Licht und Schatten

Blick in den Schuppen F der Lübecker Flüchtlingshilfe

Ein Jahr ist es her, dass Putin die Ukraine überfallen ließ und bald ein Jahr ist es her, dass ich mich vom Sofa löste, die Nachrichten ausschaltete und mein Ehrenamt in der Flüchtlingshilfe begann. Es gab urkomische Momente, sehr traurige und viele Hoffnung gebende. Davon will ich euch heute berichten.

Herzlich Unwillkommen

„Sie haben hier nichts zu suchen!“ blaffte mich äußerst unfreundlich eine ältere Frau an. „Ähm, ich arbeite seit zwei Wochen hier“, entgegnete ich ihr. Sie murmelte ein „na gut“ und verschwand wieder. Tatsächlich hatte ich mich in den ersten zwei Wochen meiner ehrenamtlichen Tätigkeit nur im vorderen Bereich des 2.000 qm großen Hafenschuppens aufgehalten und war nie so weit wie da in den hinteren Bereich vorgedrungen. Dennoch fand ich diese Art der Unterhaltung unmöglich unfreundlich. Man stelle sich vor, ich wäre als ukrainische Frau geflüchtet, hätte bei der Flüchtlingshilfe nach Hilfe gesucht, hätte mich verlaufen und wäre so derart unfreundlich „begrüßt“ worden. Was wäre mir da wohl durch den Kopf gegangen? Die nächsten zwei Wochen sollte mir bewusst werden, dass diese Frau keinen anderen Ton kennt. „Die taugt nichts“, raunte sie dem Chef zu, als ich am Tisch Kleidung für Frauen nach Größe sortierte und in verschiedene Kartons verteilte. Es tat mir weh, das zu hören, denn ich finde, ich tauge sehr wohl etwas. Als ich bei meinem nächsten Arbeitseinsatz hörte, dass ich an diesem Tag mit dieser Frau für die gleiche Arbeit eingeteilt wurde, tat ich mir kurz ein bisschen leid. Sehnsüchtig schaute ich dem Ralf hinterher, der damit betraut wurde, ein neues Regal aufzubauen. Könnte ich nicht mit ihm zusammen arbeiten? Das hatte bei uns auch in der Vergangenheit schon immer gut funktioniert. Nun aber hatte ich Bauchschmerzen. Im Ehrenamt. Muss so etwas sein?

Warum gehen einige Menschen so raubeinig mit anderen um, ohne sich darüber Gedanken zu machen, was sie damit anrichten können? Ich beschloss, meinem Therapeuten davon zu berichten und mir bei ihm Rat und eine Portion Stärke abzuholen. Denn einem war ich mir gewiss: Mit Bauchschmerzen würde ich nie wieder zu irgendwelcher Arbeit gehen! Die Arbeit mit der Frau war fürchterlich. Sie beobachtete jeden meiner Handgriffe mit Argusaugen, immer wieder hatte sie etwas auszusetzen. Andere Helfer:innen, die an mir vorbeiliefen, schauten mich mitleidig an. Ich erinnerte mich an eine Helferin, die ihretwegen das Ehrenamt an den Nagel gehängt hatte. Und da kam meine Kraft wieder hervor. Ich würde den Stummen eine Stimme geben. Auf die nächste Beleidigung der mies gelaunten Frau musste ich nicht lange warten, sie hatte ja an allem etwas auszusetzen. „Hör mir bitte mal zu“, sagte ich und schaute in ihr wutverzerrtes Gesicht. „Ich bin hier, um zu helfen. Ehrenamtlich. Ohne Bezahlung. Und ich habe es bei Gott nicht verdient, dass du so mit mir sprichst!“ Dann legte ich die zusammengelegte Kinderkleidung, die ähnlich aussah wie die, in der meine Tochter beerdigt wurde, auf den Tisch und entfernte mich mit den Worten: „Ich brauch‘ jetzt eine Pause.“ Dass ich ausgerechnet in einer Organisation, die Hilfe bietet, so etwas erleben musste, hing mir lange nach. Eine Woche später beschuldigte sie die anderen Helfer.innen, ihre Daunenweste mit Audi-Emblem geklaut zu haben, stritt sich mit dem „Chef“, gab ihm ihre Schlüssel und ward nicht mehr gesehen.

Die neuen Sneaker

Doch leider hatte sie noch einen Ableger herangezüchtet. Eine kleine Frau mit schütterem Haar rief mich stets „Hallo?“, auch wenn ich klar und deutlich meinen Namen auf ein Stück Malerkrepp an meinem Pulli befestigt hatte. „Hallooo? Leg das bitte mal dahin!“ oder „Hallooo? Nimm das mal mit!“ waren ihre ständigen Ansagen an mich. „Hallooo? Hier sind nagelneue Schuhe, stell die mal ganz oben ins Regal!“, befahl sie mir unter anderem. Es war ein Tag, an dem der Frühling zwar schon angekommen, aber sich noch nicht so richtig entfaltet hatte. Die Sonne strahlte hell, der Wind allerdings pfiff unerbittlich um das alte Hafengebäude herum. Ich war gerade dabei, mit meiner Kollegin Sabine die vor der Kleiderkammer wartenden Kund:innen vor dem Eintritt zu registrieren. Dazu lässt man sich den Ausweis und das Jobcenterschreiben mit der BG-Nummer vorzeigen. Das ist nötig, um sicherzustellen, dass die Menschen bedürftig sind. Während ich die Namen und Nummern in eine Liste eintrug, sah ich aus den Augenwinkeln ein circa 13-jähriges Mädchen in der Schlange stehen und frieren. Sie zitterte am ganzen Körper. „Ihre Familie ist vergangene Nacht aus der Ukraine hier her geflohen, sie haben nur das, was sie anhaben, als Kleidung dabei“, erzählte mir unsere Übersetzerin Mariia, die selbst aus der Ukraine geflohen war, wo sie jahrelang Deutsch als Fremdsprache in der Schule unterrichtet bekam. „Ach du meine Güte!“ entfiel es mir. Schnell legte ich den Stift bei Seite, sagte Sabine, sie solle

erst einmal ohne mich weitermachen und ging schnellen Schrittes in unsere Halle. Dort ging ich gezielt zu der Kiste mit den warmen Decken, griff mir eine besonders kuschelige heraus und wollte mich gerade wieder auf dem Weg nach draußen machen, da erinnerte ich mich an die neuen Sneaker in dem Karton ganz oben im Regal. Schuhgröße 37, die müssten passen. Mithilfe einer Leiter kam ich oben an, nahm den Karton unter den Arm und ging wieder nach draußen. Als ich die wärmende Decke über ihren Schultern ausbreitete, huschte ein scheues Lächeln über ihr Gesicht. Ihre Eltern überschlugen sich mit Worten der Dankbarkeit, wie Mariia mir übersetzte. „Magst du sie fragen, welche Schuhgröße sie hat?“, fragte ich sie. „37.“ Nun huschte mir ein großes Lächeln über das Gesicht. Ich nahm den Karton, öffnete ihn und zeigte dem jungen Mädchen die neuen Schuhe. Sie probierte sie sofort an. Sie passten. Ungläubig schaute sie mich und ihre Eltern an, bevor ihr Lächeln sich zu einem Strahlen entwickelte. „Sie fragt, ob sie dich umarmen darf“, übersetzte Mariia. Und ja, das durfte sie. In mir breitete sich ein großes Glücksgefühl aus, welches mein Herz wärmte und mich zufrieden zu meiner Arbeit zurück gingen ließ. Heute Abend würde ich meiner Mutter am Telefon davon berichten, sie würde sich bestätigt fühlen, in mir ein guten, humanistisch denkenden Menschen erzogen zu haben. Doch die Sonne in meinem Herzen wurde von einer heftigen Gewitterwolke bedroht. Diese kam in Form einer kleinen Frau mit schütterem Haar herbei. Warum ich die nagelneuen Sneaker verschenkt habe, wollte sie wissen. Ich verstand die Frage nicht. „Hallooo? Die waren ganz neu!“ Noch immer konnte ich ihr nicht folgen. „Die standen extra ganz oben im Regal, weil die neu sind“, wollte sie mir auf die Sprünge helfen. „Ach, und du machst hier die Auslese, wer was bekommt oder wie?“, fragte ich sie und hielt ihrem Blick stand. Dann setzte ich an und erklärte mich und mein Verhalten. „Da draußen steht ein junges Mädchen zitternd in der Frühlingssonne. Gerade vor dem schrecklichen Krieg geflüchtet mit nichts als den Sachen, die sie am Leib trägt. Ich weiß nicht, für wen diese Schuhe geeigneter wären als für sie. Man muss geflüchteten Menschen nicht noch an der Kleidung ansehen, dass sie Geflüchtete sind!“, sagte ich. Damit war für mich das Gespräch beendet. Für sie die Zusammenarbeit bei der Flüchtlingshilfe. Sei’s drum.

Ich werde dich lecker behandeln

Mariia kam auf Umwegen dazu, bei uns als Helferin anzufangen. Sie war im sechsten Monat schwanger, als sie in die Kleiderkammer kam und nach einem Babybett für ihr erstes, noch ungeborenes Kind fragte. Wir freuten uns sehr darüber, ihrem Wunsch nachkommen zu können und noch mehr, als sie eine Woche später sagte, sie könne ihre Hilfe als Übersetzerin anbieten. Ab da war Mariia fest im Team verankert. Sie erzählte uns, dass sie in der Ukraine jahrelang Deutsch als Schulfach gelehrt bekam und vor einem Monat vor dem Krieg nach Deutschland geflüchtet sei. Ihre Eltern seien noch in der Ukraine, ihr Verlobter und Vater des Kindes kämpfe aktuell als Soldat an der Front. Endlich hatten wir eine ukrainische Muttersprachlerin mit perfekten Deutschkenntnissen im Team. Zwar haben viele Menschen aus anderen Ursprungsländern als Deutschland mit ihrem Handy die Möglichkeit, Sätze über eine App übersetzen zu lassen, allerdings kommen da mitunter komische Sätze bei heraus. „Hast du ein Handtuch und einen Bettbezug für mich, dann werde ich dich lecker behandeln“, übersetzte das System einen älteren Herren, der zu mir sprach. Ein Handtuch und Bettwäsche hatte ich für ihn, aber lecker behandelt werden wollte ich nicht so gerne. Einen Tag später zeigte mir das Leben und nicht das Übersetzungs-App, was er mir eigentlich mitteilen wollte: Aus Dankbarkeit über die Hilfe, die er von uns bekam, brachte er eine Schüssel voller Essen mit. Es waren gefüllte Weinblätter. Einige waren mit Reis gefüllt, einige mit Fleisch. „Das ist ein ukrainisches Nationalgericht“, schrieb mir meine hier seit zehn Jahren lebende Freundin Mascha auf meine Frage hin. Leider habe ich den Namen dieser köstlichen Nahrung vergessen. Nun bereicherte Mariia also unser Helfer:innen-Team und machte so vieles so viel leichter. Mitte August verabschiedeten wir sie mit einer Karte und einem Blumenstrauß in ihren Mutterschutz, im September gebar sie ihr Kind. Damit der Kontakt nicht abreißt, haben Sabine oder ich immer mal wieder mit ihr telefoniert. Im November kam sie dann selbst vorbei. Was haben wir uns darüber gefreut. „Eine Freundin passt auf das Kind auf. Ich wollte euch fragen, ob ihr vielleicht Kinderkleidung für mein Baby habt. Es wächst so schnell. Vom Staat werde ich finanziell nicht unterstützt, denn die Behörden haben wegen Corona viel aufzuarbeiten und konnten mir daher noch nicht die Geburtsurkunde ausstellen. Meine Mutter schickt mir Geld aus der Ukraine, damit ich Lebensmittel für mein Kind kaufen kann“, berichtete sie. Was für sie unspektakulär zu sein schien, hinterließ uns fassungslos. Da sendet eine Frau aus dem Kriegsgebiet Geld für ihre Tochter und das Enkelkind. Weil hier in Deutschland die Behörden nicht hinterherkommen? Unfassbar. Zum Glück konnten wir ihr nicht nur mit Kleidung für ihr Kind, sondern auch mit Babybrei und Windeln zunächst weiterhelfen.

Psychologischer Beifahrer

Nach drei Monaten Ehrenamt bekam ich nicht nur den Schlüssel für das Gebäude der Flüchtlingshilfe, sondern auch die Lagerleitung übertragen. Das hat mich in meiner Aktivität, die ich bis dahin aufbrachte, bestätigt. Dennoch gilt es, gut aufzupassen, denn ich bin beruflich bei meiner letzten Arbeitgeberin ausgeschieden, weil ich ein Burnout durchlitten habe. Das heißt, dass ich selbst auf mich aufpassen muss, denn sonst macht das keiner. Ich muss lernen, Arbeiten öfter zu delegieren, „Nein“ sagen zu können und mich abzugrenzen. Das fällt mir mitunter schwer. Ich bin froh darüber, einen Therapeuten an meiner Seite zu haben, der mich als Beifahrer wie ein Fahrlehrer durch mein Leben begleitet und hier und da mal korrigierend ins Lenkrad greift. Wenn ich etwas tue, dann bin ich mit Herz und Blut bei der Sache. Dem großartigem Team um mich herum habe ich immer zeigen wollen, wie sehr ich die Arbeit eines jeden einzelnen schätze. Zur Oktoberfestzeit habe ich aus alter Kartonage Herzen für alle gebastelt. Jedes Herz war mit dem jeweiligen Namen der Helfer:innen versehen und jede(r) musste sein eigenes Herz im alten Hafenschuppen erst mal suchen. Es freut mich sehr, dass viele Helfer:innen ihr Herz um den Hals gebunden tragen, wenn sie im Dienst sind. Als uns neulich ein Team des NDR-Fernsehen besuchte, um über Burnout im Ehrenamt zu berichten, da habe ich mich gleich gemeldet und ein Interview gegeben. Ich reibe mich gerne auf, wenn es anderen schlecht geht, weil meine eigene Biografie es so hergibt. Ich weiß, wie es ist, wenn man nichts zu essen hat. Der Mann, mit dem meine Mutter zwei wunderbare Kinder hat, hat uns Kindern im Trennungsjahr in der gemeinsamen Wohnung nicht nur die Zutaten für ein sättigendes Schulbrot aus dem Kühlschrank gestohlen, er hat auch keinen Unterhalt für uns gezahlt. Kein Mensch sollte so etwas erleben, kein Mensch sollte spüren müssen, dass er anderen Menschen egal ist. Daher ist mein Engagement in der Flüchtlingshilfe ungebrochen.

Fazit

Heute, am 25.02.23, ist die Flüchtlingshilfe mithilfe der Malteser, der Johanniter und des THW komplett umgezogen. Vier Monate haben wir Helfer:innen diesen Umzug vorbereitet. Ich war nicht dabei, weil ich eine Auszeit brauchte. Das Wochenende ist mir heilig. Da meldet sich der psychologische Beifahrer. Es wird auch in den neuen Räumen weiterhin alles geben, was bedürftige Menschen benötigen: kostenlose Kleidung, Elektrogeräte, Geschirr, Lernmaterial und Spielzeug für die Kinder. Was ich mit meinem Text sagen möchte, ist, dass es durchaus anstrengend sein kann, ein Ehrenamt zu begleiten. Es gibt Menschen, die dort nicht hinein passen. Ich möchte mich nicht mit einer Person darüber streiten, neue Schuhe herausgegeben zu haben. Ich habe soviel Selbstliebe, als dass ich sagen kann, dass man mich bitte nicht anschreien möge, während ich helfe. Ich bin sehr dankbar über viele Helfer:innen, die mir und allen anderen den beruflichen Alltag schön machen, während wir alle immer wieder daran denken müssen, wofür wir das alles machen. Von den eigenen Befindlichkeiten zurück auf die Meta-Ebene: Flüchtlingshilfe. Helfen, wo Hilfe gebraucht wird. Wir können jeden Tag sagen, dass uns die schrecklichen Nachrichten zu viel werden und wir haben die Möglichkeit den Fernseher, das Radio abzuschalten. All das haben die Menschen in Kriegsgebieten nicht. Bleiben wir zuversichtlich, hoffnungsvoll und vor allem empathisch.

Herzliche Grüße, Steph

Ein Kommentar zu „Licht und Schatten

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