
Kindergarten. Sternchengruppe. 7:30 Uhr. Nachdem ich alle Stühle von den Tischen gehoben, die Mal-, Knet- und Spieltische vorbereitet, den Tee gekocht und das Frühstücksgeschirr bereit gestellt hatte, saß ich vor der Essensgeldabrechnung, die ich für die Eltern fertig bekommen musste. Der Essensanbieter, der unserem Kindergarten werktäglich das Mittagessen lieferte, wollte für seine Dienste bezahlt werden. Ab und zu wurde ich in meiner Rechnerei unterbrochen. Entweder klingelte das Telefon, ein Kind wurde gebracht oder Eltern wollten ein „Türangelgespräch“. Der schlaue Ingo (6) indes hatte mitbekommen, dass da irgendwas im Busch war mit den Erzieherinnen. Er hatte wohl ein paar Diskussionen seiner Eltern über das Thema gehört. „Die Erzieherinnen streiken“, stellte er fest und setzte sich neben mich. Ich hatte seinen Satz vernommen, musste mich allerdings gerade sehr konzentrieren, denn die Rechnung stimmte nicht. „Die Erzieherinnen streiken“, ertönte es wieder. „Hmmmm“, stimmte ich ihm zu, ohne meine Augen von der Tabelle zu lassen. Wo hatte ich einen Rechenfehler begannen, wo war er nur, der Fehler? „Die Erzieherinnen streiken“, hörte ich es plötzlich aus Ingos Mund. Ich atmete tief aus. „Ingo“, sagte ich. „Was möchtest du von mir?“ Doch weil er das selbst wohl nicht ausdrücken konnte, half ich ihm. Um ihm das zu erleichtern, sagte ich: „Du kannst damit nichts anfangen, dass die Erzieherinnen streiken und möchtest nun wissen, was dahinter steckt, stimmt’s?“
Er nickte. So, nun war es raus. „Wir besprechen das später im Stuhlkreis. Nimm dir doch ein Puzzle, setzt dich neben mich und wenn du den Rahmen fertig hast, bin auch ich hier fertig und dann puzzeln wir zusammen, okay?“ „Okay.“
Fieber messen im Dino
Und so kam es auch. Ich war mir zwar sicher, dass weder die Dreijährigen noch die Vier bis Fünfjährigen das ganze Streikding interessierte, aber wenn von uns laut Bildungsplan schon verlangt wird, den Essensplan mit den Kindern im Stuhlkreis abzustimmen, um sogar den allerkleinsten Demokratiegedanken anhand von Partizipation vorzustellen, dann kann man doch durchaus mal eine kleine politische Runde mit den Kindern durchführen. Ich wollte nun gerne mit dem Stuhlkreis beginnen, aber der Essensmann kam mir dazwischen. Ich sah ihn am Fenster vorbeihuschen. Kurz dachte ich darüber nach, wie schön es früher war, als die Hauswirtschafterin Frau Fröhlich in unserer Kindergartenküche stand und leckeres Mittagessen für die Kinder zubereitete. Die Kinder liebten es, sie in der Küche zu besuchen und mal in den Kochtopf gucken zu dürfen. Doch das war lange Geschichte. Das Essen kam nun von einer Cateringfirma. Und das bedeutete Arbeit. Wenn der Essensmann erschien und den Container mit dem Mittagessen ablieferte, wussten die Kinder schon genau, was danach folgte. „Fieber messen!“ riefen sie dann wild durcheinander und rannten los, um das „Fieberthermometer“ für mich aus dem Gruppenraum zu holen. Es verhielt sich nämlich so: Wenn das Essen geliefert wurde, musste ich das eigens dafür angeschaffte Lebensmittel- Thermometer holen und die Temperatur der Speisen nachmessen. Das heiße Menü durfte nie kälter als 65°, kalte Speisen wie Pudding oder Salatdressing nie wärmer als 7° betragen. Die Temperaturbefunde musste ich in eine Liste eintragen, auf der ich immer mit meiner eigenen Unterschrift dafür bürgte, dass das Essen so heiß war, dass ich es an die Kinder mit gutem Gewissen rausgeben durfte. „Das ist ein Witz, oder?“, fragte mich meine Freundin Anna mal, als ich ihr davon berichtete. „Dachte ich auch, bis ich an einem Nachmittag mal Besuch von einem sehr korrekt arbeitenden Mann des Gesundheitsamtes bekam“, antwortete ich. Mir aufgetragene Arbeiten nehme ich immer ernst. Gerade mit dem Hintergrund, dass meine Großmutter „väterlicherseits“ nach einer Salmonellenvergiftung im Krankenhaus starb. Jedoch könnt ihr euch vielleicht vorstellen, wie es ist, wenn es Schnitzel in Dinosaurierform zum Essen geben soll und ich sie zurückgehen lassen muss, weil sie nur lauwarm angeliefert wurden und ich das nach Hygieneplan nicht annehmen darf. Das gab Tränen noch und nöcher. Erst bei den Kindern und später bei mir. Das war allerdings noch nicht alles. Auch wenn das Essen heiß geliefert wurde, musste ich immer etwas davon in eine kleine Tupperbox füllen und im Kühlschrank eine Woche aufbewahren. Für den Fall, dass eines der Kinder durch das Essen krank wurde, sollte dies laut Hygieneplan als Nachweis dienen. Früher Erzieherin, jetzt Essenskontrolleurin, Beweisesicherungsfrau und Listenführerin.
Das Pferd im Flur
Nachdem ich mich persönlich versichert hatte, dass das Essen über 65 ° hatte und in der Liste neben dem Häkchen meine Unterschrift setzte, konnte ich zurück zum Stuhlkreis. Zwar wollte ich noch Ingos Rede- und Erklärungsbedürfnis wegen des Erzieher:innenstreiks nachgehen, aber zu erst musste ein Ritual der Kinder stattfinden. Spielzeug zeigen. Denn Mittwoch ist immer Mitbringtag. Jedes Kind darf ein Spielzeug seiner Wahl mit in den Kindergarten bringen. Darüber gab es bei uns schon viele Diskussionen. Denn was am Anfang als nette Geste von uns Erzieherinnen gedacht war, hat sich in all den Jahren als Wettrüsten der konsummächtigen Elternschaft umgewandelt. Mein erstes Erinnerungsplakat à la „Bitte nur ein Spielzeug pro Kind“ musste ich bald ergänzen, denn die Kinder brachten Puppenwägen, Roller, Raketenabwehrsystemstationen, Ponys, die so groß wie ein ein echter Labrador waren, mit. Die Eltern hinderten sie nicht daran. „Bitte nur ein Spielzeug und ein nicht zu großes, denn dafür haben wir im Gruppenraum kein Platz.“ Aber ich wäre ja naiv, hätte ich gedacht, nun wäre alles beim Guten. Lilly (4) war die Erste, die mit ihrer Flöte fröhlich in den Gruppenraum kam. Das blieb von den anderen Kindern nicht unbemerkt, und so waren es in der darauffolgenden Woche gleich drei Kinder, die sich daran erinnerten, dass sie solche Dinge auch zu Hause haben und es mitbrachten. Wieder eine Woche später hatten wir ein halbes Orchester zusammen. Wir hatten drei Flöten, zwei Ukulelen, vier Melodikas, eine Trommel und eine batteriebetriebene Gitarre. Da allerdings nur zwei der aufgezählten Instrumentenkinder die musikalische Früherziehung besuchten, kann man sich vielleicht ein wenig vorstellen, welchem Lautstärketerror wir alle in diesen Tagen ausgesetzt waren. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass der Träger endlich mal dafür sorgen würde, eine Schallschutzdecke einzubauen. Es half nichts. Um die Kinder und auch mich zu schützen, schaffte ich den Mitbringtag kurzerhand wieder ab.
Wachsende Steine
Aber zurück zum Stuhlkreis. Nach dem Herumzeigen des Spielzeuges stand Naturwissenschaft auf dem Bildungsplan. Von einem Unbekannten (mir) bekamen wir einen Brief. Ich las vor, was ich selbst am Abend zuvor geschrieben hatte, (Hatte ich schon erwähnt, dass die Vorbereitungszeit für Erzieher:innen nirgends geregelt ist und in vielen Einrichtungen ganz abgeschafft wurde?) und tat so, als läse ich das Ganze wirklich zum ersten Mal und runzelte manchmal theatralisch die Stirn. Mein unbekanntes ICH hatte einen Gegenstand in den Briefumschlag getan und nun sollten die Kinder herausfinden, um welchen Gegenstand es sich handelte. Die Unbekannte erwähnte in seinem Brief nur, dass es wächst, man es essen kann und es irgendwann Farbe und Form wechselt. „Was könnte das sein?“ fragte ich und legte die kleine Bohne auf den Tisch. „ Knete“, „Papier“, „ein Zahn“, „ ein Stein“ riefen alle wild durcheinander. Ich schloss die Augen, rieb mir nachdenklich die Stirn und fragte Tyler: „Hast du schon einmal einen Stein wachsen gesehen?“ Und ja, nach seinem Bekunden gab es auf der Insel namens Thunfisch Steine, die wachsen. „Die Insel, die du meinst und wo deine Familie jedes Jahr urlaubt, heißt Sardinien“, erklärte ich ihm. Nachdem ich ein paar Hinweise gab, kamen die Kinder darauf, dass es sich um eine Bohne handelte. Nun sollte es darum gehen, wie man sie zum Wachsen bekommt. Im Weiteren erfuhr ich von den Kindern einige Kuriositäten darüber, wie man Bohnen zum Wachstum bekommt. Vom Ausbrüten („einfach in die Kuschelecke unter viele Kissen legen“) bis hin zu „in eine Schale Wasser legen und warten“ waren komische Sachen dabei. Wir einigten uns darauf, einen Plastikbecher mit Erde zu füllen, die Bohne hineinzugeben und anschließend mit ein wenig Erde und Wasser zu bedecken. Als die Pflanzaktion beendet war, gab es noch eine kleine Bohnengeschichte und ein Bohnenlied. Bildungsauftrag für diesen Tag erledigt. Kinder und Kultusministerium glücklich.
Mehr, mehr, mehr
Alle glücklich, nur ich nicht. Das Sitzen auf den viel zu kleinen Stühlen förderte meine angeborene Skoliose im Rekordtempo. Zwar gab es neue Stühle auf dem Markt, sogenannte ergonomische Bewegt-Sitzer, doch solch ein Stuhl namens Swopper kostete 645 € und wer sollte das bezahlen? Warum regten sich die Krankenkassen nicht bei diesem Thema und gaben dem Träger Zuschüsse? Ich wäre doch wohl nicht die einzige Erzieherin, die sich mit Rückenproblemen im Berufsalltag quält. In meinem Kopf bildete sich eine große Frustblase. Alle sollte ich zufriedenstellen, aber keiner tat es bei mir. Der Träger verlangte, dass ich meine Überstunden hergab, um Fortbildungen zu besuchen. Erst als ich eine Mitarbeitervertretung aufsuchte, mich beraten ließ und den Träger fragte, wer denn im Falle eines Unfalls auf dem Weg zur Fortbildungsstätte die Kosten trage, wenn ich offiziell Überstunden abbaute und gleichzeitig eine Fortbildung besuchte, beendete diese Farce. Es hatte sich so vieles geändert und keiner hatte an uns Erzieher:innen gedacht. Die Arbeit wurde mehr und mehr, nur das Gehalt blieb auf dem immer gleichen niedrigen Niveau. Meine Zeit mit den Kindern wurde auch immer weniger, denn der Bildungsplan musste abgearbeitet werden. Es gab drei verschiedene Beobachtungsbögen, das wöchentliche „Mathematikland“, die Spracherziehungsstunden für Kinder mit Migrationsgeschichte und „Literacy“. Nur das, was ich auf einer Fortbildung gelernt hatte, nämlich „gewaltfreie Kommunikation“ durfte ich nicht machen, weil die Chefin es für neumodischen Quatsch hielt. Mir tat das seelisch weh. Ich hatte schon in der siebten Klasse beschlossen, für diesen – für mich – wunderschönen Beruf ausgebildet zu werden und hatte als junge Erwachsene sogar Geld dafür bezahlt, um auf einer Privatschule namens Fröbelseminar alles zu lernen, was es zu lernen galt. Weil der Mann, mit dem meine Mutter zwei wunderbare Kinder hat, keinen Unterhalt für mich zahlte, lernte ich den ganzen Tag bis zu zehn Stunden, arbeitete abends bei REAL an der Kasse und lernte nachts. Stolz war ich gewesen, eine Ausbildung nach Friedrich Fröbel bekommen zu haben. „Kommt, lasst uns unseren Kinder leben“ lautet ein berühmtes Zitat von ihm und nun saß ich da und hatte vor lauter Essengeldrechnungen, Bildungsplänen und anderen Nebenschauplätzen kaum noch Qualitätszeit mit den Kindern. Wer glaubt, dass Erzieher:innen den ganzen Tag herumsitzen und mit Kindern spielen, der lebt in einem anderen Zeitalter. Als es die neue Regelung mit den Buchungszeiten gab, da wurde vieles noch schlimmer. Zur Erinnerung: Früher musste man für einen Kindergartenplatz einen pauschalen Beitrag im Monat leisten. Dann kam man darauf, dass die Eltern nur noch die Stunden bezahlen sollen, die sie auch gebucht hatten. Ihr ahnt es bereits, es gab nun schon wieder eine neue Liste. Wie eine Mitarbeiterin vom Ordnungsamt mussten wir plötzlich darauf achten, dass Frau Geizig ihr Kind nicht die ganze Woche um 7:30 Uhr abgibt, wenn sie erst von 8:00 Uhr an gebucht hatte. Wir erwägten tatsächlich die Einführung einer Stempel-/Stechuhr. Damit nicht genug. Weil die Chefin bemerkte, dass die Buchungszeiten zurück gingen, mussten wir einmal in der Woche einen „Aktionsnachmittag“ anbieten, um Eltern anzulocken, diesen Nachmittag dazu zu buchen. Vorbereitungszeit dafür? Hahahahahaha, ich lache. Mein Traumberuf hatte sich verändert. Alles hatte sich verändert. Nur mein Gehalt nicht. Ich war fast nur noch für die Verwaltung zuständig.
Erzieher:innen streicheln
„Den Ingo beschäftigt etwas was er in letzter Zeit immer wieder gehört hat. Und ich glaube, er weiß nicht so recht, was die Erwachsenen meinen“, eröffnete ich die Besprechungsrunde. Sofort meldeten sich einige Kinder, die meinten zu wissen, was den Ingo so beschäftigt. „Die Erzieherinnen streiken“. rief Helena. „Aha, und weißt du auch, was das heißt“? fragte ich zurück. „Jaa. Die gehen gar nicht mehr in den Kindergarten, weil die wollen, dass die Kinder wieder viel mehr die Erzieherinnen streicheln.“ Nick flüsterte seinem Freund Jonas zu: „Coool, keine Aufpasserinnen mehr!“ Ich hätte gerne was dazu gesagt. Hätte gerne gefragt, wer dann seinen Tee kochen, seine Wunden versorgen, sein Recht einfordern, seine Hausschuhe suchen, seinen Zauberapfel schneiden, seine Triefnase putzen, seine Wut bändigen, seine Bildungs- und Lerngeschichten schreiben, seine Brille putzen, seine Freude auf das Fußballtraining teilen, seine Entwicklung dokumentieren, seine Launen ertragen und seine Schnürsenkel in „ein Mäuschen hat zwei Ohren“–Manier zusammenbinden würde, aber ich ließ es. Geheimnisse unter Kindern müssen auch welche bleiben.Thorsten wiederholte, was er gesagt hatte. Er meinte, die Erzieherinnen würden nun jeden Tag in der Stadt sitzen und um Geld betteln, weil sie keines mehr hätten. „Die Steph hat ja nicht mal ein Auto!“ rief Kara in den Raum. Süß war auch Greta (3), die von alledem mal wieder nur die Hälfte mitbekommen hatte, aber laut in die Runde krähte: „Die Erziehrerinnen streissen. Die wollen alles neu haben im Kindergarten. Die wollen die gansen Wände bunt haben und alles neu streissen.“ Glücklich schaute sie in die Runde. Dann sagte sie: „Iss habe auch zu Hause alles gestreisst. Mein ganses Zimmer ist jetz gans bunt.“ Später erzählte mir ihre Mutter, Greta habe alle Wände ihres Zimmers mit Wachsmalkreiden angemalt. Vielleicht machte sie es genau richtig: Sie debattierte nicht lang herum sondern malte sich ihre Welt, wieddewiedewitt wie’s ihr gefällt. Mein Ärger verrauchte, denn das war es, was ich an meinem Beruf so liebte. Die wunderbare Welt der Kinder kennenzulernen und sie beim Entdecken, Lernen und Spielen zu begleiten.
Für Montag sind deutschlandweit wieder Streiks angekündigt und ich hoffe sehr, dass sich die Sichtweise einiger Menschen auf diesen wichtigen Beruf ändert.
Herzlichst, eure Steph
Danke für Deine Erzählung, liebe Steph. Ich bin ja schon alt und wie sagen die Alten immer: „Wir früher… Bei uns war alles besser.“ Naja, ich war nur ein Jahr lang im Kindergarten und habe immer noch Bastel- und Malarbeiten aus dieser Zeit. Früher war nicht nur ‚mehr Lametta‘, sondern auch viel weniger Stress. Die Kinder waren besser erzogen und gingen mittags zum Essen nach Hause. Lauthals spielen, das durften wir nur draußen, auf einer Fläche, die so heutzutage verboten wäre. Erzieherin würde ich heutzutage nicht sein wollen. Ich bewundere Deine Geduld. Jedenfalls wünsche ich allen Streikenden eine gerechte Bezahlung. Alles Gute und liebe Grüße, Gisela
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