
Es war ein heißer Sommertag 1985. Wir hatten Schulferien und waren den ganzen Tag draußen in der Natur, im Schwimmbad oder in unserem Indianerzelt. Ins Schwimmbad wollte ich an diesem Tag auch gehen, aber meine Mutter sagte, wir würden mit dem Zug in die Großstadt fahren. Ich weiß noch, wie genervt ich war, denn der Besuch der Stadt hatte nur ein Ziel: Mir neue Kleidung zu kaufen. Meine Mutter war der Meinung, ich würde mich mehr auf den Schulbesuch freuen, wenn ich nach den Sommerferien mit neuen Klamotten ins neue Schuljahr starten würde. Ich ging zwar gerne zur Schule, aber mehr als den Unterricht mochte ich es, meine Freunde dort zu sehen. Es waren noch drei Wochen bis zum Schulstart in die zweite Klasse und ich hatte keine Lust, jetzt schon an das frühe zu Bett gehen, dass frühe Aufstehen, den Tafelputzdienst und Karl Knödel, den Rechenkönig zu denken. Wie schön wäre es, nun im Schwimmbad auf einer Bastmatte im Gras zu liegen, Schwimmbadpommes oder Waffelbruch zu essen und immer und immer wieder die Wasserrutsche runterzusausen….
Der Rest vom Apfel
An der Hand meiner Mutter ließ mich mehr ziehen, als dass ich selber lief. Wir waren auf dem Weg zum Bahnhof. Erst kamen wir an der Apotheke vorbei, dann an dem feuerroten Imbisswagen und dem teuren Friseur Jilg, dem ich als Zweijährige mal in den Friseursalon gepinkelt hatte. Dann endlich waren wir am Bahnhof unseres Dorfes angekommen. In der Bahnhofshalle roch es nach Pipi und kaltem Zigarettenrauch. Wir gingen zum Schalter, wo ein Mann mit Mütze hinter einer großen transparenten Plastikscheibe saß und ein Käsebrot aß. Die Scheibe sah mit ihren vielen Löchern aus wie ein Schweizer Käse. Man musste da durch sprechen, um dem Mützenmann zu sagen, was man wollte. Pommes hatte er nicht, aber Fahrkarten und die brauchten wir, um in die Stadt zu fahren. Meine Mutter legte das Geld dafür auf einen runden Teller. Dieser wurde vom Fahrkartenmützenmann dann einmal gedreht, sodass er die Groschen und Markstücke annehmen konnte. Nachdem wir die Karten erhalten hatten, gingen wir durch die große Bahnhofshalle nach draußen, um auf einer Bank sitzend auf den Zug zu warten. Die Tatsache, dass ich wegen meiner roten Harre und der hellen Haut einen Sommerhut tragen musste, machte mich noch schlecht gelaunter. Wenn ich jetzt im Schwimmbad wäre, dann hätte ich nasse, vom Chlor getränkte Haare und – wenn der Bademeister motzte – eine Badekappe auf, aber bestimmt nicht einen blöden Sommerhut. Die Bremsen quietschten ohrenbetäubend, als der Zug vor uns zum Stehen kam. Ich ließ mich an der Hand meiner Mutter zur Zugtür ziehen, wo wir in einem Abteil Platz nahmen. Die Luft war stickig, unter dem kleinen Tischchen vorm Fenster lag in dem kleinen Mülleimer, der wie ein Aschenbecher aussah, ein vergammelter Apfelgrotzen. Ich musste daran denken, wie meine Mutter nie etwas vom Apfel übrig ließ. Wenn sie in einen Apfel biss, dann aß sie ihn bis auf dem Stiel mit allem auf. Im Schwimmbad würde meine Freundin Rieke mir jetzt vermutlich einen Butterkeks anbieten, den ich aber ablehnen würde, weil Butterkekse im Schwimmbad zwischen nassen Handtüchern und Badeanzügen ihre Knusprigkeit verlieren und pappig schmecken. „Wann sind wir denn endlich daaahaa?“ fragte ich gelangweilt. Ich wusste die Antwort, denn ich war die Strecke schon x-mal mit meiner Mutter gefahren, es ging mir eher darum, ihr so richtig deftig auf die Nerven zu gehen, weil ich keine Lust auf den Klamottenkauf hatte. Wenn ich schon schlechte Laune hatte, dann sollten es auch alle anderen haben. Mein siebenjähriges ICH konnte manchmal echt gemein sein.
Die gelochte Pappe
„Nimm mal deine Karte“, sagte meine Mutter und hielt mir die Fahrkarte hin. Die Karte war aus brauner Pappe und noch kleiner als die Aufkleber in einem Hanuta. Mein Bruder sammelte die Aufkleber, um sie in sein Fussballheft zu kleben. Ein Hanuta würde ich jetzt im Schwimmbad wohl nicht essen, denn die Schokolade darin schmilzt so schnell. Damit ich nicht weiter an das Schwimmbad, die Sprungtürme und den ganzen Spaß im Wasser dachte, sah ich mich mit den Augen im Abteil um. Die weinroten, pickeligen Kunstledersitze unter meinen Beinen klebten von der Hitze. Über dem Kopf meiner Mutter, die gegenüber von mir saß, hing ein gerahmtes Bild mit einem rosafarbenen Elefanten. „Das rosarote Jahr der Bahn“ stand darüber geschrieben. Ich fragte mich, warum der Elefant rosa war, denn die Elefanten, die ich bisher gesehen hatte, waren grau wie meine Stimmung. „Das Jubiläumsjahr der Bahn“ stand auf einem anderen Werbeplakat geschrieben und daneben eine Eins, eine Fünf und eine Null. Ich konnte die Zahl nicht aussprechen, da wir in der Schule noch nicht bei den Hundeter-Zahlen angekommen waren. Wieder musste ich an Karl Knödel denken. Der war zwar Rechenkönig unserer Klasse, aber unsportlich wie ein rosafarbener Elefant auf einem Drahtseil. Deswegen ging der auch nie ins Schwimmbad. Der lernte lieber zu Hause neue Zahlen. Der Schaffner kam. Endlich ein bisschen Aufregung. Ich mochte die Schaffnersleute gerne, denn die hatten immer so einen tollen Knipser in der Hand, mit dem sie die Fahrkarten lochen konnten. Mein 17-jähriger Bruder hatte uns neulich beim Mittagessen erzählt, dass sie seinem 19-jährigen Freund „die Pappe gelocht“ hatten. Das fand ich komisch, denn ich dachte immer, der fährt Auto und nicht Zug. Der Schaffner grüßte freundlich und ließ sich von uns die Karten zeigen. Dann griff er zu seinem Knipser, der an einer langen Kette an seinem Gürtel hing und knipste in die Karten rein. Anschließend wünschte er uns eine gute Weiterfahrt und zog die Tür unseres Abteils wieder hinter sich zu.
Kleiderkauf
In der Großstadt angekommen ging unser Weg wie immer zuerst zur Sparkasse, wo meine Mutter Geld holte. Die Guckis (Klickfernseher) die für Kinder in der Bank auslagen, interessierten mich nicht mehr, denn ich sah gegenüber das tolle Schnellrestaurant mit dem gelben M. Schon immer wollte ich dort mal essen gehen, aber meine Mutter wollte das nie. Sehr oft war sie mit mir schon Umwege gelaufen, damit ich das Restaurant erst gar nicht sehen und sie nerven konnte. Nach dem Geld holen ging es unvermittelt in den ersten Laden, wo mir immer wieder Pullover auf Kleiderbügeln unters Kinn gehalten, oder mir verschiedene Hosen hochgezogen wurden. Mich selbst bemitleidend dachte ich daran, wie gerne ich jetzt meinen Badeanzug getragen hätte. Die anderen Kinder hatten wahrscheinlich gerade einen riesigen Spaß im Schwimmbad, während ich hier Klamotten für die Schule anprobieren musste. Ich musste mir einfach leid tun. „Diesen einen noch, dann machen wir was Besonderes“, sagte meine Mutter und schickte mich mit einem zitronengelben Pulli in die Umziehkabine. Was Besonderes? Ich überlegte. Vielleicht würden wir zu C&A gehen, wo ich auf dem Palominopferd reiten dürfte? Nein, eher unwahrscheinlich, denn da durfte ich schon oft drauf reiten. Für das Gespräch mit dem Weihnachtsmann, der in einem großen Schaufesnter saß und den man durch die Scheibe anrufen durfte, war es im Hochsommer definitiv zu früh. Was also sollte das besondere nur sein? „Komm mit!“ sagte meine Mutter und nahm mich an die Hand. Als wir an dem Restaurant der Nordsee vorbeigingen, ohne das meine nordische Mutter sich dort ein Fischbrötchen kaufte, war ich verwirrt.
Teppichtreppe
Wir gingen die vielen Stufen der Treppenstrasse, die tatsächlich so heißt, hinauf und als meine Mutter plötzlich die Tür des Restaurants mit dem großen gelben M öffnete und mich einließ, da konnte ich mein Glück nicht fassen. Schreien hätte ich können vor Freude! Wie immer, wenn ich irgendwo fremde Räume betrat, ging ich auf Toilette. Wenn dort alles hübsch und sauber war, dann war es das Restaurant auch. Was das angeht, hatte ich als Kind einen kleinen Tick. Schon die Treppen hinauf zu den Kloräumen beindruckten mich sehr, denn sowohl die Treppenstufen als auch die Wände waren mit Teppich verkleidet. Staunend schritt ich die einzelnen Stufen hinauf und fasste immer wieder die Wände an. Wenn meine Oma das jetzt sähe. Bei der durfte ich nämlich nie die Tapeten anfassen, dabei war ich schon immer ein haptischer Mensch. Auf dem Klo war alles okay. Ich wusch mir dreimal die Hände, weil die Seife so gut roch und ich noch nie in meinem Leben einen Föhn für die Hände ausprobiert hatte. Anschließend schritt ich wie eine Schauspielerin bei der Oscarverleihung anmütig langsam die Teppichtreppe wieder hinunter und stellte mich mit meiner Mutter an die Kasse, wo wir die Essensbestellung aufgeben würden. „Zwei Hamburger, zwei Pommes, eine Fanta und ein Wasser“, sagte meine Mutter zu der Frau, die hinter dem Schalter stand. Einen tollen Hut hatte diese auf, er sah aus wie ein umgedrehtes Papierschiffchen. Weil meine Mutter sah, wie ich die Frau anstarrte, fragte sie diese, ob ich auch solch einen Hut für meinen Kaumfmannsladen daheim bekommen könne. Gleich drei Hüte bekam ich, sie legte sie neben das Tablett, auf dem unser bestelltes Essen fertig stand. „Such uns mal ’nen Platz!“ wies mich meine Mutter an und trug das volle Tablett hinter mir her. Ein Sitzplatz, ein Sitzplatz… ich konnte mich gar nicht entscheiden, wo ich sitzen wollte, denn die Stühle waren alle so toll. „Hier!“ sagte ich und zeigte auf die Ecke am Fenster. Der Stuhl, auf dem ich Platz nahm, hatte keine Lehne. Er war eine runde Sitzscheibe in senfgelb, die auf einen Schraubstock angebracht war, damit man die Höhe regulieren konnte. Ich fuhr erst mal ganz nach oben, dann nach ganz unten und wieder nach oben. So lange, bis mir ganz schwindelig war. Welche tollen Leute hatten sich das nur ausgedacht? Dann widmete ich mich dem Burger. Dieser lag in einem Styroporkästchen, welches quietschte, als ich es öffnete. Mmmmh, wie gut das roch. Herzhaft biss ich in den Burger hinein, schmeckte Ketchup, Gewürzgurken, das Fleisch und das Brötchen. Ab und an stippte ich eine der Pommes, die so dünn wie Bleistifte waren, in die Mayonnaise und kaute laut darauf herum. Ich fühlte mich superklasse. Wenn ich sonst mal mit meiner Mama und meinem Bruder in einem Restaurant essen war, dann kam ein Kellner an unseren Tisch. Hier aber war man selbst der Kellner. Außerdem gab es hier gar kein Besteck, dafür Servietten so viel man wollte, Strohhalme und Fanta mit ganz viel Eiswürfeln im Becher. Die Treppe, die Stühle, die ketchuproten Halbkugellampen… Für mich war das Erlebnisgastronomie der allergrößten Art. Nach dem Essen wollte ich am liebsten gar nicht mehr weg, aber dann dachte ich an den weiten Heimweg und verließ mit meiner Mama das tolle Restaurant ohne Murren.
Pups im Bauch
Nicht einmal hatte ich beim Besuch des Restaurants mit dem gelben M an meine Freunde im Schwimmbad gedacht, so sehr war ich fasziniert davon. Neben den drei Hüten hatte ich noch fünf Strohhalme eingesteckt, die würde ich an meine Freunde verteilen. Oh, ich hätte ja so viel zu erzählen, wenn die Schule wieder anfing. Der Zug kam und wir stiegen ein. Erschöpft von so viel Erlebnissen ließ ich mich in das weinrote, pickelige Kunstleder fallen und rieb mir die müden Augen. Der Schaffner kam und lochte uns die Pappen. „Schlaf doch ein bisschen“, sagte meine Mutter und ich gebe zu, dass hätte ich nur zu gern getan, allerdings grummelte da plötzlich etwas in meinem Bauch. Es wurde so laut, dass sogar meine Mutter es hören konnte. „Ich hab ’nen Pups im Bauch, der aber nicht raus will“, flüsterte ich ihr zu. „Wir sind ja gleich da“, antwortete sie. Dedumm, dedumm, rollte der Zug hörbar über die Gleise, während mein Bauch immer mehr rumorte. Es fühlte sich da drinnen an, als hätte ich einen Luftballon zur Hälfte aufgepustet und dann – ohne einen Knoten in die Enden reinzumachen – wieder freigelassen. Besorgt setzte sich meine Mutter neben mich und rieb mir den Bauch, bis wir wieder am Bahnhof unseres Dorfes ankamen. „Komm schnell!“ rief sie, als wir aus dem Zug gestiegen waren und fasste mich an die Hand. „Es geht nicht mehr“, jammerte ich und blieb stehen. „Es will raus!“ rief ich, um die Dringlichkeit hervorzuheben. Meine Mutter wäre nicht meine Mutter, wenn sie nicht für jedes Problem eine Lösung fände, und so betraten wir hektisch den Laden des Nobelfriseurs Herrn Jilg, auf dessen Toilette (ich vergab für die Sauberkeit fünf von fünf Sternen) ich einen ganz schrecklichen Durchfall rauslassen konnte. Es tat weh und war erleichternd zu gleich. Eine halbe Stunde verbrachte ich dort, bis ich mich im Stande fühlte, nun den Heimweg mit meiner Mutter ohne Schwierigkeiten bewältigen zu können. Was von diesem Tag übrig blieb, war die Erkenntnis, dass mir DAS mit den tollen Schwimmbadpommes nie passiert wäre! Der Friseur sah mich nicht wieder, der Bademeister dafür umso öfter.
Herzlichst Steph ❤
Danke für diesen herrlichen backflash in die aufregende Vergangenheit, liebe Steph! K. Knödel ist damals auch immer an den Bahnhof gegangen um sich die 14-stelligen Güterwaggonnummern einzustudieren und zu schauen, ob hin und wieder einer zurück kommt. ♥️ Die Geschichte mit Herrn Jilg hatte ich völlig verdrängt, köstlich! Herzlichst, Mareike
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das hat er wirklich getan? Das wusste ich wiederum nicht 😂 Hab herzlichen Dank für deine lieben Zeilen liebste Mareike 😊
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