
Wenn ich, in Hessen geboren und aufgewachsen, im Sommer meine Großeltern an der Ostseeküste in Schleswig-Holstein besuchte, hatte ich immer allerhand zu erzählen. Mein Opa schmunzelte bei meinen Erzählungen stets. Er ahnte, dass ich mir das, was ich nicht wusste, phantasievoll zusammengereimt hatte, so urkomisch waren meine Geschichten manchmal. Meine Oma allerdings knabberte eine Salzstange nach der nächsten weg, wenn ich begann loszuplappern, so interessiert war sie. „Bald geht die Schule wieder los“, sagte sie eines Tages, als sie mir gerade die Haare kämmte. Das konnte ich als Achtjährige zwar selbst, aber ich fand es immer toll, wenn man mir in den Haaren rumwuschelte und mir Frisuren gestaltete. „Ja, aber das ist ja nicht so schlimm, Oma, denn wenn ich vierzehn mal zur Schule gegangen bin, ist bei uns Kirmes!“ Kirmes? Diese Veranstaltung war meiner Oma fremd und so versuchte ich es ihr zu erklären…
Kirmes einfach erklärt
„Also das ist so“, begann ich und schob das Hühnerfleisch, das ich nicht mochte, mit der Gabel zur Seite. „Viele Männer und viele Frauen aus unserem Dorf sind Kirmesburschen und Kirmesmädchen. Die tragen alle weiße Hosen, blaue Hemden und einen Hut mit einer Feder drauf. Und dann gibt es noch einen Kirmesbären, der ist aber kein echter Bär, der hat nur ein Kostüm an. Dann müssen die Burschen und Mädels runter zur Fulle, wo sie die Flasche suchen müssen. Dafür haben sie einen Spaten.“ „Was ist die Fulle und welche Flasche müssen sie suchen?“ unterbrach sie mich und schob mir das Stück Hühnerfleisch wieder auf den Teller zurück. „Die Fulle heißt eigentlich Fulda und das ist ein Fluß, der durch unser Dorf fließt. Bei uns sagen aber alle nur Fulle. Das ist hessisch und das sprech‘ ich.“ Meine Oma nickte wissend. „Die Flasche ist die Kirmesflasche. Keiner weiß, wo sie ist, aber eigentlich ist sie immer unten in der Nähe des Kirmeszelts.Wenn sie die Flasche ausgegraben haben, ist die Kirmes endlich eröffnet und dann feiern wir drei Tage lang auf der Festwiese! Alles dreht sich, alles bewegt sich“, erzählte ich mit roten Wangen und funkelnden Augen. Am zweiten Tag gehen die Burschen und Mädels dann mit dem Kirmesbären von Haus zu Haus. Dann klingeln sie bei einem und man muss ihnen einen Schnaps ausgeben. Denn nur dann spielen sie einem ein Lied, das man sich selber wünschen darf, auf der Drehorgel!“ Das ungeliebte Hühnerfleisch verbarg ich hinter einem vollen Sprudelglas, während ich mir unsichtbaren Schweiß von der Stirn wischte, um meine Oma davon abzulenken. „Die trinken an jeder Tür und gehen dann durch’s Dorf zum Festplatz, wo sie noch mehr trinken“, japste ich. „Du solltest jetzt auch mal was trinken“, sagte meine Oma und hielt mir das volle Sprudelglas hin, wo sie das versteckte Hühnerfleisch fand. „Da gibt es Bratwurst im Brötchen, Äpfel in roter Glasur und kleine Nuckelfläschchen mit Liebesperlen drin. Mit Liebesperlen, Oma, kannste dir das denken?“
Bei Planet Wissen las ich über die Kirmes folgendes: Ursprünglich war die Kirmes ein Fest zum Gedenken an die Einweihung der Dorfkirche. Das ganze Dorf kam an diesen Tagen auf dem Dorfplatz zusammen, um ausgelassen zu feiern, zu tanzen und gemeisam zu essen. Niemand arbeitete während der Kirchmess, für viele Bauern waren es die einzigen freien Tage im Jahr.
Es war ein Fest für die ganze Familie. Die Verwandtschaft kündigte sich an, die Stuben wurden herausgeputzt und im 18. Jahrhundert war es sogar üblich, ganze Häuserfassaden zu streichen. Für junge, heiratswillige Menschen war die Kirmes eine willkommene Gelegenheit, einen geeigneten Partner kennenzulernen.
Essens- und Getränkerollen
Wenn es um die Kirmes bei uns im Dorf ging, war ich außer Rand und Band. Aber nicht nur ich, auch die Kinder aus der Nachbarschaft fieberten diesem Ereignis entgegen. Die Welt war für drei Tage eine andere. Das halbe Dorf kam auf dem Festplatz zusammen, um Kirmes, Kirchweih, Kirchmess zu feiern. Der Bürgermeister tanzte mit der Deutschlehrerin der Grundschule, unser Nachbar fiel regelmäßig um 20 Uhr betrunken von der Bierbank und der Postbote verkaufte Lose für die Tombola. Für uns Kinder war der kleine Festplatz unsere Bühne. Alle unsere Eltern saßen im Kirmeszelt, wo sie schunkelten, lachten und die Spendierhosen an hatten. Auf dem Gelände unten an der Fulda standen: ein Kinderkarrussell mit Tieren, auf denen man sitzend im Kreis fahren konnte, ein Autoscooter mit Autos, deren Lack metallisch in der Sonne glitzerte, eine ebenfalls im Kreis fahrende Raupe, die meine Mutter immer als „Kotzkarre“ betitelte, ein Stand, an dem man Bratwürste im Brötchen und Limonade kaufen konnte, ein weiterer Stand mit essbaren Lebkuchenherzen, Liebesäpfeln, Lollis und Laufrädern. „Möchtest du so ein Rad haben?“ fragte mich meine Mutter. Es handelte sich dabei um ein einzelnes Rad das sehr laute Geräusche machte, wenn man es drehte. Es hatte einen langen Stab an dem es vor sich her schieben konnte und in diesem Stab waren bunte Perlen enthalten. „Babykram“ antwortete ich und machte eine Abwertende Handbewegung. Und dann gab es noch das große Festzelt mit einem Holzboden, der nach drei Tagen immer gefährlich uneben wurde, da er in der Nähe zur fließenden Fulda immer weiter einsackte. Meine Mutter kaufte auf der Kirmes immer eine Rolle aus rotem Papier und eine Rolle aus gelbem Papier. Auf der roten Rolle stand Bratwurst 1,20 DM und auf den gelben Limonade 1 DM geschrieben. So ging bargeldloser Zahlungsverkehr damals in den 80er Jahren. Immer wenn ich Hunger oder Lust zu essen hatte, ging ich zu meiner Mutter und holte mir ein rotes Zettelchen oder auch zwei. Ich glaub‘, sie war froh, dass ich, das kleine dünne Persönchen, drei Bratwürste im Brötchen auf einmal aß.
Unfall beim Autoscooter
Hinter mir bretterte die fahrende Raupe im Kreis als ich plötzlich Sabine entdeckte. Sabine war zwei Jahre älter als ich und wohnte mit mir im gleichen Mietshaus. Sie unten, ich oben. Die meiste Zeit verstanden wir uns prächtig, aber wenn wir uns stritten, dann konnte sich der Teufel noch was abschauen. Sabine war schrecklich verliebt in den Autoscootermann. Ich fand den auch ganz toll, aber nicht wegen seines Aussehens, sondern weil er, wenn ein Auto mal stehenblieb, sich hinten drauf stellte, einen Schlüssel statt Plastikchips in einen Schlitz am Auto warf und das fahruntüchtige Vehikel von der Fahrbahn rollte. Cool fand ich das. Solch einen Schlüssel wollte ich auch haben. „Woll’n wir zusammen fahren?“ fragte ich Sabine und klimperte mit dem Kleingeld in meiner Hosentasche. „Nöö, lieber alleine“, sagte sie und schaute verträumt zum Autoscootermann herüber. Dem wollte sie imponieren und das ging ihrer Meinung nach besser alleine als mit mir an Bord. Wir stiegen in unsere Autos. Sie ins blaue, ich ins grüne. Den Plastikchip, den wir einwerfen müssten, um losfahren zu können, hielten wir nah an den Schlitz auf der Motorhaube. Jetzt galt es drauf zu warten, wann das Signal zum Losfahren ertönte, denn erst dann würden wir das Plastikgeld in den Schlitz fallen lassen. Sabine schaute mit verengten Augen zu mir herüber. Hätten wir in echten Autos gesessen, hätte sie wohl gegen einen Plüschwürfel, der am Rückspiegel hing, gestupst und mich somit zu einem Autorennen herausgefordert. Ihr trippelndes auf’s Gas treten würde den Motor aufheulen lassen. Aber wir waren sieben/neun Jahre alt und saßen in kleinen Elektroautos mit Gummiring drumherum. Da ertönte der Signalton und Sabine trat das Pedal durch, als würde sie dadurch schneller werden. Ich sah, wie sie erst im Kreis fuhr und dann auf mich zukam. Beim Versuch, ihr auszuweichen, tat ich das, was viele konzentrierte Kinder tun: Ich streckte angestrengt durch’s Ausweichen meine Zunge raus. Da knallte es auch schon, weil Sabines Auto meines gerammt hatte. Bei dem Rumms biss ich mir mit voller Wucht auf die eigene Zunge. Das tat so weh, dass ich Sterne am Nachmittagshimmel sah. Sie lachte heiser und drehte weiter ihre Runden, während ich vor lauter Schmerzenstränen nur noch verschwommen sah. Als wir uns fast gegenüber standen, endete die Fahrt. Meine Zunge tat irre weh und die Wut in meinem Bauch brannte wie Feuer. „Jetzt hau‘ ich dir eine rein!“ wollte ich rufen, aber wegen meiner verletzten Zunge konnte ich nicht sprechen. Als sie mich dann noch süffisant nachahmte, war es mit meiner Geduld vorbei. Ich stürmte auf sie zu und zog ihr an den lockigen Haaren. Sie wiederum kratzte mich am Arm und schubste mich. „Die erste Kirmesschlägerei findet heute ausnahmsweise mal nicht im Festzelt, sondern davor statt“, witzelte der DJ in sein Mikrofon, als meine Mutter Sabine und mich trennte. Sabine spuckte mir noch hinterher und ich streckte ihr meine verwundete Zunge raus, als wir (mal wieder) getrennte Wege gingen. Den Rest des anbrechenden Abends pflegte ich meine gewaltige Wut auf Sabine. Sie hatte mir nicht nur das Autoscooter fahren ruiniert, ich konnte nun auch keine Bratwürste im Brötchen mehr essen. Mein lieber Bruder kaufte mir zum Trost einen Liebesapfel, den ich mit den Worten „Wie soll ich denn bitte essen mit einem Spalt in der Zunge?“ wütend ablehnte. Alles, was man mir zum Trost anbot, ob Rosen schießen, Kotzkarre fahren oder dass der DJ ein von mir gewünschtes Lied spielte, lehnte ich kategorisch – wegen meiner verletzten Zunge – ab. Am liebsten wollte ich auf der Bühne im Festzelt stehen, das Mikrofon an mich reißen und allen Leuten im Zelt sagen, wie böse Sabine mir die Zunge verletzt hatte. Jeder sollte es wissen. Man sollte Warnschilder beim Autoscooter aufhängen, auf denen vor dieser Irren gewarnt wurde. Anders als die Erwachsenen hatte ich statt Alkohol erst drei Fantas (in einer Glasflasche mit dünnem Strohhalm) intus, aber so langsam konnte ich mir vorstellen, wie schnell es zu den bekannten Schlägereien im Zelt kam. Zum Ende hin wusste meine Mutter, wie sie mich trösten konnte. Sie kaufte mir eines der Laufräder mit Liebesperlen im Haltegriff, ein kühlendes Eis für meine verletzte Zunge und bat den DJ, eines meiner Lieblingslieder zu spielen. Und so kam es, dass der ganze Saal den Ententanz tanzte, was mich so glücklich machte, dass ich Sabine und den Stress vergessen konnte. Drei Tage Kirmes, drei Tage Ausnahmezustand in unserem kleinen Ort…
Habt ihr auf Erinnerungen an die „Kotzkarre“, den Autoscooter oder Liebesäpfel? Ich wünsche euch ein schönes Wochenende und grüße euch
herzlichst, eure Steph
Liebe Steph, danke für die vielen Erinnerungen. Die Kotzkarre kannte ich nicht. Aber ich wei´ß, dass ich schon als kleines Kind keine Kirmes mochte und lautstark geschrien habe, wenn ich mit meinen Großeltern dorthin gehen musste. Später bin ich dann gerne hingegangen. Liebe Grü´ße, Gisela
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Hallo liebe Steph, also ich weiß nicht, diese Sabine wird mir einfach nicht sympathischer 🙂
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ja, es war mitunter nicht so leicht liebe Monika 😉
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