Die Herbergsmutter

Neulich habe ich alte Schulhefte meiner Großmutter gefunden. Fein säuberlich notierte sie darin physikalische Gesetze, rechnete Prozente aus und zeichnete Versuchstabellen. Ich fand es faszinierend, dies alles zu sehen, denn komischerweise habe ich mir meine Oma nie als Schülerin vorgestellt. Wollt ihr sie kennenlernen? Ich nehme euch mit auf einen kleinen Ausflug.

Edelsteine

Meine Oma heißt Gretel. Als Kind habe ich daher immer gedacht, sie wäre einem Märchen der Brüder Grimm entsprungen. Bestimmt hatte sie genug vom bunten Lebkuchenhaus genascht und bestimmt achtete sie deswegen bei mir stets darauf, dass ich gesundes Essen bekam. Und hatten Hänsel & Gretel nicht auch Edelsteine mitgebracht, als sie sich von der bösen Hexe befreien konnten? Tja, meine Oma wohnte in der Edelsteinsiedlung, also wenn das kein Indiz war. Während meine Mama, mein Bruder und ich in Nordhessen wohnten, lebten meine Großeltern an der Ostsee. Unvergessen, wie ich als Vierjährige einem Mitarbeiter vom Ordnungsamt sagte, wir müssten keine Kurtaxe zahlen, „weil meiner Oma die Ostsee gehört!“. Das war auch der Zeitpunkt, an dem ich meine Großeltern mütterlicherseits kennenlernte. Sie fanden den Mann, mit dem meine Mutter zwei wunderbare Kinder hat, unmöglich und mieden lange den Kontakt. Aber als wir uns dann sahen, war alles voller Liebe. Dennoch fand meine Oma es wichtig, mir einige Regeln aufzuerlegen. „Die Tapete fasst man nicht an“, sagte sie, oder „Wenn man pupsen muss, dann geht man vor die Tür!“. Sie zeigte mir, wie man einen Tisch eindeckt und dass man beim Mittagessen nicht nur die leckeren Rouladen isst, sondern auch das Kohlrabigemüse und die Kartoffeln. „Du hast dir ja gar nicht das Gesicht gewaschen, in deinen Augen ist noch Sand vom Sandmännchen“, begrüßte sie mich eines Morgens. „Ich darf mir die Augen nicht waschen, weil die entzündet sind“, log ich sie, Mutter von sechs Kindern, an. Im Nachhinein glaube ich, dass meine Oma einen schweren Stand hatte, denn während mein Opa mir alles erlaubte, alles kaufte und Fünfe gerade sein ließ, sorgte sie dafür, dass ich meine Hausschuhe im Haus trug, meinen Mittagsschlaf hielt und nichts anstellte, was dem lieben Gott nicht gefiel.

Ist Gott genervt?

Überhaupt war sie eine gottesfürchtige Frau. „Ich werde heute Abend für dich beten“, sagte sie ganz oft und ich wusste nie, ob das gut gemeint war oder ob sie beim lieben Gott über mich petzte. Ein Cousin meiner Mutter erzählte mir mal am Telefon, dass in der Kindheit meiner Oma mal die Nazis bei ihnen klingelten und meinen Uropa festnahmen. Sein Vergehen: Er hatte mit seiner Familie vor dem Abendessen ein Gebet gesprochen und im Kirchenchor Posaune gespielt. Charlotte, die Schwester meiner Oma, war in jungen Jahren Diakonisse geworden und lebte ein sehr frommes Leben. Omas Brüder Hans und Helmut sind im 2. Weltkrieg gefallen, der eine an seinem Geburtstag. Ihr anderer Bruder mit Namen Emil lebte später mit seiner eigenen Frau im Elternhaus von Oma. Ihren Ehemann, meinen Opa, lernte Oma im Kirchenchor kennen. Er war in Pillau in der Nähe von Königsberg geboren, floh später mit der „Wilhelm Gustloff“, musste nach dem Notabitur sofort an die Front und strandete irgendwann in Oldenburg/Holstein, wo er glücklicherweise auf meine liebe Omi traf. Wenn ich bei Opa & Oma war, dann durfte ich nicht fluchen, denn das mochten beide nicht. Und auch ein „Oh Gott!“ musste ich mir stets verkneifen, denn Oma sagte, man missbraucht den Namen des Herrn nicht für seine eigene Schusseligkeit. Wenn ich bei meinen Großeltern war, dann schlief ich immer im ehemaligen Kinderzimmer einer meiner Tanten. Anders als zu Hause habe ich dann abends nie gebetet, denn ich dachte, dass meine Oma eh schon so viel für mich betete und ich wollte den lieben Gott nicht nerven.

Der arme Metzger

Einmal in der Woche fuhren meine Großeltern und ich zum Wochenmarkt. Opa blieb dann im Auto sitzen und hörte Musik, zu der er im Takt auf’s Lenkrad klopfte. Manchmal klopfte er allerdings auch auf’s Lenkrad, weil er dachte, dass dadurch meine Oma „endlich in die Gänge kommt“. Es war nämlich so, dass meine Oma sehr kontaktfreudig war. Immer sah sie irgendjemanden, den sie kannte oder wurde selbst erkannt. Dass ihr Mann im Auto ungeduldig auf ihre Rückkehr wartete, war ihrer Meinung nach sein Problem, nicht ihres. „Sie sind doch die Herbergsmutter“, hieß es dann auf dem Wochenmarkt stets, denn meine Großeltern hatten lange Zeit die Jugendherberge in ihrem Wohnort Lübeck geleitet und später auch die Kantine des Amtsgerichts übernommen. Auf dem Wochenmarkt blieb sie tatsächlich an jedem Stand stehen, unterhielt sich und kaufte etwas. Das fand ich irre langweilig und ich sehnte mich zu Opa ins Auto zurück. Doch dann merkte ich, dass ich an jedem Stand ein Geschenk bekam, wenn Oma mich als ihre Enkelin aus Kassel vorstellte. Den Bauch voll mit Wurst- und Käsescheibchen sowie Apfelschnittchen oder Bonbons ließ ich mich pappsatt auf den Rücksitz von Opas Auto fallen. „Soviel Aufschnitt?“ fragte er mal und Oma sagte: „Dem Metzger ist die Frau weggelaufen, da musste ich mehr kaufen, denn er hat nun bestimmt Geldsorgen und viel Kummer.“ Und genau das war das, was meine Oma so besonders machte: Sie gab nicht vor, Christin zu sein, sie lebte es. Dem Zeitungsausträger legte sie oft ein kleines Geschenk in die Zeitungsrolle neben der Haustür, die Männer von der Müllabfuhr bekamen an heißen Tagen von ihr kalte Limonade gereicht und die Nachbarin frische Brötchen an die Tür gehängt.

Es war allerdings nicht so, dass sie wahllos das verdiente Geld ausgab. Sparen war schon immer angesagt. Das bekam ich als Kind immer dann zu spüren, wenn meine Mutter, meine Tante, mein Bruder und ich in den Hansapark fuhren. Ich freute mich neben den Fahrgeschäften auf Pommes, Limo und Eis, doch meine Oma packte uns Rote Bete, hartgekochte Eier, Krautsalat und Wasser ein. Und damit wir wirklich für alles gewappnet waren, gab es noch eine Rolle Toilettenpapier mit drauf. „Oma, im Hansapark haben sie genug Klopapier“, jammerte ich. Wer will schon mit einer Rolle Klopapier durch den Freizeitpark laufen? „Das kann man nie wissen, nimm mal lieber zwei Rollen mit“, sagte sie dann. Meine Mama sagt, dass Oma die Finanzfrau im Hause war und alle es ihr zu verdanken haben, dass das Eigenheim in der Edelsteinsiedlung zu ihren Lebzeiten abbezahlt war. Sie hat ihr ganzes Leben immer gearbeitet. Wenn meine Ferien zu Ende waren und ich wieder nach Kassel musste, dann stand meine kleine Omi oft vor mir, sagte Sätze wie „Guck mal, in deiner Tasche ist ein Loch“ und schwuppdiwupps hatte sie mir einen Geldschein zugesteckt.

Kinder haften für ihre Eltern

Oft hat meine Oma uns in Nordhessen besucht. Dann nahm sie alle Geschirrhandtücher aus dem Küchenschrank meiner Mutter und häkelte neue Aufhänger dran. Mir zeigte sie auf einem Stück Leinen, wie man stickt und als uns das Material ausging, da nahm sie ein Wäschetuch von Persil und stickte mit mir schöne Muster ins das Gitternetz. An einen Besuch meiner Oma kann ich mich noch ganz genau erinnern. Ich war sechs Jahre alt und betrieb in meiner Freizeit einen kleinen Einkaufsladen in meinem Kinderzimmer. Die Frauen aus dem echten „Tante Emma-Laden“ hatten mir dazu Gemüsetüten aus Papier geschenkt. Vom Hamburger-Laden mit dem großen gelben M besorgte mir meine Mutter eine Verkäuferinnen-Kopfbedeckung und vom Metzger aus unserem Dorf bekam ich eine Wurstzange geschenkt. Alles in meinem Laden sollte echt aussehen. Deswegen bastelte ich zusätzlich eine Videokamera zur Überwachung meiner Kunden und schrieb ein Schild die Worte „Kinder haften für ihre Eltern!“ Das fand ich besonders witzig, denn sonst war es ja immer umgekehrt. Dann kam der Tag, an dem Oma uns besuchte. Sie hing ihre Jacke an die Garderobe im Flur, stellte ihren Koffer in mein Kinderzimmer und legte mir eine Dose Knete auf die Kommode im Flur. Allerdings sagte sie nicht, dass diese Dose ein Geschenk für mich war. Es war eine Dose der Firma Play Doh und es befand sich Knete darin. Ich liebte es zu kneten, jedoch war mir die Knete meist zu hart. Meine Mutter aber befand, dass es gut für die Motorik sei, Knete so lange in seiner Hand zu kneten, bis eine modellierbare Masse daraus wurde. Mit der Play Doh-Knete aber, das wusste ich vom Spielen bei meiner Freundin, war es nicht nötig, die Knete erst anzuwärmen. Sie war immer weich, immer knetbar und roch so gut. Die ganze Woche ihres Besuchs stand die Dose Knete unangerührt auf der Kommode, denn ich wusste, meine Oma hatte es gerne, wenn man der Versuchung nicht gleich nachgab, und Geduld war eine der Tugenden, die sie sehr schätzte. So hatte sie mir zum Beispiel mal ein Päckchen geschickt und es mit einer langen Paketschnur, in der sich sehr viele Knoten befanden, zugeschnürt zugesandt. „Ich habe das Paketband in seiner Länge nachgemessen und möchte, dass du jeden einzelnen Knoten löst, um an den Inhalt des Paketes zu kommen“, forderte sie mich am Telefon heraus. Gerade ich, die Pakete zu gerne auffetzte und die Ungeduld in Person war, sollte so lernen, geduldig zu sein. Fluchend saß ich einen halben Tag daran, diese für mich schwierige Aufgabe zu lösen. Doch als ich abends im Bett den lieben Gott bat, meine vielen bösen Wörter zu entschuldigen, da schwang auch ein bisschen Stolz mit, das Paketband ohne Schere und andere Hilfsmittel geöffnet zu haben. Das Band am Stück sollte ich ihr zurückschicken, wo sie die Länge ausmaß. Als Oma nach einer Woche wieder ihren Koffer packte und ihre Jacke vom Garderobenhaken nahm, da fragte sie mich, warum ich die Dose Knete nicht angerührt hätte. „Weil du nicht gesagt hast, dass die für mich ist“, sagte ich kleinlaut und bescheiden. Da gab es von ihr einen extra Knutscher auf meine Wange. Als sie weg war, fiel mir auf, dass mein selbstgeschriebenes Schild „Kinder haften für ihre Eltern“ nicht mehr über meinem Einkaufsladen hing. Wo das wohl abgeblieben war? Da rief die Oma an und sagte, dass sie wieder gut an der Ostseeküste angekommen sei. „Das Schild in deinem Laden hat mir so gut gefallen, da habe ich es mitgenommen“, flüsterte sie mir durch den Hörer zu. So war sie, meine Oma.

Spiel, Sekt und Salzstangen

Wie gesagt waren meine Großeltern sehr fleißige Menschen. Als mein Opa aus dem Krieg heimkehrte und das Geld fehlte, um zu studieren, da leitete er eine Flüchtlingsunterkunft. Später kam eine Kantine hinzu, dann die Jugendherberge und die Gerichtskantine. In der Jugendherberge hatte mein Opa einem jeden Zimmer einen Städtenamen aus seiner ostpreußischen Heimat gegeben. Um die Gäste am Morgen zu wecken, ging er Akkordeon spielend durch den Hausflur an jeder Tür vorbei und weckte die Gäste mit schönen Liedern. Im Sommer luden sie junge Skandinavier:inen zu sich ein. Sie konnten kostenlos in der Herberge wohnen und ihre Deutschkenntnisse verbessern. Im Gegenzug mussten sie mithelfen, die Jugendherberge am Laufen zu halten. Alles, was in der Jugendherberge passierte, weiß ich nur aus Erzählungen. Zudem erzählten mehrere prall ausgefüllte Gästebücher von den schönen Aufenthalten der Gäste. Als ich meine Oma kennenlernte, war sie Rentnerin. Wenn ich dachte, dass ich abends ins Bett müsste, dann holte Oma die Salzstangen heraus. Für sie gab es dazu Sekt, für mich Orangenlimo. Dann sagte sie, ich solle mal in den Keller gehen und ein Spiel herauf holen. Man, war das ein Spaß. Dann stand ich in dem Keller vor dem Regal, das über und über mit Brettspielen voll stand und suchte mir etwas heraus. Wir spielten, was das Zeug hielt und ich war stets der Meinung, die tollste Oma der Welt zu haben. Von der Hexe geflüchtet, mit Edelsteinen beschenkt, saß sie da neben mir, knabberte an den Salzstangen und freute sich. Manchmal schaue ich in den Himmel, grüße sie ganz lieb und werfe ihr Luftküsse zu. Das alles, was ich hier schreibe, ist nur ein Bruchteil dessen, was meine Oma alles ausmachte. Sie ist so viel mehr. Morgen, am 19.März, wäre sie 95 Jahre alt geworden. Ich bin gesegnet, dass sie nun im Himmel über mich wacht, dass sie mir in ihren sozialen Diensten stets ein Vorbild war und das ich ihre Enkelin bin. Danke Oma. Für alles.

Herzlichst, eure Steph ❤

Ein Kommentar zu „Die Herbergsmutter

  1. Liebe Steph, so schöne Erinnerungen. Auch ich hatte die beste Großmutti der Welt. In meinen Erinnerungen war ich ganz oft in der Ferien bei ihr, ohne meinen Bruder der mochte es nicht so gerne alleine von Zuhause weg zu sein. Ich war dann der Mittelpunkt. Es wurde kein großes Trallala gemacht, ich war einfach da. Und hatte sogar eine beste Freundin direkt neben ihr. Wenn ich von ihr träume freue ich mich immer sehr, sie mal wieder zu sehen.
    Noch einen schönen Sonntag, Annette

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