
Erinnert ihr euch an den Sommer eurer Kindheit? Bei mir reicht es dazu, um mehrere Seiten damit zu füllen. Irgendwie ist alles noch da. All die Geräusche, die Erlebnisse, der Duft der Natur, die Spiele, die wir spielten…
Es war an einem Sommertag im Jahr 1984. Ich war sechs Jahre alt und wohnte mit meiner Familie (Mutter, Vater, Bruder) auf dem Dorf. Die Straße, in der wir wohnten, war nach einer Vogelart benannt.
Das Leben in dieser Straße war großartig, denn es lebten viele Kinder in meinem Alter dort. Zudem war es eine Sackgasse, sodass wir dort viel Freiraum hatten. Die Straße gehörte uns Kindern.
Oft malten wir uns eigene Wege mit Kreide auf den Asphalt. Alles musste dort aufgezeichnet werden: Ein Supermarkt, ein Rathaus, ein Schwimmbad, ein Spielzeugladen, die Feuerwehr und auch die Polizei. Die Kreide wurde nie alle. Einer der Väter hatte extra Ytong-Steine in seiner Garage deponiert, damit wir diese zerschlagen und mit den kleinen Splittern „auf Teufel komm raus“ malen konnten. Wir hatten ein Ziel: Wenn alle Straßen fertig aufgemalt gewesen wären, würden wir mit unseren Rollschuhen so tun, als seien wir Erwachsene, die viel unterwegs waren. Jeden mit Kreide aufgemalten Weg würden wir, auch wenn er noch so kurvenreich und teilweise eng war, entlang fahren. Wir würden im Supermarkt Wassereis für unsere Kinder kaufen, im Rathaus die bestellte Saisonkarte für’s Freibad abholen, die Kinder dann ins selbige befördern, im Spielzeugladen nach neuen Geschenken für „unsere Kleinen“ Ausschau halten und wären froh über Polizei und Feuerwehr, die wir alle für unser Dorf brauchten. Hach, das Leben war so leicht. Warum beschwerten sich die Erwachsenen denn nur so oft?
Die Schulferien hatten gerade begonnen. Sabine und ich waren sehr gut befreundet und unternahmen viel zusammen. Sabine war mir von allen Kindern der Straße am liebsten. Sie war zwei Jahre älter als ich und meistens verstanden wir uns richtig gut. An diesem Tag allerdings hatte es mal wieder so richtig geknallt zwischen uns. Vorausgegangen war die Tatsache, dass sie die Wundertüte, die meine Mutter mir vom Einkaufen mitbrachte, ohne meinen Willen aufgefetzt und mir damit meine eigene Überraschung verdorben hatte. Ich war so sauer, dass ich daraufhin ihrem Monchichi die Nase blau anmalte. Mit Lackstift. Den wasserfesten Stift hatte ich dafür extra von meinem Bruder „ausgeliehen“, dessen Zimmer ich nur in Notfällen betreten durfte. Sabine hatte sich gerächt und aus meinem Fahradreifen die Luft rausgelassen, woraufhin ich ihrer Glühwürmchenpuppe die Batterien entfernte und versteckte.
Wie gesagt, konnten wir die meiste Zeit wunderbar und in Eintracht miteinander spielen. Aber wenn wir stritten, konnte sich der Teufel noch was bei uns abschauen. Unser Streit an diesem herrlichen Sommertag gipfelte darin, dass sie – größer als ich – die Seile meiner Schaukel so oft über die Aufhängung an der Metallstange warf, dass ich nicht mehr dran kam. Wütend stampfte ich davon und rief ihr zu, dass ich nie, nie wieder mit ihr befreundet sein wollte. „NIE, NIE wieder!“ rief ich ihr nochmals zu. Nur für den Fall, dass sie es bei den ersten drei Malen nicht gehört hatte.
Aber wohin geht man, wenn die Nachbarschaft voller Kinder ist und man, völlig geladen mit Emotionen, mal seine Ruhe haben will? Ich entschied mich für den Geräteschuppen in unserem Garten. Rein gehen konnte ich nicht, denn dieser war immer abgeschlossen. Schließlich befanden sich dort gefährliche Gerätschaften wie Rasenmäher, Harke, Astschere und so weiter. Es reichte mir, mich hinter die Hütte zu stellen und mit verschränkten Armen wütend zu sein. „Diese blöde Kuh, die spinnt ja wohl“, ging es mir durch den Kopf, als ich plötzlich ein leises „Hallo“ vernahm. Die Stimme war mir unbekannt und woher kam sie überhaupt? Mit dem Arm wischte ich mir die Tränen, die ich vor Wut vergossen hatte, von den Augen und nahm dabei auch ein bißchen Schnodder von der Nase mit auf. „Hallo“ wisperte es erneut und ich drehte meine Kopf links und rechts, um in Erfahrung zu bringen, woher das zarte Stimmchen unbekannten Ursprungs kam.
Die Stimme gehörte einem Mädchen, das war gewiss. Aber zu welchem? Ich kannte alle Kinder aus der Nachbarschaft und konnte diese Stimme keinem zuordnen. „Hallo“…
„Ja, ich höre dich, aber kann dich nicht sehen“, sagte ich und spürte, wie sich Gänsehaut auf meinem Körper ausbreitete. Wer mochte das wohl sein? „Ich bin hier“, sagte die elfenähnliche Stimme und ergänzte: „hinter der Hecke!“ Mit dem Rücken an den Geräteschuppen gelehnt schaute ich endlich nicht nur nach links oder rechts, sondern nach vorne. Und ja, da war etwas. „Wer bist du denn?“ fragte ich ins grüne Dickicht hinein und kämmte mir mit den Händen meine Haare hinter die Ohren, um besser hören zu können. „Ich bin die Coco und habe dich schon oft gesehen“, sagte das fast unsichtbare Mädchen. „Magst du mit mir spielen?“ „Ja, vielleicht“, sagte ich und erinnerte mich, wie meine Mutter mal erzählte, dass die netten Menschen auf dem kaum einsehbaren Nachbargrundstück wohlhabend waren und oft ihre Enkelin zu Besuch hatten.
Alle kannten das Grundstück dieser Großelternfamilie, es war einfach riesig. Anders als bei uns waren dort keine Wäscheleinen gespannt. Dort gab es auch keine Beete mit Wildblumen, wie es meine Mutter immer liebevoll wachsen und gedeihen ließ. Dafür zierten extravagante Bäume diesen Garten. Der Rasen sah aus, als würden jede Nacht kleine Heinzelmännchen aus ihren Löchern unter der Erde kriechen, um selbigen mit kleinen Scheren zu stutzen. Nirgendwo Maulwurfshügel. Alles fremd und doch ein wenig aufregend… Das Haus war groß und eine breite Treppe führte hinauf zur herrschaftlichen Terrasse. Die Enkelin hieß Coco und war zwei Jahre jünger als ich, also vier Jahre alt. Ich hatte sie schon ein paar mal im Garten mit ihrem Dreirad auf dem Grundstück ihrer Großeltern herum fahren sehen, wenn ich aus dem Badezimmerfenster unserer Wohnung sah.
Nun stand sie da also vor mir und lud mich ein, zu ihr auf das Grundstück ihrer Eltern zu kommen. Mit dem Finger im Mund überlegte ich, ob ich dieses Angebot wirklich annehmen sollte. „Wir grillen“, rief sie und ab da war die Sache für mich klar. Schnell schlüpfte ich durch die dicht bewachsene Hecke und stand plötzlich auf der anderen Seite. Dort, wo das Gras grüner war als bei uns. Coco sah ganz anders aus wie ich. Alles an ihr war irgendwie so… rosa. Stoffschleifen in den beiden Zöpfen, ein Kleidchen mit Spitzenrand und weiße Kniestrümpfe standen im krassen Gegensatz zu meinen kurzen Hosen, dem quietschbunten Jamaika-Shirt und den nackten Füßen. Huckleberry Finn trifft auf das „Nesthäkchen“. Sie trug sogar ein Armband aus echtem Silber. Verstohlen schaute ich auf mein eigenes Armband, welches aus Liebesperlen und einer Uhr aus Traubenzucker bestand. Die Uhrzeit darauf war stets die gleiche. Manchmal leckte ich daran. Zusammenfassend kann man sagen, dass wir verschiedener hätten nie sein können.
Ich ließ mich von Coco an die Hand nehmen. Zusammen erklommen wir die Treppe hinauf zur Terasse, auf der es bereits herrlich nach Gegrilltem roch. „Na, hast du eine neue Spielkameradin gefunden?“ fragte ihre Mutter und klatschte vergnügt in ihre Hände. Die Oma holte einen Stuhl für mich, der Opa schenkte mir Limonade ein und der Vater wendete die Würstchen auf dem Grill. „Wie heißt du denn? Du wohnst im Haus gegenüber, stimmt’s? Hast du Hunger?“ Ich nickte nur, denn irgendwo an der Hecke hatte ich meine Sprache verloren. Hier war alles so anders. Man trank aus goldenen Bechern, saß auf Stühlen mit gepolsterten Armlehnen und hatte mehrere Saucen zur Auswahl. Bei uns trank man aus ausgespülten Senfgläsern, saß beim Grillen auf Campingstühlen mit ausgeblichenen Blumenmustern und bekam die Flasche (und nur die eine) Curryketchup zum Fleisch gereicht. Nicht zu vergessen die Wachstuchtischdecke mit den Gewichten, die daran baumelten und verhindern sollten, dass die Decke wegflog.
Höflich wie ich war, beantworte ich alle Fragen – für mich eher ungewöhnlich – einsilbig. Ich kam einfach aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es gab einen Springbrunnen, der buntes Wasser hervorbrachte. Der Umstand, dass es überhaupt einen Springbrunnen gab, war für mich schon erstaunlich, aber dann noch solch ein Zauberbrunnen? Des Rätsels Lösung war eine Scheibe mit den Signalfarben rot, blau, grün und gelb. Diese Scheibe drehte sich und färbte das Wasser mithilfe eines Lichtes in all diese Farben. Es hätte mich nicht gewundert, wenn auf dem großen Gartengelände noch ein einsamer Pfau seine Runden gedreht hätte. Ich durfte keinen Pfau haben. Meine Mutter hatte es mir verboten. Ein Meerschweinchen hatte sie mir erlaubt. Und eine verletzte Amsel hatten wir mal wieder aufgepäppelt. Aber ein Pfau?

Der Grill bei den reichen Nachbarn sah aus wie ein Herd und hatte eine Grillfläche, die so groß war, dass man ein ganzes Schwein drauf hätte grillen können. Und dann kam etwas, was mein kulinarisches Herz total entflammen sollte. Cocos Papa legte mir kleine Würstchen auf den Teller, (der nicht aus Pappe war) und schenkte mir Vitamalz in meinen goldenen Becher ein. Vitamalz gab es bei uns auch. Allerdings nur selten. Ich erinnerte mich an den Rat meiner Mutter, mich als Gast gut zu benehmen und nahm das Besteck zur Hand, statt einfach so in die Wurst zu beißen, wie ich es manchmal tat. Auf’s Rülpsen sollte ich hier wohl beser auch verzichten – auch wenn die Rülpswettbewerbe zwischen meinem Bruder und mir eine eigene Show verdienten. Der erste Biss in die Miniwurst und ich war…. im Himmel. Da waren Kräuter drin. Erst später sollte ich erfahren, dass es sich bei dieser Leckerei um eine für Nordhessen eher untypische Wurst handelte, es waren nämlich Nürnberger Rostbratwürstchen. Während ich da auf der Terasse saß, mir ein Würstchen nach dem anderen einverleibte und Vitamalz aus goldenen Bechern trank, dachte ich hämisch daran, wie es wäre, wenn Sabine mich jetzt sehen könnte. Die würde aber dicke Backen machen, das war gewiss! Hahaha. Endlich hatte ich mich von ihr emanzipiert. Sollte sie doch den anderen Kindern mit ihren Zickereien auf die Nerven gehen, ich hatte jetzt andere Interessen entwickelt.
Am Abend bedankte ich mich freundlich und hatte große Mühe wieder durch die Hecke zu passen, durch die ich gekommen war. Hatte ich in dieser kurzen Zeit etwa zugenommen? Meine Mutter zu Hause war erstaunt, als ich das Essen nicht anrührte und fragte mich über meine Erlebnisse aus.
Wenn Sabine die nächsten Tage bei uns klingelte um zu fragen, ob ich zum Spielen heraus käme, schüttelte ich stets den Kopf. Erhaben und leicht arrogant sagte ich, dass ich schon was anderes vorhätte. Wenn die wüsste!
Ja, wenn die wüsste… denn das Spielen mit Coco gefiel mir schon lange nicht mehr. Wir waren wirklich zu verschieden. Huckleberry Finn hatte keine Lust mehr, mit „Nesthäckchen“ kleine Törtchen in ihrer Sandkiste zu backen. Viel lieber wollte ich mit Sabine Matchboxautos über Sandstrassen fahren lassen, mit ihr Gummitwist spielen oder am Bach einen Staudamm bauen, statt eine Vierjährige auf ihrem Dreirad anzuschieben. „Grillt ihr heute wieder?“ fragte ich Coco und rieb mir genussvoll den Bauch. „Nein, erst am Wochenende“, sagte sie und hielt mir ihre Puppentasse vor die Nase, damit ich daraus Tee trinken konnte. Ein Vitamalz wäre mir lieber gewesen. Ich verabschiedete mich schnell und schlüpfte wieder durch die Hecke.
Gedankenvoll lehnte ich an meiner „Denkerhütte“ / ehemals Geräteschuppen und überlegte, wie das alles wieder hinzubekommen war. Ich musste zugeben, der Preis, mich von Sabine emanzipieren zu wollen, war eindeutig zu hoch gewesen. Das Spielen mit Coco war langweilig geworden und wenn ich ehrlich war, war ich nur noch deswegen mit ihr befreundet, weil ich diese kleinen Kräuterwürstchen so gern mochte. Und den Discobrunnen. Und die goldenen Becher. Ich stöhnte. Warum war denn nur alles so schwierig als Kind? Die anderen Kinder spielten vorne auf der Straße Hinkelkästchen, während ich hinten im Garten aufpassen musste, dass Coco mich nicht sah. Freiheit sah anders aus.
Und dann kam es doch noch ganz anders… Denn wie immer, wenn ein Kind ein neues Spielzeug hat, will es dieses allen anderen zeigen. Dann ist jeder Streit, jede Zurückweisung sofort vergessen, so viel Aufregung steckt in einem. In diesem Fall war Sabine die Beschenkte. Ihre Eltern hatten ihr ein neues Zelt gekauft. Wir besaßen beide bereits ein Zelt. Ein Indianerzelt. Oft hockten wir in ihrem gelbblauen oder in meinem hellbraunrotem Zelt und schmiedeten Pläne. Dieses neue Zelt aber war ganz anders. „Da drin kann man übernachten und ich will, dass du heute Nacht mit mir da drinne schläfst“, quiekte sie und hielt die Metallstangen hoch. „Ooooh jaaa!“ rief ich. Dann umarmten wir uns und waren für unbestimmte Zeit wieder richtig gute Freunde. Manchmal kann das, was am Anfang so schwierig aussieht, doch verdammt einfach sein, oder nicht?
Habt alle einen schönen Sommer ❤
Herzlichst
Steph
Danke! Ich wünsche Dir auch einen schönen Sommer. LG Gisela
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Danke Gisela 🙂
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Ich liebe deine Geschichten. Sofort war ich auch wieder ein kleines Mädchen und kann mich an meine Sommer mit meiner noch heute besten Freundin erinnern.
Ganz liebe Grüße Annette
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Danke Annette. Hab einen guten Start in die neue Woche. Liebe Grüße Steph 😊
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