Vulkan im Bauch

Es war ein herrlich schöner Sommertag, als meine Kolleginnen und ich uns zu einem Weihnachtsessen fern unserer Wohnorte trafen. Die ganze Weihnachtszeit über hatten wir keine Zeit gefunden, dieses Essen durchzuführen, deswegen fand es nun im Sommer statt. Der Gedanke an die Fahrt dorthin machte mich nicht sonderlich froh, denn ich besitze den Orientierungssinn einer Fliege, die an einem geschlossenen Fenster klebt und den Ausgang nicht mehr findet. Mein Navi funktionierte nicht, dazu hätte ich ein Update durchführen müssen, und Karten lesen kann ich nicht. Am Morgen hatte ich mir von Ralf den 38 Kilometer langen Weg erklären lassen und war dann doch irgendwo im Nirgendwo gelandet. Baustellen hatten mich auf andere Straßen umgeleitet und ich wusste nicht mehr, wo ich war, als ich in einem Dorf anhielt und eine junge Mutter nach dem Weg fragte. „Sie wollen bestimmt zum Ponyreiten“, sagte sie lächelnd, bevor ich sie unterbrach und ihr erzählte, was mein Wunschziel war. Als ich weiterfuhr, lachte ich kurz auf. Ponyreiten… ich… Wenn ich in meinen Rückspiegel schaute, sah ich eine völlig gestresste Frau mit Augenrändern, roten Wangen und genervtem Gesichtsausdruck. Ponyreiten. Andererseits ist es auch schwer, mitten im Hochsommer einer fremden Frau zu erklären, dass man zum Weihnachtsesssen ein bestimmtes Restaurant in einem bestimmten Ort sucht. Nach anderthalb Stunden Fahrtzeit las ich endlich das Schild mit dem Ort, den ich suchte. Erleichtert fuhr ich über den knirschenden Kies zu einem Parkplatz und stellte den Motor ab. Zu meinem großen Glück war ich nicht die Letzte, sondern die Erste, die das Ziel erreicht hatte. Ich stieg aus meinem Auto aus, verschloß es und stellte mich an den Straßenrand, um den ankommenden Kolleginnen den Weg zu zeigen. Eine halbe Stunde später waren wir endlich alle vollständig versammelt und gingen los zum Restaurant.

Idylle im Wald

Es war ein schöner Waldweg, den wir gemeinsam durchschritten. Blätter wogen im Wind, ein Specht klopfte an einen Baum, hier und da wuchsen gigantische Farnbüschel. Wir gingen circa zwei Kilometer, bis wir an das von uns gebuchte Restaurant kamen, das direkt an einem großen See lag. Während wir auf das Essen warteten, gingen alle Gespräche mal wieder nur rund um die Arbeit. Allerdings schien die Sonne und das Essen war unglaublich lecker. Es gab Kartoffel- und Nudelgerichte, viel Gemüse und tolle Salate. Nach dem Dessert verweilten wir noch ein wenig am See, bevor wir uns wieder auf den Weg zu unseren Autos machten. Wir waren gerade anderthalb Kilometer des zwei Kilometer langen Waldwegs gegangen, da fing mein Bauch an zu rumoren. Innerlich stöhnte ich leicht auf. Schon oft hatte ich es erlebt, dass mein Darm Schwierigkeiten machte und ich es dem stetigen Stress, unter dem ich litt, zugeschrieben. Hier im Wald kam noch ein Problem dazu, denn es gab weit und breit keine Toilette. „Aha“, „Okay“ und „Hmmm“ antwortete ich, als eine Kollegin mir von ihrem Arbeitsalltag berichtete. Ich, die sonst jedem zugewandt und lösungsorientiert jedes Problem kommentierte, hatte gerade anderes im Kopf. Die wichtigste Frage war: Wo gibt es in diesem Wald ein Klo? Am liebsten wäre ich schnell vorangelaufen, hätte mich in mein Auto gesetzt und wäre davon gerast. Aber ich konnte die Kolleginnen doch nicht einfach so im Wald stehen lassen. Mein linkes Augenlid zuckte nervös, als eine der Frauen noch ein seltenes Gewächs im Wald entdeckte und vorschlug, wir sollen alle für ein Foto zusammenkommen. Mein gequälter Blick auf den später ausgedruckten Bildern war nicht gespielt. Dann lichtete sich der Wald und der Parkplatz war in Sichtweite. Innerlich jubelnd dachte ich, nicht mehr weit entfernt von der Erlösung zu sein und das heiterte mein Gemüt ungemein auf.

Hochgeklappte Bürgersteige

Auf dem Parkplatz selbst folgte die Ernüchterung, die eine der Kolleginnen laut aussprach, indem sie sagte: „Du musst warten, bis wir alle rausgefahren sind. Hihi, wir haben dich einpeparkt.“ Als hätte er es gehört, rumorte mein Darm erneut. Ich schwitzte und fror gleichzeitig. Keine der Frauen kannte mein Problem und so hielten sie auf dem Parkplatz alle noch ein kleines Schwätzchen, bis ich mit matter Stimme rief, dass ich nun gerne nach Hause fahren wollen würde. Nach fünf Minuten, die mir vorkamen, als würde die Uhr rückwärts laufen, saß ich endlich in meinem Auto und konzentrierte mich darauf, alles, was da raus wollte, drinnen zu behalten. Übung macht den Meister, denn es war wie gesagt nicht das erste Mal, dass mein Darm in brenzligen Situationen rebellierte. Ich fuhr hinter den Autos meiner Kolleginnen her und hielt die Augen auf nach einer Toilette am Straßenrand. Doch die nächsten zehn Kilometer gab es nur Wald um uns herum. Schon wieder grummelte es. Dann folgte ein Darmkrampf. Ich stellte das Radio lauter und hielt mich an dem Lenkrad fest, als wäre es ein Rettungsring. Dummerweise fuhr ich hinter einer Kollegin her, die auf einer Bundesstraße mit 60 km/h vor mir her trödelte. Warum nur, warum fuhren wir in einer Kolonne nach Hause? Ich wäre gern allein gewesen, denn dann hätte ich mit einem Betonschuh auf dem Gaspedal gestanden und wäre in irgendeine Dorfkneipe gefahren, um dort eine Toilette aufzusuchen. Dann endlich kamen wir an eine Kreuzung und ich ergriff die Chance, mich von den anderen zu entfernen, indem ich einfach anders abbog als sie. Natürlich blieb das nicht umbemerkt. Mein Handy klingelte und Kollegin A fragte, wo ich hinfuhr. „Muss noch was erledigen“, sagte ich gepresst und legte auf. Da erst merkte ich, dass ich nun erst recht ein Problem hatte, denn ich kannte den Weg zurück ja nicht. Der Blick auf die Tanknadel zeigte, dass dieses Problem nicht vorrangig wäre und so fuhr ich weiter. Ich kam durch ein Dorf und hoffte auf offene Geschäfte an einem Freitagnachmittag. Doch das war sehr naiv von mir. Hier wurden die Bürgersteige bereits um 16:00 Uhr hochgeklappt. Ich hätte vor Verzweiflung fast ins Lenkrad gebissen. Also konzentriert weiterfahren und meinen Darm schön in Schach halten. Als ich eine Autobahnauffahrt sah, fuhr ich einfach drauf, ohne zu wissen, wo die Reise hinging. Nach Kilometer fünf entdeckte ich aufgrund eines Straßenschildes, dass ich mich von meinem Zuhause entfernte und fuhr genervt die nächste Möglichkeit wieder ab. Da grummelte es erneut und der Krampf war dieses mal so schlimm, dass ich mich fühlte wie der Wolf bei den sieben Geisslein. „Wer hat mir Wackersteine in den Bauch gelegt?“ Keine Frage, ich hatte einen Vulkan verschluckt und dieser wollte JETZT ausbrechen. Es ging einfach nichts mehr, beziehungsweise ging sehr viel. Ich lenkte mein Auto auf einen Feldweg, sprang aus dem Auto, lief ein paar Meter und erleichterte mich schließlich im Schatten einer Hecke. Aus der Ferne hörte ich die Autobahngeräusche und ein Engelschor sang Halleluja. Ich atmete zehn Sekunden lang aus, wischte mir den Schweiß von der Stirn und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Es war, als wäre eine tonnenschwere Last von mir genommen. Erleichtert ging ich wieder zu meinem Auto und… fand den Schlüssel nicht. „Nee, oder?“ fragte ich ungläubig, während ich meine Taschen nach dem Schlüssel abtastete.

Kein Schlüssel zu finden

„Ich krieg‘ heut‘ noch die Krise!“ schimpfte ich und stampfte zurück zu meinem Tatort an die Hecke. Bestimmt hatte ich den Schlüssel genau dort verloren. Wenn ich nachher Ralf von all den Dilemmas erzählen würde, hätte er bestimmt das ganze Wochenende was zu lachen. Wir würden uns am Abend bei seinen Eltern im Schrebergarten zum Grillen treffen. Für die Unterhaltung könnte zweifelsohne ich einen abendfüllenden Beitrag leisten, das war mal sicher. Doch nicht nur das ging mir durch den Kopf, als ich zurück zur Hecke ging. Mir fiel auch ein, wie meine Oma mir mal erzählt hatte, wo man den Schlüssel verstecken kann, wenn man unterwegs mal Pipi muss. Ich griff mir selbst in den BH und fühlte das kühle Eisen des Schlüsselbarts. Vorher war ich zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, hatte aber allen Anschein nach unbewusst das Richtige getan. Ich schenkte meiner Oma Luftküsse gen Himmel, ging zurück zum Auto und setzte meine Fahrt fort. Endlich konnte ich wieder normal sein. Völlig frei sang ich Lieder aus dem Radio laut mit, lachte über Witze des Moderators und freute mich des Lebens. Dann kam ich auf eine Bundestrasse und reihte mich in einen kilometerlangen Stau ein. „Ich stehe hier auf der B 207, bin ich da richtig?“ fragte ich Ralf am Telefon. „Ja, da bist du richtig, ich bin übringens schon bei meinen Eltern im Garten“, antwortete er, bevor ich wieder auflegte. Ein Stau am Freitagnachmittag. Bei allem was ich bereits erlebt hatte, wäre das nicht all zu schlimm gewesen, allerdings wollte mir mein Darm just in diesem Moment unbedingt mitteilen, dass er immer noch unbearbeitete Arbeit hatte, die er gerne loswerden wollte. Es ging alles wieder von vorne los… Ich stand im Stau direkt hinter einem russischen Lkw, der Plombir-Eis geladen hatte. Eine Kollegin mit russischer Migrationsgeschichte wollte uns mal zur Mittagspause mit diesem Eis überraschen. Ich hatte mir als Kind aus Versehen mal eine Kanne Kakao mit Kondensmilch zubereitet. BÄH! Das man aus Kondensmilch auch Speiseeis herstellen konnte, war mir bis zu meinem ersten und letzten Plombir-Eis völlig fremd. Während ich – von Krämpfen geschüttelt – auf ein übergroßes Eis auf der Ladetür des Lkw starrte, fiel mir auf, dass aus dem Lkw unentwegt Wasser wich. Auch wenn ich am liebsten konzentriert darauf, dass bei mir nichts entwich, in meinem Auto sitzengeblieben wäre, empfand ich es als meine Pflicht, den Fahrer über den Defekt an seinem Fahrzeug hinzuweisen. Vielleicht täte mir eine Ablenkung ja auch gut? Ich stieg aus meinem Auto aus, ging in kleinen Schritten zu der Fahrertür, klopfte an die Scheibe und erzählte dem Fahrer, was da hinten vor sich ging. „Hau ab, du Schlampe!“ wies er mich an und ich kroch zurück auf meinen Fahrersitz. Ich hätte mich zu gerne über die plumpe Art des Plombireisfahrers aufgeregt, war allerdings mit meiner Körperkontrolle vollends beschäftigt.

Land in Sicht

Nach und nach löste sich der Stau auf und wir konnten alle weiterfahren. In mir brodelte, gluckste und rumorte es. Da erreichte ich endlich die Stadt, in der ich lebe. Jetzt würde alles gut werden. Doch was war das? Ich rieb mir die Augen, denn glauben konnte ich es nicht. Die Schranken am Bahnübergang waren heruntergelassen. „Echt jetzt?“ rief ich entgeistert, denn ich hatte schon oft an diesem Bahnübergang gestanden. Wenn hier mal die Schranken unten waren, konnte man getrost seinen Motor abstellen, einen Kaffee trinken und shoppen gehen, bevor sie sich wieder öffnen würden. Ich komm‘ heute nicht mehr in den Garten deiner Eltern, ich muss dringend nach Hause…Darm! tippte ich als Nachricht an Ralf in mein Handy. Dann versuchte ich mit zusammengebissen Zähnen und Händen, die sich ins Lenkrad krallten, den Vulkan in mir zu bändigen. Schließmuskeln trainieren. Nach 10 Minuten ging es endlich weiter. Ich versuchte mich an die Geschwindigkeit von 50 km/h zu halten, was mir mitunter bei der ganzen Brodelei in meinem Darm wahnsinnig schwer fiel. Schließlich erreichte ich die Strasse, in der ich wohne. Nur noch einen Parkplatz finden. Wieder fröstelte es mich, während ich schwitzte. „Parkplatz, Parkplatz, Parkplatz“ murmelte ich vor mich her, während ich mit den Fingern nervös auf das Lenkrad trommelte. Fast wäre ich soweit gewesen, mein Auto im Halteverbot zu parken, da fand ich einen Stellplatz. Schnell eingeparkt, Tasche genommen und schon ging es raus aus dem Auto. Ich piepte mittels Schlüssel das Auto zu, und ging in auffällig hastigen Schritten auf das Haus, in dem ich wohne, zu. „Schauen sie mal, ich hab heute…“ rief mein Nachbar. „Keine Zeit, morgen vielleicht!“ unterbrach ich ihn unsanft. Dann schloss ich die Haustür auf und rannte in nullkommanix die Treppenstufen herauf. Die letzten Meter waren dabei die schlimmsten: Im Wissen darüber, mich gleich in meinem heimischen Badezimmer würdevoll entleeren zu können, vergass ich fast das Schließmuskeltraining. Doch dann war es endlich soweit, der Schlüssel drehte sich im Schloss, die Tür sprang auf und ich war mit zwei Schritten im Badezimmer. Alles war mir in diesem Moment egal, alles. Ich sorgte mich nicht, ob ich das Auto tatsächlich abgeschlossen hatte oder die Wohnungstür noch offen stand. Es ging mir nur um den Wahnsinns-Augenblick, diese Fahrt mit meinem kranken Darm hinter mich gebracht zu haben, ohne dass mir ein Malheur passiert wäre. Ein Moment des totalen Glücks, das lange anhielt… Am Abend erzählte ich Ralf von meinen Erlebnissen. Er konnte gar nicht glauben, was mir da alles widerfahren war und nahm mich fest in den Arm. Seit diesem Schreckenstag habe ich immer eine Packung Imodium akut in meiner Tasche, denn was ich da erlebte, muss ich kein zweites Mal haben.

Heute

Dieser Tag im Sommer ist bereits Jahre her, aber noch immer leide ich unter meinem launischen Darm. Bisher hat mir noch nichts geholfen. Ich habe Ernährungstagebücher geführt, habe meine Ernährung zeitweise umgestellt und habe eine Darmspiegelung machen lassen. Es freut mich sehr, dass mein Darm weder Divertikel noch Polypen aufweist, nach Rede des untersuchenden Arztes völlig gesund scheint. Dennoch stresst mich das Verhalten meines Darms, denn er ist völlig unberechenbar. An manchen Tagen muss ich bis zu zehn mal die Toilette aufsuchen, an anderen ist alles völlig okay. Das Medikament Kijimea hilft mir, die Krämpfe abzustellen, ist allerdings auch sehr teuer. Imodium akut hilft mir zuverlässig, wenn es beginnt zu brodeln und ich zu einem wichtigen Termin muss. Einen weiteren Lichtblick gibt es: Prof. Christian Sina, Direktor des Instituts für Ernährungsmedizin an der Universität Lübeck, hat ein neues Verfahren entwickelt, um Menschen mit Reizdarm besser helfen zu können. Für solche Patienten hat Sina ein neues Diagnose-Verfahren entwickelt: Eine Art Allergie-Test, der direkt im Darm gemacht wird und die tatsächliche Ursache der Probleme aufdecken kann. Bei ihm werde ich mich mal melden. Vielen Menschen, die wie ich unter einem Reizdarm leiden, ist das Thema hochpeinlich und sie tragen Sorge, darüber zu berichten. Das wollte ich gerne ändern.

Bleibt alle gesund.

Herzlichst Eure Steph ❤

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Passend dazu: Sorge vor – Vorsorge

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