Das schwebende Einhorn

Mitten in der Nacht wachte ich auf und hörte in mich hinein. Kamen die Schmerzen im Halsbereich von meiner Skoliose oder war es doch Sodbrennen? Letzteres. Leicht genervt stieg ich aus dem Bett und begab mich zum Medizinschrank im Badezimmer wo ich eine Tablette einnahm. Normalerweise wäre ich sofort danach wieder zurück in mein warmes Bett gegangen, doch mir fiel etwas Senationelles ein und ich war mit einem Mal hellwach. Es war meine Geburtstagsnacht. In ein paar Stunden würde ich feiern, lachen und mich freuen. Wer mich persönlich kennt oder meinen Blog schon länger liest, der weiß, dass ich eine absolute Geburtstagsnärrin bin. Ich finde es einfach wunderbar, Geburtstag zu haben und laufe dann den ganzen Tag mit einem Dauergrinsen durch die Gegend. Doch nun galt es erst einmal, mich selbst zu disziplinieren, denn Ralf hatte am Vorabend schon den Geburtstagtisch im Wohnzimmer vorbereitet und da Neugierde mein zweiter Vorname ist, musste ich jetzt ganz hart zu mir selbst sein. Und so stand ich plötzlich in der Küche und schmierte mir in der Dunkelheit ein Nutellabrot. Hätte ich das Licht angemacht, hätte ich gesehen, dass das Glas quasi schon fast leer war und mich nicht gewundert, dass das Brot nur mit so wenig süßem Belag bestrichen war. Verbissen ging ich an der geschlossenen Wohnzimmertür vorbei. „Versau dir nicht die Freude!“ flüsterte ich mir in Gedanken mantraähnlich zu. Doch was war das? Hatte da nicht eben was hinter der Tür geraschelt? Was, wenn da ein eingesperrtes Einhorn mit den Füßen trappelte? Dem müsste ich doch helfen! „Nein, nein, nein, du gehst jetzt sofort wieder zu Bett!“ schimpfte ich mit mir selbst und so legte ich mich wieder hin. Doch mein Gehirn war längst hellwach. Völlig komische Sachen gingen mir durch den Kopf. Würde es einen Kuchen mit Smarties geben? Würde Ralf mir ein Einhorn schenken? War es wirklich so eine tolle Idee, nach der Einnahme einer Sodbrennentablette ein Nutellabrot zu essen? Hmmmm…..

Quiekende Schweine und fliegende Einhörner

Gefühlt habe ich in dieser Nacht nur drei Stunden geschlafen, als ich von Rolf Zuckowskis Musik „Wie schön, dass du geboren bist“ geweckt wurde. Ralf spielt die CD mit diesem Lied jedes Jahr an meinem Geburtstag ab und führt damit eine Tradition meiner Mutter fort. Diese hatte mir, als ich noch zuhause wohnte, an diesem Datum stets ganz laut Udo Jürgens mit „Dies ist dein Tag“ vorgespielt.

„Das ist dein Tag, dieser Tag, der Blumen und Lichter.
Das ist dein Tag, wer dich mag, denkt heute an dich.
Fühl‘ dich befreit, wie von Liebe getragen.
Das ist dein Tag, dieser Tag, den du nie vergißt.

Das ist dein Lied, es sagt dir, was Worte nicht sagen.
Mit diesem Lied wünsch‘ ich mir, bleib‘ so, wie du bist.
Fühl‘ dich befreit, wie von Liebe getragen.
Das ist dein Tag, dieser Tag, den du nie vergißt.“

Als sie damals ihren Frauenarzt aufsuchte und er ihr die Schwangerschaft mit mir bestätigte, erwähnte er, dass sie „dieses Kind“ nicht bekommen müsse. Davon berichtet sie mir noch heute leicht entsetzt, denn niemals wäre ihr der Gedanke gekommen, mich nicht bekommen zu wollen. Ihre Ehe war zwar schon zerrüttet, aber wer Leben empfängt, der schenkt es auch, war ihre Devise. Danke nochmals an dieser Stelle, liebe Mama. ❤

Von Liebe getragen fühlte ich mich an diesem Tag, als ich mich – noch im Schlafanzug – ins Wohnzimmer begab. Rolf Zuckowski sang, Kerzen leuchteten und kleine Schokomuffins mit bunten Smarties lächelten mich, die Nutellabrotindernachtesserin, saftig an. Ich gluckste vor Freude, denn ich war sprachlos vor Glück, so sehr geliebt zu werden. „Hier ist ein besonderer Gast“, sagte Ralf und führte an einer Leine ein Einhorn an meinen Tisch. Es war ein riesiger mit Helium befüllter Luftballon. Ich war entfesselt vor Begeisterung, quiekte wie ein Schweinchen, klatschte in die Hände und küsste das Einhorn, bevor ich Ralf umarmte.

Der Tag, den du nie vergisst

Es hätte die ganze Zeit so weiter gehen können, und nach den Erfahrungen meiner vielen Geburtstage wäre es auch so weiter gegangen. Doch dann klingelte das Telefon. „Lass mal, ich rufe später zurück“, sagte ich zu Ralf, der im Begriff war, mir unser Festnetztelefon rüberzureichen. Ich wollte einfach noch in Ruhe meinen mit so viel Liebe bereiteten Geburtstagstisch anschauen und alles genießen. Da sprang auch schon der Anrufbeantworter an und ich hörte die Stimme einer lieben Verwandten, die mir sicherlich gratulieren wollte. Ich unterbrach die Rolf Zuckowski-CD, indem ich das >PAUSE<-Zeichen drückte und lauschte ihrer Nachricht. „Es tut mir leid, liebe Steph, aber der Mann, mit dem deine Mutter zwei wunderbare Kinder hat, ist tot“, sagte sie. Ich starrte Ralf an und er wiederum mich. Das war definitiv kein Geburtstagsanruf. Mein Herz schlug wild in meiner Brust. Mir fielen nur vier Worte ein: „ Jetzt ist es vorbei!“ Ralf wusste sofort, was ich damit gemeint hatte. Weil ich ein friedlicher Mensch bin, hatte ich mich jahrelang um eine Aussöhnung mit diesem Mann bemüht. Ich schrieb ihm Briefe und als ich den Verdacht hatte, dass seine neue Frau ihm diese vielleicht vorenthielt, schrieb ich sogar die Firma, in der er arbeitete, an. Es kam nie eine Antwort und ich fand mich damit ab, dass es diesen Mann in keinster Weise interessierte, was ich mache und wie es mir geht. Nach dem Suizid meines Bruders keimte in mir die Hoffnung auf, nun würde er sich melden, aber es passierte nichts. Auch nicht, als ich den Sohn, den er mit seiner neuen Frau hatte, kontaktiert und empfohlen hatte, das Erbe auszuschlagen, da mein Bruder verschuldet in den Tod ging. Ich hätte an diesem Schmerz zerbrechen können, wären da nicht so unglaublich viele Menschen in meinem Umfeld, die mich mögen oder aufrichtig lieben und mir das immer wieder zeigen. Doch nun war mein Geburtstag und ich wusste nicht, wie ich nun mit diesen Tag, auf den ich mich das ganze Jahr gefreut hatte, umgehen sollte. Aufgewühlt und sichtlich nervös ging ich ohne Ziel in der Wohnung herum. Wut, Zorn, Trauer und Unverständnis wechselten sich ab, dann ging ich unter die Dusche. Dort habe ich viel geweint. Das innere Kind in mir war traurig und voller Selbstmitleid.

Er hatte mir, meinem Bruder und meiner Mutter schon zu Lebzeiten dieses schwer gemacht und nun hörte ich ausgerechnet zu meinem Geburtstag, dass er tot war. Wie sollte ich damit umgehen? „Von dir lass ich mir meinen Tag nicht versauen!“ sagte ich gen Himmel, zog mich an, föhnte meine Haare und fuhr mit Ralf zu meiner Mutter, die mich erst einmal fest in den Arm nahm. „Wir machen alles wie gehabt!“ bestimmte ich, denn wenn man Geburtstag hat, darf man die Bestimmerin sein.

Vom Sonnenschein umgeben

Und so fuhren wir gemeinsam an den Strand. Zu unserer aller Überraschung strahlte die Sonne mit aller Kraft. Der Wetterbericht, der seit Tagen davon sprach, dass es wolkenverhangen und regnerisch sein würde, hatte sich komplett geirrt. Mit der Fähre fuhren wir rüber zu einer kleinen Insel, die wir nach drei Minuten Überfahrt erreichten. Das Wasser glitzerte faszinierend im Sonnenschein, die Bäume trugen Knospen, die Krokusse blühten und ich begann mich langsam von der schrecklichen Nachricht am Morgen zu lösen. Ralf sammelte mir einen glücksbringenden Hühnergott ein, meine Mutter wollte ein Eis essen und ich musste schmunzeln, weil bei Steffen Hensslers Lokal AHOI das A fehlte. Ralf zog eine kleine Flasche aus seiner Jackentasche und blies Seifenblasen in die Luft. „Jetzt bin ich schon so lange auf der Welt, aber Seifenblasen, die bunt schimmerten, habe ich noch nie am Strandsand gesehen“, staunte ich in Gedanken. Immer mal wieder kamen mir Gedanken zu dem – nun toten – Mann, mit dem meine Mutter zwei wunderbare Kinder hat, allerdings gelang es mir, diese auf ein anderes Datum zu verschieben. Ähnlich wie mein Therapeut in der Rehaklinik mir das mit meinen Grübelgedanken meiner Depression „verschrieben“ hatte. „Wenn man merkt, dass die Grübelgedanken kommen, dann verschiebt man sie auf abends um sieben Uhr“, hatte er mir geraten. „Dann darf man sie für eine halbe Stunde frei lassen“. Das hatte ich ganz oft getan, bis ich abends um sieben keine Lust mehr hatte, zu grübeln. Nun tat ich das gleiche erfolgreich mit dem Thema Tod an meinem Geburtstag. Nach einer Stunde am Strand gingen wir durch das Naturschutzgebiet wieder zu unserem Auto und fuhren zu meiner Mutter, die Erdbeerschnittchen und Mandarinenkuchen eingekauft hatte. Ich bekam wunderschöne Geschenke von meinen Freunden, meiner Familie und Bekannten. Am allerschönsten war das Gefühl, von so vielen lieben Leuten bedacht worden zu sein. Die Gedanken an den Mann, der mich bewusst aus seinem Leben getilgt hatte, wurden dadurch ein wenig geschmälert. Über meine Trauer, diverse Flashbacks meiner Kindheit und alles drum herum sprach ich später in einigen Terminen mit meinem Therapeuten.

Grinsekatze

Das alles ist heute auf den Tag genau ein Jahr her. Ich habe am gestrigen Tag eine Kerze angezündet, ein paar stille Worte an den Mann, mit dem meine Mutter zwei wunderbare Kinder hat, gerichtet, ihm und mir Frieden gewünscht und sowohl die Kerze als auch meine Gedanken nach einer Viertelstunde wieder weggepackt. Und so stand der heutige Tag in meiner Welt nur für mich und all die wunderbaren Menschen, die mich mögen oder lieben. Ralf hat das Einhorn vom letzten Jahr wieder aufgepustet und mir einen riesigen Donutkuchen gebacken. Weil dieser viel zu groß für unseren Kühlschrank war und nicht hineinpasste, hat er ihn auf den Balkon gestellt und einen Wäschekorb darüber gestülpt, damit die gierigen Möwen die Torte nicht anknabbern. Nach allen Geburtstagsritualen am Morgen sind Mama, Ralf und ich auf meinen Wunsch hin wieder an den Strand gefahren. Auf der dortigen Schaukel flog ich über’s Meer, ich malte Friedenszeichen in den Sand, erfreute mich am Sonnenscheinwetter und schickte jeden aufkeimenden Gedanken, der nicht für diesen tollen Tag bestimmt war, mit jeder bewegenden Welle hinfort. Ach, tat das gut. Später gab es Erdbeerschnittchen und Windbeutel bei meiner Mama, denn an seinem Geburtstag soll man nicht selbst in der Küche stehen und für Kuchen sorgen müssen. Den ganzen Tag über erreichten mich Glückwünsche und ich fühle mich ganz wunderbar, weil ich so sehr geliebt/gemocht werde. Nun muss ich allerdings aufhören zu schreiben, denn ich will unbedingt meine Geschenke weiter bewundern und ausprobieren. Passend zum Wochenende und zu mir hat meine Mutter mir einen grün-schwarz gestreiften Grinsekatzen-Alice im Wunderland-Hausanzug geschenkt und den ziehe ich jetzt an. Er ist so kuschelig wie ich mich heute fühle.

Seid alle herzlich gegrüßt, Steph ❤

6 Kommentare zu „Das schwebende Einhorn

  1. Liebe Steph.,ich finde es ganz ganz toll wie du mit der Situation umgegangen bist,und du es auch noch zum Frieden geschafft hast, Respekt,schöne Geschichte trotz allem,schön ist es,wenn man sich alles runterschreiben kann,Liebe Grüsse Anja

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  2. Leider habe ich heute erst hereingeschaut, aber ich wünsche nachträglich noch alles Gute zum Geburtstag 🎂💐🎁
    Kommentiert habe ich noch nie, also nehme ich dies zum Anlass, meine Freude über Ihre Texte auszudrücken. Ich lese wirklich sehr gerne hier und muss oft lachen….ein eingesperrtes Einhorn??? Genial😆
    Vielen Dank für die vielfältigen Texte und Grüße von mir,
    Claudia

    Gefällt 1 Person

    1. Liebe Claudia, jetzt hab ich eine wunderbare Gänsehaut, denn deine Zeilen sind für mich so schön. Hab ganz lieben Dank für deine lieben Glückwünsche. Viele Grüße Steph 🙂

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