Der rote Blitz

oder: Bundesjugendspiele

Vorgestern habe ich mal wieder den Negativrekord im Werfen geschafft.

Eigentlich wollte ich dem Ralf nur zeigen, was ich aus seinen für mich mitgebrachten Kastanien so gestaltet habe. „Schau, das ist eine Wurfkastanie“, sagte ich. Mit dem nötigen Respekt bestaunte Ralf meine Bastelarbeiten. „Und so funktioniert sie“, sagte ich. Dazu holte ich mit dem Arm aus und wollte die Wurfkastanie in meiner Hand mit einer Bewegung nach vorne werfen. Wollte… Tatsächlich fiel sie mir beim Ausholen aus der Hand und flog durch’s geöffnete Fenster rückwärts nach draußen, plumpste draußen ins Gartenbeet der Nachbarn, wo Kinder sie fanden und sich freuten. „Hier kommt noch eine“, sagte ich und schmiss die andere gleich hinterher. Ist doch schön, wenn sie Spaß damit haben.

Im Werfen war ich schon immer nicht gut….

Flink und schnell

Ich habe mich als Kind und Jugendliche immer gerne bewegt. Mit vier Jahren war ich jahrelang in der Tanzgarde unseres Karnevalvereins, später probierte ich mich im Handball, war kurze Zeit im Leichtathletikverein, tanzte jahrelang in „Barry Wilkinsons Ballettschule“ Jazzdance und schwamm bei Schwimmwettkämpfen mit. Wenn es im Stundenplan hieß, dass montags die ersten beiden Stunden mit Sport beginnen würden, machte ich Luftsprünge vor Freude, denn ich liebte den Sportunterricht, bei dem ich wirklich nie fehlte. Wenn wir Völkerball/Abtreffball spielten, wurde ich stets als Erste in die Mannschaft gewählt, denn ich war klein und flink, sodass der Ball immer eine Nasenlänge an mir vorbei sauste. Doch dann gab es einmal im Jahr ein Ereignis, das mir die ganze gute Stimmung verhagelte und dieses Event nannte sich… Bundesjugendspiele.

Emily Ehrgeiz kann es nicht erwarten

Der Schulbus hielt und spuckte uns Schüler:innen vor der Schule aus. Ich war in der achten Klasse und hatte null Bock auf den anstehenden Tag, denn es fanden die Bundesjugendspiele statt. Wenn ich irgendetwas im Sport überhaupt nicht konnte, dann waren es Werfen und Weitsprung. Die Kinderzimmer einiger meiner Freund:innen zierten Ehrenurkunden, die Allerbesten durften sich im Gemeindeblättchen abgebildet wissen. Ich bekam nie eine Ehrenurkunde und nicht mal das Zweitbeste, eine Siegerurkunde, hielt ich nur ein einziges Mal in den Händen. Eine Teilnahmebestätigung bekam ich jedes Jahr, aber die wollte ich mir nicht ins Zimmer hängen. Die Zehntklässler, die im Schulbus meist ganz hinten saßen, hatten schon die ganze Busfahrt über gegrölt. Sie fanden die Bundesjugendspiele auch blöd, fanden es aber klasse, dass an diesem Tag kein Unterricht stattfand, daher ihre ausgelassene Freude. Die Einzige, die erhobenen Hauptes und freudestrahlend aus dem Bus stieg, war Emily Ehrgeiz. Sie war schon als Kind von ihren Eltern bei einem Eiskunstlaufverein angemeldet worden und enttäuschte nie. Überall, wo sie mitlief, gewann sie Preise noch und nöcher. Ich hatte mich mal mit ihr angefreundet und zu mir nach Hause eingeladen, aber das war lange her. Weil bei uns kein Eis auf der Straße lag, wollte sie immerzu Rollschuhfahren. Damals wollte sie nie das spielen, was ich spielen wollte, ihre einzige Hingabe galt dem Eiskunstlauf. Ihre Rollschuhe hielt sie an deren Schnürsenkeln in der Hand, als sie nach Hause zu mir kam. Das liebte ich zwar auch, aber anders als sie konnte ich dabei keinen Dreisprung, Rittberger oder Toeloop präsentieren. Ich konnte nicht einmal vernünftig bremsen. Wenn ich unsere abschüssige Straße hinunter rollte (wobei der Asphalt unter meinen Rollen mir bis in die Nase kribbelte), dann fuhr ich zu Bremszwecken meist auf die Jägerzäune zu, an deren Latten ich mich dann festhielt, während mein berollter Unterkörper gerne noch weitergefahren wäre. Dreimal landete ich dabei in der Gartenhecke der Nachbarn, zweimal auf der Nase und einmal hing ich nach einem Bremsversuch kopfüber in der Thuja, wo mich mein Bruder fand und mir die Nadeln aus den Haaren fischte. Emily Ehrgeiz wollte aber nur Rollschuh fahren, wenn sie bei mir zu Hause war. Dann zeigte sie ihre ganzen Übungen in voller Grazie und wollte ganz viel bewundert werden. Mir wurde das irgendwann zu einseitig, weswegen ich sie nicht mehr einlud. Emily war aber nicht nur im Rollschuh oder Schlittschuh laufen erstklassig, sie räumte auch bei den jährlich stattfindenden Bundesjugendspielen alle Punktzahlen ab, gewann immer eine Ehrenurkunde und lachte für die Siegerehrung mit zusammengebissenen Zähnen stolz in die Kamera. Ihr Gesicht war jedes Jahr im Gemeindeblättchen abgebildet.

Playmobil in der Gardine

„Geht euch umziehen, in zehn Minuten sehe ich euch auf dem Sportplatz!“ wies uns unser Sportlehrer an. Er hatte sich eine Trillerpfeife um den Hals gehängt, im Gesicht gut gegen Sonnenbrand eingecremt und hielt die Stoppuhr fest in seiner Hand. Er war ein toller Lehrer, ich mochte ihn sehr. Aber die Tatsache, dass wir an diesem Tag wieder mal in brütender Hitze unsere Leistungen zeigen sollten, missfiel mir. Ich konnte einfach nicht weit springen, meine Beine waren viel zu kurz und ich wusste einfach nicht, wie ich das mit dem Springen noch besser lernen konnte. Es gelang mir einfach nicht. Das gleiche zum Thema Werfen. Zielen konnte ich, aber das war hier nicht gefragt. Ich schmunzelte kurz, denn mir fiel ein, wie ich mit meinem Bruder mal auf dem Sofa gesessen und Playmobilfiguren mithilfe einer Zwille in das löchrige Muster unserer Wohnzimmergardine „geschossen“ hatte. Mein Bruder hatte immer aufgeregt auf meine Schüsse gewartet, denn ich traf jedes mal hundertprozentig. Unsere ahnungslose Mutter wunderte sich oft über die ausgeleierten Lochmuster in der Wohnzimmergardine, für dessen Entstehung sie nie einen sinnhaften Grund ausfindig machen konnte. „Los jetzt, in zehn Minuten beginnen die ersten Läufe und ich will, dass ihr euch noch aufwärmt!“ rief unser Sportlehrer in Richtung der Kabinen. Genervt schnaubend banden wir uns die Turnschuhe fest zu, strichen unsere Hosen glatt und gingen schleppenden Schrittes in Richtung Sportplatz. Auf den Rängen stellten wir unsere mitgebrachten Wasserflaschen und Rucksäcke ab. Meine Mutter wusste, wie sehr ich die Bundesjugendspiele nicht mochte und hatte mir wie so oft eine lustige Botschaft in meiner Brotdose hinterlassen. „Du schaffst das schon. Wenn du heimkommst, ist alles vorbei.“ hatte sie mit einem Zwinkersmiley versehen auf einen kleinen Zettel geschrieben. Wieder kam Frust in mir auf, denn alles das, was hier abgefragt wurde, konnte ich einfach nicht. Alles? Nein. Im Laufen war ich erstaunlich gut. Ich konnte rennen wie ein Puma, der Beute in zehn Kilometern roch. Das schnelle Laufen hatte ich allerdings nicht in der Schule gelernt, sondern im Privaten. Da spielten wir nämlich häufig mal „Klingelmännchen“/“Klingelstreiche“, und das bevorzugt bei der Frau, die wir „Oma Rambo“ nannten. Andere Leute lächelten über unsere Klingelstreiche, Oma Rambo aber stellte sich einen Campingstuhl hinter die Tür, wenn im Dorf ein Kindergeburtstag anstand. Auf diesem Stuhl sitzend, putzte sie ihr Gewehr und wartete auf uns. Es wurde zur Mutprobe, bei Oma Rambo zu klingeln und ich erinnere mich gut daran, wie dieser lustige Kinderspaß irgendwann zu einem Alptraum wurde, als ihr Sohn uns mit seinem Auto quer durch’s Dorf verfolgte. Wir wussten nie, wie weit Oma Rambo und ihr Sohn gehen würden, aber es stand so viel Hass in ihren Augen, dass ich einmal mehr rannte, was das Zeug hielt. An einer völlig fremden Tür klingelte ich, um dem Irren in seinem Auto zu entgehen. „Der Sohn von Oma Rambo ist hinter mir her, bitte machen sie auf!“ flehte ich durch die Türsprechanlage und erhielt stante pede Zugang zu dem fremden Haus. Aber wie gesagt, ums Rennen ging es hier bei den Bundesjugendspielen nur einmal, der Rest bestand aus Werfen und Weitspringen.

Bei Regen sind alle Schaukeln frei

Nach dem Warmmachen trafen wir zum Weitspringen ein. Emily sprang als Erste einen neuen Rekord, der sie müde lächeln ließ. Immer wieder schaute ich mir die anderen an, denn ich hoffte, mir noch etwas bei ihnen abgucken zu können. Als Kind konnte ich doch auch so gut springen. Immer wenn es geregnet hatte, sagte meine Mutter, ich solle nicht auf die Schaukel gehen, denn direkt unter der Schaukel hatte sich dann jedes mal eine tiefe Pfütze gebildet. „Ja ja“, sagte ich dann, hüpfte die Treppen hinunter und begab mich auf die Schaukel. Doch immer, wenn ich gerade am höchsten schaukelte, wenn ich dem Himmel so nah war, dann sah ich meine Mutter am Fenster des Gästeklos, wo sie nur mit dem Kopf schüttelte. Was tun? Mit den Füßen abbremsen ging ja nicht, denn dann wäre das passiert, wovor meine Mutter gewarnt hatte: Schlammbeschmutzte Schuhe. Also sprang ich einfach von der Schaukel runter. Ich machte es mir jedes mal zur Aufgabe, so weit wie möglich, bis zum Kirschbaum zu springen, was mir meist auch gelang. Doch nun hier auf dem Sportplatz gab es keinen Kirschbaum. Man musste die rote Tartanbahn entlang rennen, auf den weißen Strich treten und dann ganz weit im harten Sand landen. „Dann woll’n wir mal“, sagte ich zu mir selbst, als ich dran war. Ich holte tief Luft, pustete sie wieder aus und lief los. Wie gesagt, war das schnelle Rennen kein Problem für mich. Doch genau in dem Moment, in dem ich im Sand landete, hörte ich das Wort „Übergetreten!“. Wenn man übergetreten hatte, galt das Ergebnis nichts und ich musste noch einmal antreten. Meine Laune war so richtig im Eimer, es frustrierte mich immens, immer wieder den gleichen Fehler zu machen. Als ich das nach fünf Versuchen immer noch nicht ohne Übertreten konnte, sagten die gähnenden Helfer am Rande, ich solle einfach zur nächsten Station gehen. Mit einer Ehrenurkunde würde ich wohl auch in diesem Jahr nicht rechnen können.

Weitwurf

Emily warf die Kugel weiter als weit. Keiner jubelte mit ihr. Man hatte ihre arrogante Art satt. Hinter mir hingegen versammelten sich Schüler:innen aller Klassen. Meine katastrophalen Würfe der letzten Jahre hatten mich mittlerweile bekannt gemacht. Ein jeder wollte sehen, „wie Steph mal wieder die Negativrekordmarke von minus fünf Metern hinbekommt.“ Und ja, ich habe sie nie enttäuscht. Süffisant grinsend stand sogar Emily in der Reihe der Zuschauer:innen. Ich mache es so kurz, wie mein Wurf war: Die Kugel fiel mir direkt aus der Hand vor die Füße. Der Helfer am Rand, der meinen Wurf messen sollte, holte nicht mal sein Maßband raus, um die Meterzahl angezeigt zu bekommen. Fast mitleidig sah er mich an und fragte, ob ich nochmal werfen wolle. „Ersparen wir uns beide diese unrühmliche Sache“, sagte ich und ging zur Tribüne, wo die Zehntklässler saßen und Chips aus der Tüte in sich hinein stopften. „Ist doch egal!“ trösteten sie mich und hielten mir ihre Chipstüte hin. „Nee, ich muss noch laufen“, sagte ich ablehnend. Wenigstens im Laufen wollte ich ein gutes Ergebnis erzielen und da war mir jede Chipslette, die ich aß, eine zu viel in meinem Bauch. Dann war es endlich soweit, der 1000 Meter-Lauf stand an. Emily band sich die Schuhe so fest zu, dass ich Angst bekam, dass dadurch ihre Durchblutung am Fuß gestört sein könnte. So war ich schon immer, sogar mit den blödesten Leuten hatte ich noch Mitgefühl. Wir knieten uns in Position, die Hände auf dem krümeligen, harten Gummiboden und warteten auf das Startsignal. Das erste Mal an diesem Tag dachte ich an gar nichts. Nicht mal daran, den Start zu vermasseln. Durch die Schwimmwettkämpfe im Hallenbad hatte ich sehr viel Erfahrung im perfekten Timing. Ich sah, wie die Zehntklässler von dem Affenfelsen (der Tribüne) hinunter kamen und sich alle hinter der Absperrung rund um die Bahn versammelten. Emily schnaufte, während sie angestrengt auf den roten Boden starrte. Es musste schwer für sie sein, immer und überall gewinnen zu wollen. Erst Jahre später sollte ich durch einen Therapeuten die Diagnose „Altruistische Abtretung“ bekommen, die damals schon dazu führte, dass ich ernsthaft überlegte, Emily beim Laufen gewinnen zu lassen nur, damit es ihr besser ging. Doch dann kam das Startsignal durch die Trillerpfeife und ich dachte an gar nichts mehr, sondern lief, als wäre Oma Rambo hinter mir her. Ich lief und lief und als ich die Zehntklässler hörte, die mich mit „Roter Blitz, roter Blitz“ anfeuerten, da wurde ich tatsächlich noch schneller. Diesen Namen hatten sie mir wegen meiner Laufleistung und meine roten Haaren gegeben. Ich rannte, als wäre der Teufel hinter mir her und als wir durch das Ziel rannten, das ich als Erste erreichte, da brauchte ich nochmal fünfzig Meter, um abzubremsen. Die Zehntklässler jubelten lautstark, mein Sportlehrer zeigte mir aus der Ferne lächelnd ein „Daumen hoch“ und meine Klasse klatschte minutenlang. Ich hatte mir ein bisschen meiner verloren gegangenen Ehre zurückerobert. Während meine Mitschüler:innen mich umarmten und hochleben ließen, schaute ich zu Emily, die einsam den Weg zur Kabine antrat. Ich dachte darüber nach, wie schlimm es sein musste, fast alles zu gewinnen, aber dennoch einsam zu sein. Wie würde sie daheim empfangen werden? Meiner Mutter waren meine Erfolge nicht egal, aber sie liebt(e) mich bedingungslos, auch ohne Ehrenurkunde. Bei Emily hingegen würde man vermutlich den ganzen Abend noch im Familienbund darüber reden, warum sie es nicht geschafft hatte, den roten Blitz beim Laufen zu schlagen und das machte mich sehr traurig. Als wir dann am Nachmittag verschwitzt und von der Sonne verbrannt wieder in den Schulbus stiegen, der uns nach Hause bringen würde, da wusste ich, dass ich diesen Bundejugendspieltag zwar mal wieder nur mit einer Teilnahmeurkunde verlassen hatte, aber ich war dennoch froh, dabei gewesen zu sein. Von so vielen Leuten gemocht zu werden, war mir mehr wert, als eine einsame Einzelkämpferin zu sein.

Wie war das bei euch, habt ihr auch Erinnerungen an die Bundesjugendspiele von damals? Ich grüße euch und wünsche euch einen angenehmen Sonntag.

Herzlichst Steph ❤

6 Kommentare zu „Der rote Blitz

  1. Das war für mich der schrecklichste Tag des Jahres: Sportfest in der Schule.
    Völkerball war mir verhasst – eigentlich ALLE sportlichen Tätigkeiten. Geworfen habe ich immer rückwärts, was niemand messen konnte. Das ist nicht mein Ding! Blamage überall. Ich konnte es nicht und deshalb wollte ich es nicht. Das hat sich wohl ins Erwachsensein übertragen. Sport müsste aus dem normalen TV-Programm verschwinden. Ich ärgere mich darüber. Warum soll ich besser, schneller, größer sein, als andere? Das habe ich bis heute nicht verstanden.
    Ich wünsche Dir einen schönen Sonntag. Liebe Grüße, Gisela

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  2. Hallo Steph, Bundesjugendspiele, ein Graus. Weitsprung immer übergetreten, Kugelstoßen, die Kugel fiel mir fast auf die Füße und leider konnte ich auch nicht gut laufen, ich war die 2. langsamste.
    Bei mir gab es noch keine Teilnehmer Urkunde, also absolut nichts.
    Aber jetzt ist es ja vorbei 😊
    Einen schönen Sonntag euch beiden

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