
Als noch sehr junges Kind hatte ich eine blühende Phantasie. Und weil man in meiner Familie über bestimmte Dinge nicht gerne sprach, reimte ich mir was zusammen. Die Dinge, über die man nicht gerne sprach, hatten mit dem Krieg zu tun, aber das wusste ich damals noch nicht. Wenn man hinter vorgehaltener Hand davon sprach, dass mein Großvater vor langer Zeit hatte flüchten müssen, war für mich die Sache klar. Meine Großmutter hieß tatsächlich Gretel, und so war mir klar, dass sie vor langer Zeit bestimmt im Haus der fürchterliche Hexe gefangen gehalten wurde. Dann kam mein mutiger Opa um die Ecke und rettete sie. Das fand die Hexe doof und deswegen suchte sie nach ihm. Zack. Bumm. So einfach war das.
Dass es allerdings in Wirklichkeit ganz anders war, erfuhr ich erst Jahre später…
Der Beginn einer großen Liebe
Als ich meine Großeltern mütterlicherseits kennenlernte, war ich vier Jahre alt. Sie waren mit der Partnerwahl meiner Mutter nicht einverstanden. Vermutlich spürten sie, dass der Mann, mit dem meine Mutter zwei wunderbare Kinder haben würde, einen schlechten Charakter hatte. Sie wollten diesen Mann jedenfalls nicht mehr sehen. Dennoch war die Sehnsucht groß und an einem schönen Sommertag entschloß sich meine Mama, dass die beiden mich kennenlernen sollten. Zusammen mit mir und meinem dreizehnjährigen Bruder fuhr sie die 400 km zur Ostseeküste. In der Siedlung, in der meine Großeltern ein eigenes Haus besaßen, öffnete sie die Tür und nahm mich aus dem Kindersitz. „Da hinten“, sagte sie und zeigte auf ein großes Haus mit Tannenbaum im Garten, „da sitzt dein Opa auf der Terrasse. Lauf hin und begrüß‘ ihn!“ Das brauchte sie mir nicht zweimal sagen. Ich lief geschwind wie der Wind die Straße entlang, bog in die Auffahrt ein und rief mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht: „Opa, Opa!“ Da entdeckte er mich. Eine kleine Version seiner ältesten Tochter. Rote Haare, blaugrüne Augen und ein Lachen, das vom linken zum rechten Ohr reichte. Sofort sprang er von seinem Stuhl auf, breitete seine Arme aus und rannte mir entgegen. Das war der Beginn einer großen Liebe…
Der Hund war’s!
Auch meine Oma war eine Frau voller Liebe. Aber sie war auch ein bisschen streng. In der ersten Woche, in der ich bei ihr und Opa war, sagte sie Sachen wie „Tapeten fasst man nicht an“, „Man isst nicht nur das Fleisch, man isst von allem etwas“, „Im Haus trägt man Puschen (Hausschuhe)“ oder „Zum Pupen geht man vor die Tür“. Gerade mit letzerem hatte ich echte Probleme. Denn ich wusste manchmal gar nicht, dass ich pupsen musste, wenn es passierte. Ein paar Mal versuchte ich es dem Familienhund Foxy in die Schuhe zu schieben und vergass dabei, dass meine liebe Omi sechs Kinder großgezogen hatte und sich mit Lügen ziemlich gut auskannte. Ich fand es nicht so schlimm, das sie so streng war. Das kam bestimmt von der Hexe im Lebkuchenhaus, bei der sie ein paar Tage wohnen musste, die Arme. Ich hielt sie ordentlich auf Trab, was ihre Durchsetzung von Regeln anbetraf und schreckte nicht davor zurück, sie anzulügen, wenn ich morgens ungewaschen in die Wohnstube kam, um meinem Opa einen Guten Morgen-Kuss auf die Wange zu geben. „Du hast dir noch nicht mal das Gesicht gewaschen, in deinen Augen sind ja noch die Sandkörner des Sandmännchens!“ rief sie da und ich erwiderte, ich hätte eine Augenkrankheit, die es mir verbiete, mir diese ausgiebig zu waschen. Ich wollte einfach nach dem Aufstehen aus dem Bett sofort meinen Opa sehen, umarmen und am liebsten nie wieder loslassen. Den Duft seines Rasierwassers habe ich noch heute in der Nase.
Rituale
In der Wohnstube meiner Großeltern stand ein großer Esstisch. An Familienfesten wurde dieser ausgezogen, sodass alle sechs Kinder nebst Partner.innen und Kindern daran Platz fanden. Weiterhin gab es dort einen kleineren Tisch mit einer Eckbank für fünf Personen. An diesem nahmen meine Oma, meine Tante, die auch im Haus wohnte, und ich unser Frühstück, Mittag- und Abendessen ein. Nie habe ich es erlebt, dass mein Opa bei uns saß. Er blieb am Kopf des Esszimmertisches sitzen und schaute uns zu. Nach dem Mittagessen mussten wir alle immer eine Mittagsruhe halten. Das fand ich langweilig. Am Vormittag hatte Opa mir gezeigt, wie man auf der Orgel, die im Wohnzimmer stand, Lieder spielen kann. Das erste Lied, das er mich lehrte, war „Für Elise“, das ich innerlich in „Für Steph“ umbenannte. Damit ich wusste, wo ich anfangen muss, hatte er mir einen bunten Tesafilmstreifen auf die Taste geklebt. Wie sollte ich nun schlafen, wo mein Gehirn am liebsten noch weitere Synapsen verknüpft hätte? Während Oma darauf bestand, dass ich einen Mittagsschlaf halten müsste, holte Opa Kopfhörer raus, passte sie meinem kleinen Kopf an, stöpselte sie in die Orgel ein und legte sich zum Mittagschläfchen auf das Sofa. So klimperte ich mich munter durch die Mittagspause, bis alle wieder wach waren. Am Nachmittag dann gab es eine Stunde, wo ich Opa nicht ansprechen durfte. Da schaute er nämlich „Der Doktor und das liebe Vieh“ und wollte in Ruhe gelassen werden. Kein Problem für mich, denn ich war inzwischen so müde, dass ich auf der Terrassenliege kurz mal die Augen zumachen musste. Wenn seine Fernsehsendung zu Ende war, ging mein Opa zum Wohnzimmerschrank und öffnete diesen. Darin befand sich eine Hausbar mit vielen Getränken, die nur Erwachsene trinken durften. Hell beleuchtet war die Bar. Er nahm eine Flasche heraus, auf der Cognac stand, goß sich ein Glas damit ein und trank es. Das wiederholte er dann ein paar Mal. Seine Augen sahen plötzlich traurig aus. Er sagte nichts mehr und fast immer um die gleiche Uhrzeit herum, so gegen 19:00 Uhr, ging er stumm zu Bett. „Jetzt schoooon?“ rief ich entsetzt, als ich das das erste Mal mitbekam. Wenn ich bei meinen Großeltern war, hatte ich stets Ferien und durfte länger aufbleiben. Ich wollte noch ganz viel Spaß mit meinem Opili haben und dann ging er so früh schon zum Schlafen? „Der Opa hat im Krieg viel erlebt, lass ihn mal“, war die Antwort meiner Oma. Sie kannte seine Zeiten und wenn er sich gewaschen ins Bett legte, stellte sie ihm immer einen Teller mit Schnittchen ans Bett, die er verzehren konnte, bevor er einschlief.
Seine Nächte waren kurz, denn im Schlaf holten ihn Kriegserlebnisse ein. Deswegen stand er jeden Morgen in aller Frühe auf, holte Brötchen für uns alle und deckte den Tisch. Dann setzte er sich wieder an seinen Platz und schaute uns zu…
Was war denn da?
Erst als ich selbst älter wurde, erfuhr ich, was meinem Opa bisher alles widerfahren war. Er wurde in Pillau (heute Baltijsk, einem Vorhafen vor Königsberg/Kaliningrad) in Ostpreußen geboren und wuchs dort auf, bis der Krieg begann. Nach seinem Notabitur musste er als Siebzehnjähriger in den Krieg ziehen und Dinge erleben, die man nicht selbst erleben haben muss, um zu erkennen, wie schrecklich sie waren. Die Legende besagt, er habe unter anderem eine hochschwangere Frau aus einem brennenden Haus gerettet und geholfen, ihr Kind zur Welt zu bringen. Da man es aber in meiner Familie gerne vermied, über die Kriegserlebnisse, die einige Traumata beinhalteten, zu sprechen, wurden hier und da vielleicht einige Dinge wie bei dem Spiel der „stillen Post“ hinzugefügt oder wegen ihrer Schrecklichkeit weggelassen. Fakt ist, dass er im Krieg Erlebnisse hatte, die unaussprechlich furchtbar waren. Sie gruben sich wie wühlende Würmer in sein Erinnerungsgedächtnis ein und fühlten sich dort wohl. Seine Mutter und sein Bruder flüchteten aus Ostpreußen nach Oldenburg in Holstein, wo er sie nach Kriegsende endlich wiedersah. Weil wegen mangelnder finanzieller Mittel nur einer aus der Familie ein Studium aufnehmen konnte, studierte sein Bruder Horst, während mein Opa in einem Elektroladen aushalf. Er hat nie gejammert, sondern angepackt. Diverse Arbeiten führte er aus, ohne dafür ausgebildet geworden zu sein. Im Kirchenchor traf er auf meine Oma und sie verliebten sich. Sie selbst war eines von fünf Kindern und hatte im Krieg zwei tote Brüder zu beklagen. Der eine ihrer Brüder fiel an seinem Geburtstag. Vereint im Schmerz und in der Liebe heirateten sie. Meine Oma hat für die Hochzeit zwei Bettlaken für ein Pfund Kaffee eingetauscht. Aus ihrer Liebe heraus kamen schließlich sechs gesunde Kinder zur Welt. Meine Großeltern leiteten eine Jugendherberge und die Gerichtskantine. Den Zimmern der Herberge gab mein Großvater Namen ostpreußischer Städte. Morgens weckte er die Gäste, in dem er Akkordeon spielend die Flure entlanglief. Die Gästebücher waren voll mit wundervollen Grüßen dankbarer Gäste. Auch wenn alles so toll klingt, seine Traurigkeit hat er nie so recht überwinden können. Damals gab es keine Psycholog:innen, die die immer wieder aufkommenden Wunden therapierten. Man musste das, was man gesehen hatte, mit sich selbst ausmachen. Mein Opa schenkte sich wohl deswegen abends gerne einen Cognac ein. Um zu vergessen, was nicht zu vergessen war…
Ein großer Vater, mein Großvater
Seine Kinder fanden ihn oft zu streng, zu patriarchisch, zu dominant. Eine Meinung, die ich als Enkelin überhaupt nicht teilen konnte. „Du brauchst keine neuen Schuhe“, sagte meine Oma, als ich mich im Einkaufscenter in rosafarbene Glogs mit roten Kirschen drauf verliebte. Da hatte Opa sie längst in den Einkaufswagen gelegt. Später kaufte er mir blaue Strandsandalen, in deren Sohle mein Name auf italienisch stand. Ich bin daraufhin den Strand auf und ab gelaufen, um überall im Sand den Namen „Stephania“ geschrieben zu sehen. Er fand es lustig, wenn ich lachte, und ab da nannte er mich stets Stephania. Ich glaube, dass wir uns gegenseitig einfach gut taten. Der Mann, mit dem meine Mutter zwei wunderbare Kinder hat, war für mich ja nie da. Hier aber hatte ich einen Großvater, der mir alles erlaubte, der mich Orgelspielen und Halma lehrte, der Gedichte rezitierte und der mir erzählte, warum Schiffe nicht sinken. „Frag das mal den Opa“ hörte ich oft, wenn ich etwas Bestimmtes wissen wollte. Und Opa erzählte mir alles. Nur niemals etwas vom Krieg oder der Gefangenschaft, in der er sich damals befand. Das Schönste fand ich, dass ich ernst genommen wurde. Heute undenkbar durfte ich ihm beim Zigarettenstopfen helfen. Als mein Bruder mal aus dem Freizeitpark Hansaland einen Cowboyhut aus Leder mitbrachte, sagte Opa, dass ein echter Cowboyhut Einschusslöcher braucht. Schon hatte er den Hut auf einem alten Gartenstuhl festgemacht und mit der Flinte drauf geschossen. Ich jubelte und wollte unbedingt auch mal schießen. Ich weiß nicht, ob meine Mutter das so toll fand, aber Opa pustete viele Luftballons auf, hängte sie an den Gartenzaun und gab mir das Gewehr in die Hand. Peng!
„Du bist mir eine große Hilfe“, lobte er mich, wenn ich neben ihm am Esszimmertisch saß und die Zahlen aus dem Bingotippschein verglich. Gerade ich, die mit Zahlen so ihre Probleme hatte. Und genau das war es, was mich so resilient machte. Er traute mir einfach alles zu. Als ich zu alt für den Tretroller der Nachbarn wurde, organisierte er, dass mein Fahrrad von Kassel nach Lübeck mit dem Zug fuhr. Nie hieß es, dass ich zu klein oder zu unerfahren wäre. Und er selbst hatte auch ganz oft den Schalk im Nacken. Als mein Bruder mit seinem fast gleichaltrigen Onkel in der Gartenhütte übernachten wollte, blieb sogar Opa mal länger auf. Dann hängte er mir ein weißes Bettlaken um, schnappte sich die Taschenlampe und ging mit mir zum Gartenhaus. „Buhuhuuu!“ schrien wir dann, um die beiden geisterähnlich zu erschrecken. Wir hatten so viel Spaß zusammen. Ich erinnere mich auch, wie Oma & Opa mit mir einen Tiergarten besuchten. Dort stand ein riesiger Trampolin im Garten, auf dem ich wie ein Flummi rumhüpfte. Meine Oma mahnte, dass wir gehen müssten, schließlich müsse sie noch Mittagessen kochen. Doch mein Opa sagte „Lass sie doch noch ein bisschen“ und guckte mir lächelnd weiter zu. Wie schon geschrieben glaube ich, dass wir uns gegenseitig einfach gut taten. Die gesamte Familie nannte mich „Nervi“, weil ich so quirlig war und selten still. Wissbegierig und dem Spaß absolut zugetan wollte ich alles wissen und alles ausprobieren. Ich hab fast nie geweint, und dabei war mein Leben damals schon recht ungemütlich. Die Stärke, nicht aufzugeben an sich selbst zu glauben und anzupacken, statt zu jammern, ist eine Eigenschaft, die ich mir in jedem Fall von ihm abgeguckt hatte. Ein einziges Mal hat er mir vom Krieg erzählt, ein einziges Mal. Damals hatte er große Angst und erinnerte sich unter Beschuss an ein Gedicht, das er gelernt hatte. Es ging so:
Wenn Du denkst es geht nicht mehr,
kommt irgendwo ein Lichtlein her.
Ein Lichtlein wie ein Stern so klar,
es wird Dir leuchten immerdar.
Wird zeigen Dir den Weg zurück,
den Weg zu einem neuen Glück.
Drum glaub daran – verzage nie,
es geht schon weiter – irgendwie.
Und mit Willen, Kraft und Mut,
wird dann alles wieder gut.
Du mußt nur immer fest dran glauben
und laß Dir nur den Mut nie rauben.
Es gibt für alles einen Weg,
und sei’s auch nur ein kleiner Steg.
Es gibt nun mal nicht nur gute Zeiten,
das Leben hat auch schlechte Seiten.
Doch wie bist Du stolz, wenn Du’s geschafft,
aus Sorgen und Nöten – mit eigener Kraft,
herauszukommen, was Du nie geglaubt,
da man Dich so oft schon der Hoffnung beraubt.
Doch die Hoffnung auf ein besseres Leben,
die lasse Dir bitte niemals nehmen.
Denn wenn Du denkst es geht nicht mehr,
kommt irgendwo ein Lichtlein her.
Meine Gedanken sind bei den Menschen in der Ukraine, die sich derzeit mitten in einem Krieg befinden. Ich habe bei meinem Opa erlebt, wie sich Kriegserlebnisse/-traumata auf Angehörige auswirken können. Unmöglich, das Unglaubliche in Worte zu fassen, bleibt man lieber still, statt darüber zu reden, was in einem passiert. Mein Opa hatte keine Möglichkeit, zu einer psychologischen Fachkraft zu gehen. Ich schon. Und so nehme ich jedes Angebot, das meiner Psyche hilft zu gesunden, wohlwollend an und schäme mich überhaupt nicht dafür. Mein Opa hätte das auch so gewollt, da bin ich mir ganz sicher. Und wenn ich das nächste Mal auf einem Trampolin herumspringe, dann denke ich einmal mehr an diesen Mann, der mir so viel Mut, Stärke und Liebe geschenkt hat.
Herzlichst, Steph ❤
Danke für diese richtig wohltuende Geschichte deiner Familie. Ich hatte einen Onkel, der spät aus Sibirien zurück kam. Er hatte oft Geschichten erzählt, und wir saßen alle mit offenen Mündern am Tisch und mussten aufpassen, das die Rauchkringel nicht in unsere Münder schwebten.
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Liebe Steph, danke für die berührende Geschichte Deines Großvaters. Soldaten sehen die schrecklichsten Dinge der Welt. Ich frage mich immer wieder, wie es heute noch möglich ist, ein anderes Land zu überfallen und anderen Menschen soviel Leid anzutun. Ich kann Deinen Opa verstehen. „Der Doktor und das liebe Vieh“ ist eine meiner Lieblingsserien. Sie zeigt eine heile Welt von der wir nur träumen können. Die Serie tut der Seele gut. Liebe Grüße, Gisela
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Vielen Dank für deine Zeilen liebe Gisela
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Liebe Steph,
Du hast mich sehr mit Deiner Geschichte berührt, vielen Dank.:)
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Ich danke dir liebe Annette 😊
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Danke für diese schöne Geschichte, ich lese so gerne von dir,mir tut das so gut,L.G.Anja
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Herzlichen Dank liebe Anja. Das tut gut zu lesen. 😊 Liebe Grüße Steph
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