Vor- und rückwärts

Neulich hatte ich eine schöne schriftliche Unterhaltung mit einer Frau, zu der ich seit ein paar Jahren eine Freundschaft pflege. Sie schrieb, dass sie sich neue Schuhe gekauft habe. Allerdings seien die Schuhe mit Klettverschluss, da sie diese in ihrem Alter nun besser händeln könne. Sofort erinnerte ich mich an eine Begebenheit aus meiner Kindheit und schrieb sie ihr. Meine Einschulung in die Grundschule stand an und alles war vorbereitet. Ich hatte einen neuen Pullover, eine neue Hose und eine tolle Schultüte bekommen. Weil ich mich allerdings noch mit dem Binden der Schnürsenkel schwer tat, kaufte meine Mutter mir neben meinen Adidas-Schnürschuhen auch noch ein paar „Klettis“. Ich konnte ja schließlich nach dem Sportunterricht keine Lehrkraft bitten, mir die Schuhe zuzumachen. Am Vortag der Einschulung sagte meine Mutter, ich solle das neue Outfit nochmals anziehen. Sie wolle gucken, ob auch alles stimmig ist. Ich nahm also die Hose, den Pullover und die Schuhe und ging ins Bad, um mich umzuziehen. Weil ich die Adidas-Treter schicker fand als die Klettis, nahm ich sie mit. Es dauerte vielleicht zehn Minuten, da trat ich aus dem Badezimmer heraus. „Wie hast du das denn jetzt gemacht?“, fragte mich meine Mutter, als wäre ich gerade durch Marijke Amados Zaubertür getreten und hätte mich in einen Superstar verwandelt. Ich wusste überhaupt nicht, was sie meinte, bemerkte allerdings, wie ihre Augen meine Füße fixierten. „Du kannst ja die Schnürsenkel binden“, stellte sie freudig fest. Ja, damals lernte ich das auf den letzten Drücker. Wir lachen noch heute, fast vierzig Jahre später, darüber. Meine Bekannte lachte nun auch, als ich ihr davon berichtete. „Geht im Alter vielleicht alles wieder rückwärts?“, fragte sie mich und gab mir Inspiration für diese Geschichte.

Keine Haare, keine Zähne

„Unsere Steph sieht aus wie Uropa Burmeister“, sagte meine Mutter lachend. Damals war ich ein Baby und saß auf Uropas Schoß. Ja, es stimmte. Wir hatten beide kaum Haare auf dem Kopf, keine Zähne im Mund und machten beide altersbedingt in die Windelhose. Wir hatten beide viel Schlaf nötig und bewegten uns nur langsam, um vorwärts zu kommen. Uns taten beide die Knochen weh. Uropa aufgrund seines fortgeschrittenden Alters und mir wegen einer angeborenen Wirbelsäulenverbiegung. Wir wurden beide gefüttert und hatten dabei einen Latz um den Hals gebunden. Als ich später mein erstes Bobbycar/Rutscheauto bekam, bewegte er sich mit einem Gehwagen fort. Ich glaube, der einzige Unterschied zwischen ihm und mir war damals, dass er Zigarren rauchte, während ich an meinem Daumen lutschte. Ja, es scheint alles irgendwann wieder rückwärts zu gehen, aber ist das wirklich so schlimm?

Mein erstes graues Haar

Mit dem Satz „Mama du wirst alt!“ konfrontierte ich meine Mutter neulich, als wir telefonierten. „Bitte was?“, fragte sie konsterniert zurück. „Ich habe heute morgen mein erstes graues Haar entdeckt und daraus schließe ich, dass Du alt wirst“, antwortete ich ihr. Tatsächlich darf ich so mit meiner Mama reden, die mich nicht nur mit einer großen Portion Liebe, sondern auch Humor erzogen hat. „Ja, so ist das, mein Kind, auch du wirst älter“, sinnierte sie. Und da wurde für mich aus Spaß plötzlich ernst. Nicht wegen des grauen Haars, sondern weil mir da erst bewusst wurde, dass meine Mutter ja tatsächlich auch älter wird. Zuvor war mir das gar nicht groß in den Sinn gekommen. Wie auch? Meine Mutter ist 75 Jahre alt und Gott sei Dank topfit. Zweimal die Woche fährt sie mit dem Bus in den Second-Hand- „Laden 58“, einem Empowerment-Projekt des autonomen Frauenhauses, um dort Kleidung für Frauen, Spielzeug für Kinder oder Bücher zu verkaufen. Zudem hat sie in den zehn Jahren ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit den Laden zu einem schönen Treffpunkt für alle Interessierten aus der Nachbarschaft umgewandelt. In ihrer eigenen Nachbarschaft kennt man meine Mutter ebenfalls gut. Jeden Samstag holt sie ihr Fahrrad aus dem Schuppen und fährt damit in die Stadt, um die Einkaufsliste ihrer 85 -jährigen Nachbarin abzuarbeiten. In letzter Zeit sagt sie öfters mal, dass sie – gerade an Regentagen – gerne daheim bleiben würde, aber dann denkt sie an ihre hilfsbedürftige Nachbarin und fährt los.

Alles soll so bleiben

Trotzdem habe ich neulich mal intensiv darüber nachgedacht, dass meine Mutter älter werden könnte. Zuerst war ich total traurig darüber, denn ich will so gerne, dass sie so bleibt, wie sie ist. Herzlich, klug, humorvoll, aktiv und hilfsbereit. Am liebsten würde ich sie einwecken, nie soll sie anders werden. Doch dann erinnerte ich mich an ihre Mama, meine liebe Oma. Diese war irgendwann an Alzheimer erkrankt. Ich wußte um ihre Erkrankung als ich mich eines Tages im Sommer ins Auto setze um zu ihr zu fahren. Angekündigt hatte ich mich, damit ich sie nicht bei ihrem Mittagschläfchen überraschte. Ich bog in das Viertel ein, in dem meine Großeltern ein Haus besaßen. Bei dem Haus mit dem Swimmingpool im Garten winkte ich aus dem Autofenster Frau Kurzknabe zu. Bei ihr hatte ich mir als Kind immer den hellblauen Roller mit den weißen Luftreifen ausgeborgt, als ich noch ein Kind war. Wie die Zeit verging. Eben noch auf dem Roller fahrend, nun hinter dem Steuer eines Autos sitzend. Ich fuhr das Auto die Auffahrt hoch, stieg aus und hörte schon die Hunde im Haus bellen. Alles war wie immer und das war angenehm schön. Doch dann klingelte ich und wartete länger als sonst. Ich hatte mich doch angekündigt. Nochmals klingelnd wartete ich weiter. Um bloß keine negativen Gedanken aufkommen zu lassen, erinnerte ich mich daran, wie mein Opa, als er noch lebte, oft andere Klingeltöne für mich eingestellt hatte. Dann endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, erschien meine kleine Oma in der Tür. Zu gerne hätte ich sie ganz fest umarmt, aber weil sie mir so zierlich wie eine aus dem Nest gefallene Amsel vorkam und ich sie nicht erdrücken wollte, umarmte ich sie nur ganz sanft. Während meine Oma mir erst einmal eine kalte Brause (Orangenlimo) aus der Küche holte, betrat ich schon mal das Wohnzimmer. Auf Omas Sekretär schauten mich alle meine fotografierten Cousinen und Cousins, Onkel und Tanten lächelnd an. Dann entdeckte ich den Zettel. Mein Name stand darauf. Und der meiner Mutter. „Steph ist meine Enkelin. Sie ist die Tochter von Christel. Christel ist meine Tochter.“ Ich musste ihn dreimal lesen, um zu begreifen, warum sie das aufgeschrieben hatte: Sie hatte vergessen, wer wir waren. Mir wurde es ganz eng im Hals. Die kalte Limo kam gerade richtig. Oma setze sich und erzählte. Von Angeboten aus dem Supermarkt, vom Hund, den sie mal wieder baden musste und dann war sie plötzlich in ihrer Kindheit gelandet. Ihr Elternhaus in Oldenburg wurde durch ihre Erzählungen so sichtbar, so lebendig, dass es mir vorkam, wir wären jetzt genau dort. Wußte ich anfangs nicht damit umzugehen, dass sie von hier auf jetzt das Thema wechselte, so wurde ich nun zur stillen Zuhörerin. Zusammen gingen wir in Gedanken durch die von der Sonne durchfluteten Diele ihres Elternhauses, die nach frischen Äpfeln roch. Sie stellte die Milchkanne auf den Küchentisch und sagte, der Bauer habe von ihr kein Geld gewollt. Sie zeigte mir das Plumpsklo im Hof und den Tisch im Wohnzimmer, um den ihr Vater die Familie stets für das abendliche gemeinsame Gebet versammelte. Was mir dabei auffiel: Es waren zum Glück nur schöne Erinnerungen, in denen sie versank. Nichts über ihre beiden Brüder, die im Krieg gefallen waren, nichts darüber, wie ihr Vater, der den Kirchenchor leitete, von den Nazis eines Tages wegen der Gebete zu Tisch kurzzeitig vernommen wurde. Nein, in ihrer Welt war alles angenehm und das fand ich beruhigend schön.

Würde

Fast zwei Jahrzehnte habe ich mitbekommen, wie meine Mutter Menschen beim Älterwerden begleitete und pflegte. Sie erzählte mir von Herrn Fischer, der früher als Kapitän zur See fuhr, bevor er – völlig dement – rund um die Uhr betreut werden musste. Eines Tages wollte sie ihn gerade duschen, da stand er mit einem Koffer vor ihr. Sein Schiff würde gleich einlaufen, sie möge sich doch bitte mal beeilen. Ich musste gleichzeitig daran denken, wie ich als vierjähriges Kind mal mein kleines Köfferchen packte, um zu Hause auszuziehen. Unsere Eltern waren bei einer Veranstaltung und mein älterer Bruder hatte mir verboten, einen Krimi im Fernsehen zu sehen. Grund genug für mich, meine Sachen zu packen. Dabei setzte ich Prioritäten. Mein Ernie, mein Lieblingsbilderbuch, ein Hanuta, eine Decke und ein Kissen nahm ich mit. Da das alles gar nicht in den Koffer passte, wickelte ich alles in die Decke ein, als ich die Wohnung verließ. Doch schon im Treppenhaus purzelte alles aus der Decke heraus lautstark die Treppe hinunter, was zur Folge hatte, dass mein Bruder mich hörte. Ich werde nie vergessen, mit welch lieben Worten er mich wieder dazu brachte, zurück in die Wohnung zu kommen. Den Krimi durfte ich trotzdem nicht sehen. Aber es war schön zu wissen, dass es da jemanden gab, der nicht wollte, dass ich ging. Und bei Herrn Fischer? Der wurde durch seine Demenz plötzlich wieder zum Kapitän, der zur See fuhr. „Wie hast du ihn dazu gebracht, wieder reinzukommen?“, fragte ich meine Mutter. „Wieso reinkommen?“, fragte sie. „Er meinte, dass sein Schiff gleich kommt, also habe ich mir schnell meine Jacke übergezogen, hab ein paar geschnittene Äpfel mitgenommen und bin mit ihm zum Hafen gegangen. Dort haben wir uns dann auf eine Bank gesetzt und auf die Ankunft seines Schiffes gewartet.“ Als mir meine Mutter das erzählte, kamen mir die Tränen. Sie wäre nie der Typ, der sagt: „Jaja, Herr Fischer, jetzt kommen sie mal wieder zurück.“ Sie ging mit ihm und wartete gemeinsam mit ihm auf ein Schiff, das nie kommen würde.

Alles beim Alten

In ein paar Tagen ist mein Geburtstag und jeder der mich kennt, der weiß, dass ich mich darauf schon Wochen vorher freue. Doch mit jedem Jahr, das ich älter werde, wird mir gewiss, dass meine Mutter es auch tut. Dabei soll sie das nicht. Sie soll immer so lustig, schön, nett und hilfsbereit bleiben. Allerdings ist sie nun 75 Jahre alt und ich werde mich damit abfinden müssen, dass sie mal Dinge vergisst und irgendwann Hilfe braucht. Schlecht habe ich mich gefühlt, weil ich nun schon 14 Tage nicht mit ihr gesprochen habe, dabei hatte das einen Grund: Bei jedem Gespräch wollte sie unbedingt wissen, was ich mir zu meinem Geburtstag wünsche und ich hatte darauf keine Antwort. Sie hat kein Auto und kann nicht in weit entfernte Läden fahren, um meine Wünsche zu erfüllen. Zu teuer sollte es meiner Meinung nach auch nicht sein. Was könnte ich mir denn nur von ihr wünschen, außer das sie so blieb wie sie ist? Ich merke, wie ich meine Mutter plötzlich genauer betrachte. Es scheint, als wäre ich so sehr sensibilisiert auf ihr Älterwerden, dass ich wie ein Adlerauge jede Änderung, die sie betrifft, bemerken möchte. Meine Oma kommt mir ins Gedächtnis mit ihrem Zettel, auf dem sie sich notiert, wer wer ist. Traurigkeit überkommt mich, weil ich nicht will, dass meine Mutter sich heimlich Zettel schreibt. Sie soll mir sagen können, wenn sie Dinge vergisst, sie soll nicht allein mit ihren Gedanken über das Älterwerden sein. Nie soll sie das Gefühl haben, dass wir uns nicht bestens um sie kümmern würden, wenn sie älter werden würde. Doch wie gehe ich damit um? Sage ich ihr, dass sie mir das ein oder andere schon neulich erzählt hat oder lasse ich sie reden? Wird ihre Welt plötzlich kleiner, weil sie andere Interessen hat als früher? Sollte ich ihr Sudokus mitbringen oder eine „Rentnerbravo“ aus der Apotheke, damit sie Gehirnjogging betreiben kann? Wird sie überhaupt älter oder mache ich sie dazu? Es war letzten Dienstag, als Ralf und ich mit dem Auto zu ihr fuhren. Sie hatte mal wieder eine Wundertüte für uns zusammengestellt und wollte gerne, dass wir sie abholen. Es regnete Bindfäden, als wir einen Parkplatz vor ihrem Haus suchten. Ihre roten Haare erkannte ich sofort. „Ralf, was macht denn meine Mutter in strömenden Regen auf der Straße?“, fragte ich meinen Mann. „Und schau, was sie in den Händen hält, ist das nicht ein Müllsack? Was hat sie denn vor? Ist sie verwirrt?“ Ralf sagte zu alledem nichts und das war auch gut so. Man muss ein Grübelgedankenhirn nicht noch füttern.

„Mama, was machst du denn hier draußen?“, rief ich ihr zu, als ich die Autotür schloß und zu ihr auf den Bürgersteig kam. „Ich wollte den Müll rausbringen und habe im gleichen Moment gesehen, wie ihr ankommt“, antwortete sie mir. Wir umarmten uns, dann gingen wir hinein. Der „Superwoman“ Aufdruck auf ihrem Pullover glitzerte in hundert Farben. „Ich mach‘ schnell Kaffee, setzt euch schon mal. Tee für dich, Steph?“ Weil ich ablehnte, rief sie mir aus der Küche zu, dass es auch keinen Ingwertee gäbe, sondern etwas Frisches mit Limone. Ich musste lachen, denn beim letzen Mal hatte sie mir diesen scharfen Ingwertee vor die Nase gestellt, den ich gar nicht mochte. Wie aufmerksam sie das aufgenommen hatte. „So, jetzt esst mal ein Stück Kuchen und dann zeige ich euch was“, sagte sie. Dann klappte sie ihren Laptop auf, tippte mit ihren lackierten Fingernägeln etwas hinein und sagte, ich solle mal schauen kommen. Was würde jetzt passieren? Hätte sie nun ein Zehnerpack Ingwertee bestellt, obwohl ich den überhaupt nicht mochte? Müsste ich mir Sorgen um meine Mutter machen, und warum hatte sie mich noch gar nicht gefragt, was ich mir zum Geburtstag wünsche? Ich rückte meinen Stuhl zurück, ging um den Tisch herum und sah auf die Bildschirmfläche des Laptops meiner 75- jährigen Mutter. Auf welchen Seiten war sie denn unterwegs? War das wirklich EMP, die Internetseite für Punk- und Rocksachen? Ja, war es. „Schau mal, ich dachte mir, den schenke ich dir zu deinem Geburtstag, wenn du ihn magst“, sagte sie. Ihre Fingernägel tippten klackernd auf den Einhornhausanzug. „Den bestell‘ ich dir, dann hast du es abends schön kuschelig auf dem Sofa“, stellte sie fest. Dann zwinkerte sie mir zu. Ich war fassungslos glücklich. Bei meiner Mutter ist eben alles beim Alten. Und wenn nicht, dann kriegen wir das auch ganz wunderbar und gut hin.

Danke, liebe Mama. Für alles. Mal wieder.

Herzlichst, eure Steph ❤

Ein Kommentar zu „Vor- und rückwärts

  1. Liebe Steph,

    erstmal alles Gute zum Geburtstag, ganz sicher wirst Du einen wundervollen Tag haben.

    Genieße die Zeit mit Deiner Mutter.
    Meine Mutter ist 10 Jahre älter als Deine und wird leider immer weniger. Am Telefon klingt sie wie immer, aber wenn ich Sie sehe, ist sie klein und zerbrechlich.
    Ich muss dazu sagen, dass sie schon seit einigen Jahren gesundheitlich ganz viele Baustellen hat.
    Immer war sie ein Stehaufmännchen , aber das gelingt ihr nicht mehr immer.

    Sei ganz lieb gegrüßt und lass dich verwöhnen, alles Liebe

    Annette

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