
Als mein Opa starb, war ich so geschockt, dass ich den Tod als solches erst einmal gar nicht richtig wahrnehmen konnte. Die letzten Monate seines Lebens war er an Lungenkrebs erkrankt. Ein Steckschuss aus einer Waffe im 2. Weltkrieg beschwerte ihm zusätzlich die angegriffene Lunge. Ich wünschte mir, ich wäre in dem damaligen Sommer nicht noch einmal bei ihm gewesen, denn ich erkannte ihn nicht wieder, als ich in das Schlafzimmer geschickt wurde, um auf seiner Bettkante zu sitzen und ihm zuzuhören. „Bist du mit dem Fahrrad gekommen?“ fragte er mich, woraufhin ich entsetzt den Blick meiner Mutter suchte. Wir waren fast 400 km aus Kassel mit dem Auto angereist und nun wollter er ernsthaft von mir wissen, wie ich mit dem Fahrrad über die Herrenbrücke gekommen war. Meine Mutter nickte mir zu und so sagte ich meinem Opi, dass der Weg mit dem Rad über die Brücke problemlos war. Alle wussten, dass er bald sterben würde und alle hofften, das er nicht lange leiden müsste. Fünf Wochen nach unserem Besuch kam meine Mutter in mein Zimmer und erzählte mir, dass er gestorben sei. Ich konnte es nicht fassen und das meine ich wortwörtlich. Die Brisanz dieser Nachricht wollte einfach nicht bei mir ankommen. „Du musst nicht mit auf die Beerdigung kommen“, sagte meine Mutter. Darüber war ich sehr froh und so kam es, dass ich mit fünfzehn Jahren das erste Mal drei Tage lang allein zu Hause war…
Allein zu Haus
Als erste Amtshandlung ging ich drei Häuser weiter zum Pfarrhaus, wo ich meinen Finger tief in den Klingelknopf drückte. Die Ehefrau unseres Pfarrers Herr Freundlich, Frau Freundlich öffnete mir die Tür und fragte, ob ich herein kommen wolle. Schnell schüttelte ich den Kopf. Ich war ja jetzt das erste Mal so richtig allein zu Hause und wollte diese Zeit ausgiebig nutzen. „Mein Mann ist nicht da, er…“ „Ja ich weiß, er ist auf einem Seminar“, kürzte ich ihren Satz ab. „Deswegen kann er auch nicht unsere Konfirmandenfreizeit begleiten, er hat uns erzählt, dass Herr Lang von Weilig deswegen mit uns im Gemeindehaus übernachten wird“, sagte ich. „Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass mein Opa nun gestorben ist“, fuhr ich fort. Dann ließ ich eine kurze Pause, um ihr Zeit zum Kondolieren zu geben, bevor ich weiter erklärte, deswegen nicht an der Konfirmandenfreizeit teilnehmen zu können. Frau Freundlich hatte sehr viel Verständnis für meine Situation. Sie war so lieb, dass ich mich zunächst schämte, sie angelogen zu haben, denn dass ich nicht mit zur Beerdigung an die Ostseeküste fahren würde, hatte ich ihr verschwiegen. „Etwas zu verschweigen ist ja indirekt gar keine Lüge“, beruhigte ich mich selbst, als ich wieder nach Hause ging. Mir passte der Pfarrer Herr Lang von Weilig gar nicht und dass wir nicht wie alle anderen zur Konfirmandenfreizeit wegfuhren, sondern im Gemeindehaus übernachten sollten, fand ich noch öder als öde. Nee, nee, sollten die mal alle machen, wie sie gezwungen waren, ich würde es mir daheim mal so richtig schön gemütlich machen.
Erst mal zum Supermarkt
Nachdem ich die Konfirmandenfreizeit abgesagt hatte, dachte ich darüber nach, was ich jetzt mal am besten machen könnte. Dann fiel mir siedendheiß ein, dass es ja heute die neue Bravo-Zeitschrift im Supermarkt gab. Seit ich 13 war, hatte ich nämlich ein tolles Ritual: Immer wenn die Bravo neu rauskam, ging ich zum Laden und kaufte mir dort eine Tafel Schoko-Crisp und eine Bravo. Das würde ich heute auf keinen Fall ausfallen lassen. Schnell zog ich mich an, nahm das Geld aus der Kommode und verließ voller jugendlicher Vorfreude das Haus, um in den Supermarkt runter ins Dorf zu gehen. Im Schnellschritt ging ich an unseren beiden Nachbarhäusern vorbei, da fiel mir ein, dass ich ja jetzt auf keinen Fall am Pfarrershaus vorbeigehen konnte. Die dachten ja vermutlich, ich wäre voller Trauer um meinen Opa und gar nicht zu Hause. Oh man, war das doof. Ich kehrte sofort um und nahm einen anderen Weg. Erst hinten raus zu einem Feldweg, dann durch drei Nebenstrassen runter zur Hauptstrasse und von dort ganz schnell wieder hoch zum Supermarkt. Für den normalen Weg hätte ich zehn Minuten gebraucht, aber nun verbrauchte ich eine ganze halbe Stunde meiner wertvollen Zeit. Im Supermarkt nahm ich mir die von mir begehrte Bravo, eine Tafel Schokolade und eine Tiefkühlpizza und ging zur Kasse. Meine Mutter hatte zwar vor der Abfahrt an die Ostsee dafür gesorgt, dass ich genug zu essen hatte, aber wer isst schon Vorgekochtes, wenn er eine Pizza haben kann? „Ich bin in der Pubertät und brauche das“, beruhigte ich mein schlechtes Gewissen, als ich zur Kasse ging. Weil wir in einem Ort mit nur 1.400 Menschen wohnten, kannte hier jeder jeden und so sprach mich die Kassierin gleich mit meinem Namen an. Ich hätte gerne mit ihr geplaudert, allerdings sah ich durch das Fenster, dass Frau Reinlich gerade ihr Fahrrad in den Ständer vor dem Supermarkt schob, um es dort anzuschließen. Sie war die Putzfrau des Pfarrers und äußerst geschwätzig. Wenn die mich hier sehen würde…! Ich zog mir die Kapuze meines Pullis hoch und sagte zu der Kassierin, das ich es heute sehr eilig habe. Stimmte ja auch, denn ich war allein zu Hause und das musste ausgekostet werden. Schnell überreichte ich ihr das Geld und drehte Frau Reinlich, die gerade den Laden betrat, den Rücken zu, als sie hereinkam. Sobald sie hinter dem ersten Regal verschwunden war, schlüpfte ich aus dem Supermarkt heraus und atmete erst einmal tief aus. Man, war das anstrengend, inkognito unterwegs zu sein! „Danke, lieber Gott!“, sprach ich ein Stoßgebet zum Himmel, dann machte ich mich auf den Heimweg.
Wer spricht da?
Weil ich beim Laufen schon mal neugierig in der neuen Bravo blätterte, sah ich nicht, dass plötzlich Nathalie vor mir stand. Sie ging eine Klasse höher als ich auf die gleiche Schule. „Warum trägst ’n du Kapuze?“ fragte sie und zuppelte an meinem Pullover herum. „Mir war kalt“, erklärte ich knapp. Wir gingen ein Stück des Weges miteinander, wo ich ihr erzählte, derzeit alleine zu Haus zu sein. Nach fünf Minuten verabschiedeten wir uns an einer Kreuzung. Durch das Gequatsche mit ihr hatte ich völlig vergessen, den heimlichen Weg zu nehmen. Nun stand ich in der Straße, in der ich wohnte, und musste am Pfarrhaus vorbei! Mir wurde heiß und kalt. Schließlich bückte ich mich und ging im Froschschritt am Haus des Pfarrers vorbei. Die Hecke hinter’m Jägerzaun bot mir zusätzlich Schutz. Ich hatte bereits die Hälfte des Weges geschafft, da hörte ich hinter mir ein lautes „Hallo Stephania!“ Stephania, so hatte mich mein toter Opa immer genannt. Damals hatte er mir in einem Laden blaue Donald Duck-Sandalen gekauft, unter deren Sohlen der Name Stephania eingeduckt war. „Damit kannst du hier bei uns am Strand überall deinen Namen hinterlassen“, hatte mein Opa mir mit seinen lustig funkelnden Augen erklärt. „Das Kind braucht keine neuen Schuhe“, hatte meine sparfüchsige Oma ihm daraufhin gesagt. „Oh doch, diese braucht sie unbedingt“, hatte er ihr geantwortet und mir dabei schelmisch zugezwinkert. „Stephania, was machst du denn da?“ rief die Stimme – nun lauter – mir nach. Das war nicht mein toter Opa aus dem Himmel, das war Waldemar, der Arbeitskollege meiner Mutter! Diese hatte ihm, der mit Frau und Kindern aus Russland geflohen war, durch ihre Kontakte das Haus vermittelt, in dem sie nun wohnten. „Äh, ich suche was“, sagte ich leise. „Warte, ich helfe dir!“ sagte er und war im Begriff, seinen Balkon zu verlassen. „Ich hab’s schon gefunden“, sagte ich und rannte davon. Daheim lehnte ich mich an meine Kinderzimmertür und atmete lange aus. So oft, wie ich heute gelogen hatte, würde ich bestimmt bestraft werden. Doch von wem? Ich brauchte dringend eine Ablenkung. Die Bravo würde ich heute Abend im Bett lesen oder morgen nach dem Frühstück. Ich war allein zu Hause und als mir das wieder einfiel, ging es mir sogleich schon wieder viel besser.
Die grüne Tür
Auf meinem Bett liegend sah ich mir meine braune Tür an und schon kam mir eine Idee. Ich würde dieses schreckliche Braun dieser Tür mit einer schöneren Farbe überstreichen. Juchu. Sofort ging ich in den Keller, um mir eine Farbe auszusuchen und kam zehn Minuten später mit einem Eimer grünem Lack wieder hoch. Zeitung unterlegen, Folie ausbreiten, Türrahmen abkleben? Nicht mit mir, der ungeduldigsten Jugendlichen im ganzen Ort. Ich tauchte den Pinsel in die Farbe und malte wie im Wahn die braune Tür komplett grün an. Nach einer halben Stunde war ich fertig und freute mich. Dass die Farbe nicht nur an der Tür sondern auch in den Zargen und am Rahmen war, störte mich nicht groß. Grün war besser als braun, dachte ich mir und gönnte mir nach all der Aufregung ein kleines Schläfchen. Als ich wieder aufwachte, war es bereits früher Abend. Jetzt würde ich mir ein Bad in der Wanne nehmen und dann die Pizza in den Ofen schieben. Doch als ich meine Tür öffnen wollte, ging sie nicht mehr auf. Was war denn hier los? Ich ruckelte und zuckelte an der Türklinke herum, doch nichts passierte. Das konnte doch jetzt wohl nicht wahr sein. Ich war alleine zu Hause und käme nicht mehr aus meinem Zimmer? Bestimmt war das die Strafe vom lieben Gott für all meine Lügen. Außerdem war mein Opa tot und ich hatte noch nicht geweint. Jetzt, wo ich so über meine missliche Lage nachdachte, kamen mir tatsächlich die Tränen. Was war das nur für eine blöde Sache, in die ich da hineingeraten war. Dann dachte ich darüber nach, wie meine Mutter sagte, das Gott nicht straft und beruhigte mich ein wenig. Mein Blick fiel auf die Nagelschere, die auf meinem Schreibtisch lag und die ich längst wieder ins Badezimmer hätte zurück bringen sollen. Ich nahm die Schere und kratzte die Farbe von den Zargen. Nach zehn Minuten kratzen endlich die erlösende Nachricht: Die Tür ging wieder auf! Allein zu sein konnte ganz schön anstrengend sein.
Wer klingelt da?
In der Badewanne voller Schaumwasser konnte ich mich gut entspannen. Dreimal ließ ich heißes Wasser nachlaufen, so sehr genoss ich das heiße Bad. Danach würde ich Pizza essen, hoffentlich käme was Tolles im Fernsehen. Das Klingeln an der Wohnungstür holte mich aus meinen Gedanken. Wer konnte das sein? Der Pfarrer vielleicht? Schon wieder wurde mir heiß und kalt zugleich. Da klopfte es und ich hörte eine Stimme: „Mach auf Steph, wir wissen, dass du da bist!“ Das waren meine Freunde aus der Schule. Schnell zog ich mir meinen Bademantel über und öffnete die Tür. Ein Pulk von Menschen stürmte in die Wohnung. Von Nathalie hätten sie mitbekommen, dass ich alleine zu Hause war, sagte sie und machten es sich in der Küche, im Wohnzimmer und auf meinem Bett gemütlich. Sie hatten Dosenbier dabei und offensichtlich kein Feuerzeug, denn irgendwer entzündete sich seine Zigarette an unserer Halogenlampe. Immer mehr Leute kamen und ich beeilte mich, die Rolläden unserer Wohnung alle herunterzuziehen, schließlich war ich offiziell gar nicht daheim. Wir feierten bis spät in die Nacht. Irgendwer holte Döner von unserem Lieblingsdönerladen, der Plattenspieler spielte mir unbekannte Musik und meine beste Freundin Clara von nebenan kam vorbei. Es war ein toller Tag. Clara war es auch, der ich von meinen verrückten Erlebnissen und den Tod meines Opas erzählen konnte. Erst da kam die Trauer bei mir an und ich weinte mich ein wenig an ihrer Schulter aus. Als alle gingen, war es bereits hell draußen. Die Vögel sangen, als ich ins Bett stieg, um endlich schlafen zu gehen. Morgen schon würde meine Mutter wieder nach Hause kommen, deswegen stellte ich mir den Wecker, denn ich hatte viel aufzuräumen nach meiner ungeplanten Party.
An all das musste ich denken, als ich am Donnerstag hörte, dass Elizabeth II. gestorben war. Ich kenne ein Leben ohne sie, die 70 Jahre lang ihrem Land als Königin diente, überhaupt nicht. Sie war immer da. Ich dachte daran, wie schlecht es mir ging, als ich nach der Todesnachricht meines Opas nicht weinen konnte. „Ich hab ihn doch so furchtbar geliebt, warum kann ich nicht weinen?“ fragte ich mein 15-jähriges ICH immer wieder verurteilend. Heute würde ich mich selbst in den Arm nehmen. Ich würde sagen, dass alles gut wird und ich nicht so streng zu mir sein sollte. Tatsächlich kam die Trauer erst später. Ich weiß, dass mein Opa über meine Aktionen, die ich in den Tagen des Alleineseins veranstaltet hatte, lachen würde. In der Schule habe ich nur wegen ihm Französisch als Schulfach gewählt, weil meine Mutter mir erzählte, dass die Franzosen ihn im Krieg stets so gut behandelt hatten. Er führte ein strenges Regiment daheim, sagen seine Kinder. Ein Patriarch war er, erzählen sie. Vielleicht muss man erst Enkelkinder haben, um mit ihnen die Vergangenheit des Krieges zu vergessen. Beim Trampolin springen oder beim Schuhe kaufen. Als evangelische Christin weiß ich, dass ich ihn irgendwann wiedersehen werde und ich sage euch, darauf freue ich mich sehr. Wer trauert, der hat geliebt und das ist keine Strafe, sondern großes Glück.
Herzlichst, Steph ❤