Kindergedankenwelt

Original-Selbstbildnis von Steph aus dem Jahr 1983 – MIT Bauchnabel

In die Gedankenwelt der Kinder abzutauchen, kann so schön sein. Ich befand mich in meinem ersten Ausbildungsjahr zur staatlich anerkannten Erzieherin, da beobachtete ich zwei fünfjährige Mädchen beim Spielen mit ihren Puppen. Folgender Dialog entstand:

Anna: „Toll wie die Haare an der Puppe festbleiben, nee?“

Birte: „Ja das ist toll. Das ist nämlich wie bei uns Menschen.“ Gespannt lauschte ich weiter.

Anna: „Unsere Katze hat manchmal Haarausfall.“

Birte: „Die ist ja auch kein Mensch. Bei Menschen fallen die Haare nicht aus!“

Anna: „Bei meiner Oma schon. Und die ist ein Mensch.“

Birte: „Nee, weil…weisst du warum? Weil…“ Sie nahm ihre Puppe, strich ihr die Haare zur Seite und zeigte auf die Punkte der Plastikkopfhaut, bevor sie antwortete: „Wir Menschen haben Löcher im Gehirn und da wachsen dann die Haare raus.“ Schmunzelnd schrieb ich mir diese für mich neue Nachricht in mein Notizblock, wo ich sie heute wiederfand und schon ratterte es in meinem Gehirn. Da gab es doch noch mehr. Wie hatte ICH die Welt eigentlich gesehen, als ich ein Kind war?

Dead Man Walking

Der Mann, mit dem meine Mutter zwei wunderbare Kinder hat, war in unserem Alltag nicht oft zugegen und das war sehr oft auch besser so. Ich musste mal mit ihm zum Kleidung kaufen zu C&A und sah, als wir den Laden betraten, zum ersten Mal eine Schaufensterpuppe. Nicht nur eine, es waren ganz viele. Sie hatten Perlenketten um den Hals, Strohhüte auf dem Kopf und bunte Blumenkleider an. Als haptischer Mensch wollte ich diese ungewöhnlichen Figuren anfassen, um sie besser begreifen zu können. Schon der Reformpädagoge Friedrich Fröbel sprach davon, dass Kinder be-greifen müssen, um begreifen zu können. Doch nicht mit diesem Mann an meiner Seite. „Wenn du die Puppen anfasst, laufen sie dir hinterher!“ sagte er und damit war bei ihm alles gesagt. Ich hatte diese Schaufensterdinger nicht anzurühren. Angstvoll hielt ich mich jahrelang an dieses Verbot.

Frust kommt auf, denn der Bus kommt nicht

In einem weiteren Erlebnis waren wir wieder in der Stadt unterwegs. Der Mann, mit dem meine Mutter zwei wunderbare Kinder hat, wollte einen Film in der Videothek ausleihen und Essen vom Grillimbiß holen. Doch in der Stadt gab es viele Baustellen und wir wurden in eine Straße umgeleitet, in der mir etwas sehr seltsam vorkam. Da standen ganz viele Frauen mit ganz wenig an an der Straße herum und winkten den vorbeifahrenden Autos zu. Ihre Münder waren kirschrot angemalt, sie hatten auftoupierte Haare und glitzernde, hochhackige Schuhe. So sah meine Mutter nicht mal an Karneval aus. Manche der Frauen hatten lange Mäntel an, die sie kurz aufzogen, sobald ein Auto an ihnen vorbeifuhr. Darunter trugen sie Sachen, die aussahen wie zu kleine Bikinis. „Was machen die Frauen da?“ fragte ich von der Rückbank her. Es war Winter und sehr kalt draußen. Ich verstand nicht, warum die Frauen so wenig Kleidung anhatten und warum sie die Straße rauf und runter spazierten. Die lapidare Antwort, mit der ich mich als Kind zufrieden geben musste, lautete: „Die warten auf den Bus!“ Man, taten die mir leid. Der Bus schien lange nicht zu kommen. Abends im Bett erzählte ich meiner Mutter von den Frauen, die in der Kälte auf den Bus warteten und so wenig anzuziehen hatten. Da ließ sie unsere abendliche Krankengymnastik im Bett ausfallen, setzte sich zu mir auf die Bettkante und erzählte mir, dass diese Frauen ihren Körper für Geld verkauften. Wie bitte? Wie sollte denn das von statten gehen? Wie kann man denn seinen Körper verkaufen, da ist doch noch der Kopf mit den ganzen Gedanken drin dran. Ich gab mich mit dieser Antwort erst einmal zufrieden, doch als das Licht aus war, überlegte ich, wie sie das anstellten. Ob sie wohl ihren Kopf wie diese Schaufensterpuppen abschrauben könnten, während ihr Körper verkauft wurde? In meinen Kindergedanken war die Seele eines Menschen in seinem Kopf und der Rest war eben der Körper. Und warum verkauften sie den überhaupt? Alle im Haus schliefen, während ich darüber nachdachte, wie gerne ich die schnellen Beine von Markus haben wollen würde. Beim Fangen gewann der nämlich immer. Ich hingegen war so klein und gelenkig, dass mich die Nachbarschaftskinder häufig einsetzten, wenn sie ihren Schlüssel vergessen hatten und nur durchs halb geöffnete Kellerfenster wieder in ihr Haus kamen. Könnte mir Markus seine Beine verkaufen? Und was könnte ich ihm dafür geben? Die wichtigste Frage war: Ab wann müsste ich ihm seine Beine wieder zurückgeben, gab es da eine Frist? Im Dunklen liegend musste ich zusätzlich daran denken, dass ich vor kurzem im Fernsehen „Timm Thaler“ gesehen hatte. Der hatte sein Lachen an einen Mann namens Baron de Lefouet verkauft und dachte zunächst, das wäre toll, da er im Gegenzug zu dem Verkauf nun jede Wette gewann. Doch er lernte schnell, dass es nicht schön war, nun nicht mehr aus froher Kehle herzhaft lachen zu können. Ach wie schlimm, dass alles anfänglich Gute dann doch was Doofes hat.

Woher die Bauchnabel kommen…

Eine Bekannte erzählte mir mal, sie habe als Kind geglaubt, dass alles, was ihre schwangere Mutter aß, dem Baby in ihrem Bauch auf den Kopf fällt. Sie wollte daher durchsetzen, dass ihre Mutter nie heiße Suppe, sondern warme Fruchtjoghurts aß, damit es dem Baby nicht weh tut. Ich selbst war als Fünfjährige mal bei einer Kindergartenfreundin zu Gast und half ihrer Oma beim Plätzchenbacken. Die Oma stupste bei jedem runden Plätzchen einmal mit dem Zeigefinger in die Mitte hinein und sagte: „So, jetzt sind sie fertig.“ Ab da war ich mir lange Zeit sicher, der liebe Gott habe das bei mir auch gemacht. Ganz bestimmt hatte er mir auch den Finger in den Bauch gesteckt, „So, jetzt biste fertig“ gerufen und mich auf die Welt geschickt. Aus welchem Grund sollte ich sonst einen Bauchnabel haben? Und dann war da ja noch die Sache mit dem wachsen. Es war im Sommer, als meine Mutter die vielen Pflanzen von der Wohnzimmerfensterbank nahm und sie nach draußen auf den Balkon stellte. „Der Regen wird ihnen gut tun, dann wachsen sie besser“, sagte sie und schloß die Balkontür wieder. Ich, die das kleinste Kind meiner Altersgruppe im Kindergarten war, dachte: „Was bei Pflanzen geht, kann bei mir ja nicht schlecht sein“, und schon dachte ich mir eine List aus, wie ich im Regen ein bisschen umher tanzen könne. Da passte es sehr gut, dass seit geraumer Zeit ein neues Zelt in unserem Garten stand. Es war quietschbunt und hatte runde Fenster aus dicker, durchsichtiger Folie. Wenn ich mein Gesicht ganz dicht an die runden „Fensterscheiben“ drückte, standen mir die Haare zu Berge, da ich statisch aufgeladen war. „Ich geh ins Zelt, spielen“, rief ich meiner Mutter zu und rannte die Treppen zum Garten hinunter, ohne ihre Antwort abzuwarten. Natürlich war ich nicht im Zelt. Ich drehte mich tanzend im Kreis und genoß den warmen Sommerregen, der mich wachsen lassen würde. Immer, wenn meine Mutter aus dem Fenster sah, um zu schauen, was ich machte, befand ich mich im Zelt und machte Faxen durch die „Fensterscheibe“. Sobald sie wieder weg war, fuhr ich fort mit meinem Regenwachstumstanz. Als ich Stunden später wieder in unsere Wohnung kam, stellte ich mich sofort an meinen Türrahmen und wies meinen großen Bruder an, mich mit dem Metermaß aus Mamas Nähkästchen zu messen. Man, was war ich enttäuscht darüber, keinen Zentimeter gewachsen zu sein… „Du wirst noch schnell genug groß werden. Dann heiratest du und…“ „Heiiiiraten? Ich? Niemals nie nicht!“ rief ich entgeistert. Vor kurzem waren wir auf einer Hochzeit gewesen. Es gab Rehbraten mit Rotkraut und Klößen. In meiner Vorstellung gab es auf allen Hochzeiten Rehbraten zu essen und weil der Mann mit dem meine Mutter zwei wunderbare Kinder hat, stets meinte, es wird gegessen was auf den Tisch kommt, sah ich mich schon im Brautkleid traurig ein Bambi herunterwürgend am kopf der Hochzeitstafel sitzen. Das wollte und konnte ich nicht. Dann eben keine Heirat! Basta!

Fakenachrichten

Aber es ist ja nicht nur so, dass Kinder eine lustige Sicht auf die Welt haben. Ein Jugendfreund erzählte mir mal, dass seine Großeltern sich immer ganz schick gemacht hätten, bevor sie den Fernsehapparat anschalteten. Sie waren der Meinung die Frau oder der Mann aus den Abendnachrichten könnten sie zu Hause sehen, daher tauschten sie Kittelschürze und Jogginghose gegen Abendsakko und Kleid mit Brosche. Und wie war das mit meiner Schulfreundin Miriam aus der 11. Klasse? Weil unser Lehrer davon sprach, dass es in der tiefsten Stelle des Meeres, dem Mariengraben, vermutlich Lebewesen gibt, dachte sie, dass da unten Menschen fröhlich umherspazierten. Ob sie wohl auch heute noch glaubt, dass unten im Meer Spongebob Schwammkopf in einer Ananas lebt? Aber in einer Welt, in der manche Erwachsene glauben, dass Nanoroboter im Inneren der Körper Geimpfter deren Blutadern durchschneiden, um sie auszurotten, ist wohl alles möglich. Zurück zur Kindheit: Dass der Fernseher auch gut funktioniert, wenn es nicht regnet, bekam ich schnell von selbst raus, und das einem ein Kirschbaum im Bauch wächst, sobald man Kirschkerne runterschluckt, habe ich ebenso schnell als Fakenachricht enttarnt. Zum Glück hat mir meine Mutter solch einen Quatsch nie erzählt, denn so konnte ich die Nachbarskinder über diesen Mumpitz schnell aufklären. Allerdings beschäftigten mich andere Dinge… Warum war der Laden namens „Reifenmontage“ nur montags geöffnet? Warum durfte man in einer Es(S)-Bahn nichts essen und woher kamen die Stimmen aus dem Radio? War das nicht eng da drin? Zu dieser Zeit lief bei uns daheim die Kassette mit dem Lied von Rolf Zuckowski rauf und runter. „Hey, du da im Radio, wie geht’s dir denn heut‘ morgen?“ Natürlich kann Erkenntnis auch hart sein. Als ich als Sechsjährige mal im Fernsehen hinter die Kulissen einer Bugs Bunny-Sendung schauen konnte und dort merkte, dass Bugs Bunny nur gezeichnet und somit nicht echt war, war ich drei Tage lang verwirrt und traurig. Allerdings war es auch tröstlich, zu merken, dass es die olle Hexe aus den Märchen der Brüder Grimm nicht in Wirklichkeit gab und der Nachbar sich jedes Jahr so eine große Mühe gab uns weiszumachen, er sei der Weihnachtsmann. 😉

Ach, es war mal wieder richtig schön, in der Erinnerung zu kramen und lustige Ansichten hervorzuholen. Vielleicht habt ihr ja auch solche Erinnerungen? Lasst es mich gern wissen. Nun wünsche ich euch ein schönes Wochenende beziehungsweise einen guten Wochenstart und grüße euch

herzlichst, Steph ❤

2 Kommentare zu „Kindergedankenwelt

  1. Liebe Steph, ich würde ja gerne auch etwas in dieser Art schreiben aber ich habe nicht annähernd so tolle und so intensive Kindheitserinnerungen, wie du. Es ist immer wieder eine große Freude, deine Beiträge zu lesen. Liebe Grüße aus dem kühlen aber sonnigen Süden, Monika

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