Unerhört

Auf einmal machte es plopp und mein Ohr war dicht. Einfach so. Ein Gefühl, als hätte ich Watte im Gehörgang, breitete sich aus. Mit den Fingern trommelte ich auf der Ohrmuschel herum, als wolle ich fragen, ob wer zuhause sei, doch alles blieb wie unter Watte. War das nun dem Alter geschuldet oder steckte vielleicht das Ohrpolster meiner Kopfhörer in meinem Innenohr? Erst als ich mich selbst behandeln wollte und damit alles nur noch schlimmer machte, wusste ich, ich brauche einen Facharzt.

Das absolute Gehör

„Hörtest steht noch aus“ steht in meinem Kindervorsorgeuntersuchungheft aus den 80er Jahren. Meine Mutter sagt, ich habe damals so sehr geschrien, dass es dem Kinderarzt Dr. Schröder, auch Schlümpfedoktor genannt, nicht möglich war, mein Hörverständnis festzustellen. Dabei war der Schlümpfedoktor mein Freund. Seinen Namen hatte er daher, weil ich mich als sehr junges Kind nicht von ihm untersuchen lassen wollte. Ein eiskaltes Stethoskop auf meiner Brust? Nicht mit mir! Ich schrie wie am Spieß und wurde erst leiser, als er mir ein Tauschgeschäft anbot. Er gäbe mir einen Schlumpf, wenn er mich dafür untersuchen dürfte. Ich bin nicht so die ausgebuffte Geschäftsfrau und so ließ ich mich mit einem einzigen Schlumpf ködern und untersuchen. Bei unseren späteren, konspirativen „Geschäftstreffen“ versuchte er es mal mit einem Springseil, aber das besaß ich selbst daheim, von daher schüttelte ich matt und müde den Kopf, während er in seiner Spielzeugkiste nach einem anderen Schlumpf für mich suchte. Ich vertraute ihm und ließ schlumpfig geduldig alle nötigen Untersuchungen über mich ergehen. Alle? Nein, denn beim Hörtest wurde ich fast verrückt. Kopfhörer auf meinen Ohren, dazu hohe schrille Piepsgeräusche, das wollte ich nicht, für keinen Schlumpf der Welt. Erst bei der Eingangsuntersuchung, die für meine Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin von Nöten war, erfuhr ich, dass ich ein äußerst gutes Hörverständis besitze. Und vielleicht lag es genau darin begründet, die Untersuchung als Kind nicht machen zu wollen, denn ich bin, was das Hören betrifft, sehr empfindlich. „Besitzt du das absolute Gehör?“, fragte mich ein Freund mal, als er hörte, dass ich Synästhetikerin bin. „Gott bewahre“, antwortete ich, denn mir reichte es schon aus, dass sich Buchstaben, Namen und Wochentage in meinem Gehirn ungefragt in Farben darstellen. Im Grunde brauchten wir den Hörtest gar nicht, denn es wurde schnell klar, dass ich alles hörte. Meine bisher einzige Mittelohrentzündung hatte ich vor 42 Jahren. Da war ich vier Jahre alt und unleidlich, weil mir mein Ohr so furchtbar weh tat. Meine Mutter legte mir eine erwärmtes Zwiebelsäckchen darauf und legte sich kuschelnd neben mich, weil es mir so elendig ging. Nie wieder hatte ich danach Ohrenschmerzen oder Probleme mit den Ohren. Bis jetzt.

Verkorkt und abgefüllt

„Ralf, was ist, wenn mein Ohr jetzt einfach die Funktion zum Hören eingestellt hat?“, fragte ich verzweifelt meinen Mann, nachdem das „Watte im Ohr“-Problem bestehen blieb. „Ach was“, wischte er meine Gedanken sofort beiseite. „Da steckt vielleicht zuviel Ohrenschmalz drin.“ Na toll, zu viel Ohrenschmalz. Das hörte sich an, als sei ich eine unreinliche Person. „Wir machen nächste Woche einen Termin bei Kerstin aus und dann wird sie dir schon sagen was da los ist“, beruhigte er mich schließlich. Kerstin ist unsere Hausärztin und als solche die beste, die man sich wünschen kann. Dennoch war ich hier und da beunruhigt. Was wäre, wenn da doch mehr dahinter steckte? Ich dachte an meinen Großvater, der als Siebzehnjähriger nach dem Notabitur an die Front geschickt wurde und dem dort das Trommelfell kaputt gemacht wurde. Zeit meines Lebens habe ich meinen Opa mit einem Gerät am Ohr kennengelernt, an dem er mit den Fingern rumschraubte, wenn Familienfeiern anstanden und er mit all den vielen Geräuschen überfordert war. Und ich dachte an meine Mutter, bei der man bei einer Ohrdurchspülung etwas gefunden hatte, was da nicht hingehörte. Wochen später operierte man ihr einen Speicheldrüsentumor heraus. Keine Frage, ich hatte mich hineingesteigert. Dabei hätte ich auf Ralf hören sollen. „Ja, da ist was vor deinem Trommelfell. Geh zum HNO-Arzt, der wird dir mal das Ohr durchspülen“, sagte meine Hausärztin am darauffolgenden Montag. Zuhause rief ich sofort einige HNO-Praxen an, doch keiner wollte mir einen sofortigen Termin geben. „In sechs Wochen kann ich ihnen einen Termin anbieten“, sagte eine Frau am Telefon zu mir. „Sechs Wochen?“, fragte ich ungläubig zurück. „Aber da muss nur etwas durchgespült werden“, versuchte ich die Wartezeit zu verkürzen. „Sechs Wochen. Entweder sie nehmen den Termin oder sie nehmen ihn eben nicht.“ Ich sagte den Termin zu und schaute leidig aus dem Fenster zu der Birke, in der die Elstern ein Nest für ihre Jungen bauten. Schon lange konnte ich sie nicht mehr „tschaka“ rufen hören. Mein Ohr blieb dicht. In der Dusche stehend dachte ich darüber nach, wie lange sechs Wochen sein können. Gut, wenn man Kind ist und Sommerferien hat, da sind sechs Wochen wohl ein Klacks, aber wenn man nur bedingt hören kann, dann bedeutet das schon eine lange Zeit. Da kam ich plötzlich auf eine saudumme Idee, die keiner nachmachen sollte. Ich stellte den Duschkopf von Monsunregen auf Granit schneiden um und hielt mir den harten Wasserstrahl ins Ohr hinein. Es blubberte kurz, dann gurgelte es. Und dann war mein Ohr erst recht dicht. „Na prima“, seufzte ich und versuchte auf einem Bein hüpfend das Wasser wieder aus der Ohrmuscheln zu bekommen, doch da war nichts zu machen. Ich musste an Loriots Sketch der Weinverkostung denken. „Abgezapft und originalverkorkt von Pahlgruber & Söhne.“ Tja, nun war mein Ohr verkorkt. Eigenständig.

Gleich platscht es

Man merkt erst, wie gut es einem geht, wenn etwas nicht funktioniert. Telefonieren war anstrengend, denn das kann ich nur mit dem rechten Ohr so wirklich gut und das war ja nur bedingt einsatzbereit. Auch das abendliche Einschlafen mit einem Hörbuch war nur möglich, wenn ich auf der Seite mit dem gut hörenden Ohr lag. Ich sehnte mich zurück in die Zeiten, in denen meine Ohren wie die eines Luchses hörten. So saß ich zum Beispiel mal am Esstisch meiner Schwiegereltern, als ich aus der Ferne einen Rettungswagen hörte. „Ein Rettungswagen“, sagte ich und schaute in verwirrte Gesichter. Als die anderen ihn mit einer Zeitverzögerung von anderthalb Minuten dann auch hörten, war mir ihre Bewunderung sicher. „Ich bin Erzieherin, ich muss gut hören“, sagte ich schulterzuckend. Und wie war das einen Tag nach meinem Geburtstag vor vier Jahren? Da lagen Ralf und ich schlafend im Bett, als ein kurzes, aber prägnantes RATSCH die stille Nacht durchschnitt. Es hörte sich an, als habe jemand mit einem Gegenstand die Plane über dem Swimmingpool der Nachbarn im Hinterhof zerschnitten. Ich horchte in die Nacht hinein und ging im Dunkeln zum Fenster, um nachzuschauen. Doch da war nichts. Dann hörte ich tropfende Geräusche aus dem Flur und begab mich dorthin. Als ich die Tür zu unserem Esszimmer öffnete, dachte ich, mich trifft der Schlag. Die Tapete über unserem Esszimmertisch hing von der Decke hinunter. In ihr sammelte sich Wasser, welches sich in regelmäßigen Abständen schwallartig über dem Tisch ergoss. Die Holzdielen, auf denen ich barfuss stand, waren mit Wasser bedeckt, sodass ich dadurch waten musste, um alles, was auf dem Tisch lag, in Sicherheit zu bringen. Mitten in der Nacht kam unser Vermieter vorbei, um den Rohrbruch in der Wohnung über uns provisorisch zu reparieren. Tage später bedankte er sich für mein perfektes Gehör, denn „wenn das Wasser die ganze Nacht geflossen wäre, dann hätte es alle Etagen der anderen Wohnungen erreicht“. Vielleicht könnte ich den HNO-Arzt anrufen und sagen, dass nicht nur ich, sondern auch andere auf meinen guten Hörsinn angewiesen wären? Doch nein, so unfreundlich, wie die Sprechstundenhilfe am Telefon war, würde ich wohl noch sechs Wochen warten müssen.

Rettung naht

Dann endlich war er da, der Tag, an dem die Wiederherstellung meines Hörsinns anstand. Abends um 16:40 Uhr würde ich kommen dürfen. Ich war sehr aufgeregt an diesem Tag. In meine Gedanken von großer Freude mischten sich auch negative Gefühle. Was, wenn er etwas Schlimmes in meinem Ohr finden würde? Was, wenn ich mit dem Wasserstrahl etwas zerstört hätte, was nun nicht wieder gutzumachen war? Ich versuchte mich anfangs selbst zu beruhigen. Vielleicht war die Ursache für mein verplomptes Ohr ja auch psychosomatisch. So viele schlimme Nachrichten, wie man sie derzeit überall liest und hört, da wollte mein Ohr vermutlich einfach mal eine Pause einlegen. Der wunderbare Ralf hatte eine tolle Idee. Wir könnten doch mit den Fahrrädern in die Stadt fahren, wo zur Zeit alles für das große Hansekulturfestivel aufgebaut werden würde. Wir könnten bei den Aufbauten zusehen, Stimmung schnuppern und anschließend beim HNO-Arzt vorbei fahren. Ja, das war eine tolle Idee. Während Ralf im Hinterhof unsere Räder fit machte, dachte ich daran, wie toll es wäre, nachher wieder stereo hören zu können. Ich packte eine der größten Muscheln, die wir besitzen, in meine Tasche und rannte die Treppe hinunter. „Was hast du mit der Muschel vor?“, fragte Ralf und sprühte meine Fahrradkette mit einem Spray ein. „Na, die halte ich mir später ans Ohr und höre das Meer“, sagte ich fröhlich. Es würde ein guter Tag werden, da war ich zuversichtlich.

Ein Spektakel

Wir kamen am Holstentor vorbei und ich war wegen der vielen hupenden Autos das erste Mal froh, nicht viel zu hören. An der Drehbrücke wurde eine Bühne auf dem Wasser aufgebaut. Den Platz an der Drehbrücke nennen die Lübecker Affenfelsen, weil dort in den Sommernächten die Jugendlichen auf den Sitztreppen hocken. Von der Musik, die dort zur Probe lief, konnte ich nur die Bässe wahrnehmen. Wir fuhren die Rippenstrassen entlang und sahen überall, wie toll die Stadt für das Festival geschmückt wurde. Kreideherzen waren auf Asphalt gemalt, viele Windräder drehten sich im Wind und aufgespannte bunte Regenschirme hingen über dem Rathaushof. Strandkörbe, Palmen und Rasenteppich wurden aufgestellt, es gab Schubkarren voll mit Blumen und Seifenblasen, die leicht wie Federn durch die Luft flogen. Wir sahen viele Tourist:innen aus dem Ausland und freuten uns über ihre sichtbare Begeisterung über unser schöne Hansestadt. Dennoch war ich ein wenig unruhig, und obwohl mein Termin erst in einer Stunde wäre, fuhren wir mit den Rädern sehr zeitig zur HNO-Praxis.

Gleich ploppt’s

Mein Handy zeigte 16:00 Uhr an, als wir dort ankamen. Mein Termin wäre erst in 40 Minuten. Ich sagte mir, dass ich keine Angst vor einem Tumor oder ähnliches haben werden müsste. Der Arzt würde mir alles bestens erklären. Ich atmete kurz tief durch, dann öffnete ich die Tür zur Praxis und meldete mich an. Ralf blieb draußen in der Sonne sitzen. Ich wurde ins Wartezimmer gebeten und wollte mich gerade hinsetzen, da wurde mein Name auch schon aufgerufen. Juchhuuu. „Sie können jetzt hier vor dem Sprechzimmer Platz nehmen“, sagte eine Helferin. Ich setzte mich und schaute die Bildern an den Wänden an. Segelschiffe. Segelschiffe hier im Hafen, die dem Arzt gehörten. Dann ging die Tür des Sprechzimmers auf. Eine Frau mit schwarz glänzenden Haaren, knallrotem Lippenstift und viel Parfüm stand auf der Schwelle. Neben ihr ein Kind von circa sechs Jahren. Die Frau trug Stilettos, die so hoch waren, dass ihre eingequetschten Füße jeden Orthopäden zum Kauf vieler Segelschiffe verholfen hätten. Immer wieder nickte sie gelangweilt, während der HNO-Arzt ihr erzählte, was ihr Kind für schreckliche Probleme hatte. Das arme Kind, dachte ich mir. Ich versuchte wegzuhören und hielt mir einfach das gesunde Ohr zu. So war alles wieder in Stille getaucht. Die Frau stöckelte schließlich mit ihrem Kind davon und ich war an der Reihe. Vorsichtig betrat ich das Sprechzimmer, wo ein Arzt vor einem Computer saß und einen Text tippte. „Was gibt’s?“, fragte er und zeigte ohne mich anzusehen auf den Stuhl, auf dem ich scheinbar Platz nehmen sollte. „Ich höre auf dem rechten Ohr nichts mehr“, sagte ich und setzte mich. „Wie lange?“, fragte er. „Seit fast sieben Wochen“, antwortete ich. „Und warum kommen sie dann erst jetzt?“, fragte er. Ich dachte, ich flippe gleich aus. Ohne mir mitzuteilen, was er mache würde, schnappte er sich eine Pinzette, die sehr lang und sehr groß war. Damit fummelte er mir in meiner Hörmuschel herum. „Hmm, bringt nichts“, sagte er schließlich und nahm ein Ansauggerät, um es mir an die Ohrmuschel zu halten. Im Anschluß hielt er mir eine Silikonwanne ans Ohr und spülte mir warmes Wasser hinein. „Das ist angenehm“, sagte ich und lächelte. „Ja, bringt aber leider nix“, sagte er. Ich fühlte mich unangenehm. Mit der anderen Frau war er doch so nett umgegangen, was war mit mir? Vielleicht lag es daran, dass ich statt Stilettos schwarze Sneaker trug. Mein Parfüm war Schweiß von einer Fahrradtour durch die Stadt. Auf meinem schwarzen Hoodie war ein Ketchupfleck. So konnte es ja nichts werden mit einer guten Behandlung. Er griff erneut zur Pinzette, zog an etwas und plötzlich machte es Plopp. Etwas wurde in den Mülleimer geworfen. Der Arzt drehte sich auf seinem Drehstuhl um und tippte wieder etwas in den PC ein. „Das war’s jetzt?“, fragte ich unsicher. „Ja, das war’s jetzt“, antwortete er, ohne mich anzuschauen. „Danke“, sagte ich und verließ die Praxis.

Sounderlebnis 100 %

„Und kannst du jetzt wieder richtig hören?“, fragte Ralf mich, als ich draußen auf ihn traf. „Der Arzt hat aber keine guten Bewertungen bei Google“, redete er weiter. „Da gehe ich auch nicht wieder hin“ war alles, was ich sagte, denn ich wollte mein Hörerlebnis genießen. Die Muschel in meiner Tasche vergaß ich dabei völlig, denn es war unglaublich, wieder ganz normal zu hören. Und ich hörte alles: wie meine Finger durch meine Haare strichen und eine Biene um meinen Kopf herum flog. Alles war wieder da und es war wunderschön. Zu Hause setze ich mich ans Fenster, um den Elstern zuzuhören. Ich hätte sauer sein können auf den blöden Arzt, der mir nicht sagte, was das Problem gewesen war und wie ich es in Zukunft würde vermeiden können. Aber ich war von Dankbarkeit umhüllt, dass ich nun diesen einen Sinn wieder hatte. Meine Mama sagte oft, dass man jeden Tag dankbar sein kann, wenn man gesund ist und dass man das oft vergisst, weil es so selbstverständlich ist, zu sehen, zu hören, zu riechen und schmecken zu können. Ich fühle das und bin sehr dankbar.

Herzlichst, eure Steph ❤

2 Kommentare zu „Unerhört

  1. Wow, was für eine Geschichte! Bei solchen Ärzten kommt Freude auf. Als ich 11 Jahre alt war, machten meine Eltern und ich in Italien Urlaub und mein Vater musste mit Ohrenschmerzen zum Arzt. Der zog ihm eine Bandage aus dem Kriegsgefangenenlager in Frankreich aus dem Ohr. Vielleicht hattest Du Watte aus der Kinderzeit darin. Hauptsache ist, es geht Dir wieder gut. Alles Liebe und viele Grüße, Gisela

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    1. Ach du große Güte wie furchtbar. Hab herzlichen Dank für deine guten Wünsche liebe Gisela. Bei dem HNO Arzt bei dem ich war, wird es auch kein Wiederhören geben. Ich höre wieder, wie wunderbar 🎉

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