Flurschublade immer ein paar neue Batterien liegen, die wir ihm bringen sollten, wenn er rief. Ich habe meine Mutter nie gefragt, was Karl hatte, weil es mir als unwichtig erschien. Er war da und brauchte etwas. Das war alles. Anders war es gewesen, als ich mit vier Jahren im Supermarkt eine Frau sah, die nur noch ein Bein hatte. Ich wollte sie nicht so anstarren, wie ich es getan hatte, es war nur so, dass ich zuvor in meinem Leben noch nie einen Menschen mit nur einem Bein gesehen hatte und mein noch wachsendes Gehirn wollte sich das einprägen. „Was starrst du mich denn so an?“ keifte die Frau mich damals an, was zur Folge hatte, dass ich mich ordentlich schämte und lange Zeit extra wegschaute, wenn ich Menschen im Rollstuhl oder mit Krücken oder mit verkürzten Armen sah. Bei Karl war das anders. Er war anders und das wurde von uns völlig vorbehaltlos akzeptiert. Ich weiß noch genau, wie ich mit Sabine auf einer Ortsveranstaltung war. Sabine war zwei Jahre älter und wohnte im gleichen Haus wie ich. Der hessische Rundfunk war auf dieser Veranstaltung und schenkte uns einen Schlüsselanhänger. Es war die Figur des Onkel Otto, einem kleinen, grauen Fernse(e/h)hund, der eine HR-Antenne auf dem Kopf trug. Ich war total verrückt nach Onkel Otto, den ich abends oft zwischen den Werbeblöcken im Fernsehen sah. Und trotzdem wusste ich, dass ich diesen schönen Schlüsselanhänger nicht behalten würde, denn ich wusste, dass Karl ihn noch nicht besaß und das würde ich ändern. Freude schenken ist etwas, das ich noch heute zu gerne tue.

Ein kleines Dorf

30 Jahre später stand ich mit 14 Frauen auf dem Gelände der Vorwerker Diakonie und hakte die Anwesenheitsliste ab. Die Vorwerker Diakonie begleitet in Lübeck und Umgebung Kinder und Jugendliche, Familien, Menschen mit Beeinträchtigungen, Erwachsene in schwierigen Lebenssituationen sowie Seniorinnen und Senioren. Wenn man die Vorwerker Diakonie betritt, hat man das Gefühl, ein eigenes kleines Dorf zu besuchen. Es gibt eine Schule, einen Kindergarten, sehr viele Werkstätten, ein Reithalle mit Pferden, einen Supermarkt, eine Bäckerei und vieles, vieles mehr. Auch wenn man keine Angehörigen dort hat oder nicht selbst dort arbeitet, darf man gerne frisches Brot, selbsthergestellten Käse oder andere Handwerkskunst dort erwerben. Man wisse zwar, dass man wie ein Dorf wirke, wolle aber darin nicht isoliert sein, sagte mir mal eine angestellte Mitarbeiterin. Jährlich veranstaltet die Einrichtung ein großes Martinsfest Anfang November, wo das gesamte Gelände wie ein kunterbunter Rummel wirkt. Es gibt Bratwürstchen im Brötchen, Hüpfburgen und Karussells für Kinder, Kunst im Gewächshaus und überall kleine Stände, wo man Handwerkliches aus Holz oder Keramik erstehen kann. Wenn ich durch unsere Wohnung gehe, sehe ich vieles, was Ralf und ich dort gekauft haben. Nun stand ich also mit 14 Frauen dort und das hatte einen Grund. Ich arbeitete als pädagogische Mitarbeiterin in einem Projekt, welches sich „Lübecker Stadtmütter“ nennt. In sechs Monaten wurden die Lübecker Frauen aus Ursprungsländern aus der ganzen Welt von mir und einer Kollegin zu verschiedenen Themen unterrichtet. Die Themen waren unter anderem: Recht, Gesundheitsfürsorge, Präventionen zur Gewalt, Menschen mit Behinderungen, Entwicklungspsychologie und Medienerziehung. Ein Ziel des Projektes war, dass die Frauen nach dem sechsmonatigen Kurs bestens unterrichtet sind, was die genannten Themen angeht und darüber hinaus alle Anlaufstellen in Lübeck kennen. Mit diesem Wissen würden sie anschließend Freund:innen, Nachbar:innen, Menschen aus ihrem eigenen Kulturkreis aufsuchen und ihnen in ihrer Sprache Wissenswertes erläutern können. Hilfe zur Selbsthilfe quasi. Wegweiserinnen für andere. Es war eine so schöne Tätigkeit, bei der auch ich allerhand lernte.

Zusammen weinen, zusammen lachen

Die Vorwerker Diakonie war Kooperationspartnerin unseres Projektes und stellte für die Unterrichtseinheit „Menschen mit Behinderungen“ eine Mitarbeiterin zur Verfügung, die uns sehr viel Wissenswertes vermittelte. Ich kann mich noch gut an die erste Stunde erinnern, in denen die Frauen aus meinem Projekt gefragt wurden, ob sie selbst eine Behinderung/Beeinträchtigung besäßen. 14 Frauen schüttelten mit dem Kopf. Da zeigte die Mitarbeiterin auf alle, die eine Brille trugen und sagte, dass sie sehr wohl eine Beeinträchtigung hätten, denn ohne die Brille würden sie nicht gut sehen können. Eine Sehbehinderung also. Uns wurde außerdem der Unterschied zwischen einer Krankheit und einer Behinderung erklärt (ersteres geht wieder weg, Behinderung bleibt) und in verschiedenen Aktionen konnten wir im Selbstversuch erleben, wie es ist, wenn man entweder nicht sehen, nicht laufen oder nicht hören kann. Ich habe mit vielen Kursen die Vorwerker Diakonie besucht und jeder Termin dort war etwas Besonderes, denn „meine“ Frauen luden mich in ihre Welt ein. Neema zum Beispiel fing plötzlich an zu weinen. Als ich sie fragte, was sie habe, erzählte sie mir, dass sie noch nie so viele Menschen jeden Alters mit Beeinträchtigung gesehen hätte. In dem Dorf auf dem Kontinent Afrika, in dem sie aufgewachsen war, wurden Babys mit Behinderungen umgebracht. Da weinte ich mit ihr. Ich glaube, dass alles, was uns zunächst fremd ist, dazu führt, dass wir Angst haben. Aber wovor? Schon kam Peter (50) um die Ecke. Er lebte im betreuten Wohnen auf dem Gelände und arbeitete als Gärtner. Peter kannte ich schon von meinen vorherigen Besuchen. Wie ich hat er rote Haare und jedes Mal, wenn wir uns begegnen, flippt er schier aus vor Freude. Dann zeigt er auf seine und meine Haare, sagt „Rote Haare sind schön!“ und klatscht in die Hände. So war es auch bei diesem Rundgang. Er sah mich, kam auf mich zu und griff mir ins Haar. „Oh Peter, ich mag das nicht so gerne, denn es tut mir weh“, sagte ich freundlich. „Rote Haare sind schön!“ flötete er. „Meine sind schön und deine sind schön.“ Ich lachte, denn es war ihm mal wieder gelungen, die Frauen, die ich mitbrachte, auf wunderbare Art für sich zu gewinnen. Das Eis brach, die Frauen verloren ihre anfängliche Angst und bauten Vorurteile ab. Eine jede von ihnen durfte dann noch für eine halbe Stunde in einer der Werkstätten hospitieren, bevor wir wieder nach Hause fuhren.

Nachbesprechung

Bei der Nachbesprechung am nächsten Tag erzählten mir die Frauen, wie sie den Besuch bei der Vorwerker Diakonie empfunden hatten. Sie hatten nicht nur eigene Erfahrungen machen können, sondern auch einiges gelernt. Über das Recht auf Bildung und Teilhabe zum Beispiel. Oder auch, dass Deutschland nicht immer so human mit Menschen umgegangen sind, die mit Behinderungen zur Welt kommen oder diese durch einen Unfall bekommen. „In Polen machen wir die Dinge meist mit uns alleine aus. Ich finde es toll, dass die Diakonie so viel Hilfe bietet“, sagte Agnesa. „Ich finde die Arbeit dort so spannend, ich würde gern ein Praktikum dort machen“, erzählte Ayat aus dem Libanon. Auch Neema berichtete den Frauen, was sie mir zuvor erzählt hatte und brachte die Frauen dazu, dass sie wütend wurden. Sie alle hatten sich zuvor kaum bis wenig mit Menschen, die eine Behinderung haben, auseinandergesetzt, doch nun, wo sie viele kennengelernt haben, brach es ihnen das Herz, sollte jemand diesen Menschen etwas antun. Sie sind durch den Besuch stärker geworden. Stärker in ihrer Meinung, dass jedes Leben lebenswert ist und kein Mensch das Recht haben sollte, andere Menschen zu behindern, auszugrenzen oder über das Leben eines anderen zu urteilen. Auch ich erzählte den Frauen von einem Erlebnis. Ich war gerade im dritten Jahr meiner Ausbildung zur Erzieherin, da kam mein Schulleiter in unsere Klasse und fragte, wer von uns an bestimmten Wochenenden freie Kapazitäten habe. Es ginge um eine Betreuung junger erwachsener Menschen mit Beeinträchtigungen. Deren Eltern würden gerne eine Fortbildung besuchen und da braucht es jemanden, der auf ihre Kinder aufpasst. Insgesamt waren es zwölf Eltern und zwölf Kinder. Mit ein paar Klassenkamerad:innen meldete ich zur Betreuung an. Ich sollte mich um Sarah (19) und Maria (21) kümmern. Sarah war blind und saß im Rollstuhl. Hinten in ihrem Gepäcknetz hatte sie ein „Mensch ärgere dich nicht“-Spiel, welches sie sofort bei unserem ersten Zusammentreffen auf den Tisch packte. „Ich war damals noch jung und nicht so erfahren wie jetzt“, berichtete ich den Frauen. Deswegen dachte ich wohl, ich müsse Sarah beim Spielen absichtlich gewinnen lassen. Wie geht das überhaupt, mit einer blinden Person „Mensch ärgere dich nicht“ spielen?“ unterbrach mich Elif. „In dem Spiel gab es Vertiefungen, damit Sarah wusste, wo sie ihre Figur hinstellen musste, und der Würfel hatte Punkte/Augen, die ganz tief in den Würfel eingefräst waren, damit Sarah ertasten konnte, welche Zahl sie gewürfelt hatte“, erklärte ich. Im Endeffekt beherrschte Sarah das Spiel. Sie gewann drei Mal nacheinander und ich selbst lernte, dass es falsch war zu denken, ich müsse sie gewinnen lassen, weil sie nicht sehen konnte. „Und genau darum geht es“, begann ich. „Ein Miteinander in Ehrlichkeit, Förderung und Teilhabe.“ Zum Schluß hätte ich gerne von Karl erzählt, aber damals ist mir das Erlebnis gar nicht in den Sinn gekommen. Daher freue ich mich nun, dass ich mich an ihn erinnere. Was wäre das für ein schönes Leben, wenn man nicht über geistige oder körperliche Beeinträchtigungen reden oder urteilen, sondern wie meine Mutter sagen würde: „Der Karl ist da und braucht Batterien. Bringt ihm die mal.“

Herzlichst Steph ❤

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