
Es gibt Kinder, die können ohne ihre Kuscheldecke oder Plüschtier den Kindergartentag nicht überstehen. Andere haben es sich dagegen zum Vorsatz gemacht, mindestens einmal am Tag einen anderen zu treten, an den Haaren zu zupfen oder zu kneifen. Anna ist da ganz anders. Anna schubst nicht, hat kein Plüschtier im Arm und haut kein anderes Kind. Dennoch hat sie einen ganz merkwürdigen Spleen, weswegen sie uns Erzieherinnen schon das ein oder andere mal zur Verzweiflung gebracht hat.
Anna steht total auf Kühlakkus!
Als ich noch in der Nachbargruppe von Anna arbeitete und sie nur sah, wenn sich alle Kinder des Kindergartens im Garten zum Spielen befanden, lernte ich sie praktisch nur mit Kühlakku kennen. Auf dem Kopf, an der Wange, unterm Arm oder zwischen den Zehen. Anna hatte immer einen kalten Akku an ihrem Körper. Diesen brachte sie allerdings nicht von zu Hause mit – sie brauchte ja schon lange kein Kuscheltierersatz mehr.
Vielmehr war es wohl so, dass sie in den Anfängen ihrer Sucht einmal hingefallen war und ihre damalige Erzieherin ihr zum Kühlen dieses blaue Etwas brachte. Sofort war sie dem Ding verfallen. Tobte sie im Garten und ratschte mit der Jacke an einem Ast vorbei, brauchte sie den Kühlakku. Für die Jacke…
Rutschte sie die Rutschbahn hinunter und plumpste mit dem Po in den Sand, brauchte sie den Akku. Für den Po… Zog ein Junge an ihrem Zopf, brauchte sie den Akku. Für den Zopf…
Es war kaum auszuhalten und genauso unverständlich. Der Kühlakku war unansehnlich wie ein altes Paar ausgelatschter Schuhe. Er hatte die Größe eines Notizzettels und war mit blauer Flüssigkeit gefüllt. Das war es dann auch schon.
Nichts an dem Ding war schön, außer der Eigenschaft, dass er über Schmerzen weghelfen konnte. Schmerzen aber hatte Anna nie. Auch keine seelischen. Sie liebte diesen Akku und weil ich wusste, wie märchenversessen sie war, konnte ich mir gut vorstellen das sie selber glaubte, sie müsse den Akku nur küssen und schwupp würde er sich in einen Prinzen verwandeln. Ich glaubte sogar einmal gesehen zu haben, wie sie dem kalten blauen Kissen hinter der Gartenhütte einen Kuss gab.
Im Oktober dann gab es einen großen personellen Wechsel und ich kam als Erzieherin in Annas Gruppe. Die kleineren Kinder hatten sich gerade eingewöhnt und ich fand es einen guten Zeitpunkt, die größeren Kinder mit einer vertrauensvollen und verantwortungsbewussten Aufgabe zu konfrontieren. Meine Idee war, dass die Größeren eine Art Patenschaft für die Kleineren übernehmen sollten. Jungen und Mädchen im Vorschulalter sollten Wichtelpapa oder -mama sein und sich aufopferungsvoll um die kleinen Wichtelkinder kümmern.
Im Stuhlkreis besprachen wir das Ganze. „Welche Aufgaben könnten denn die Wichteleltern für ihre Wichtelkinder übernehmen?“ fragte ich in die muntere Runde.
„Den Kleinen beim Anziehen helfen“, sagte Nico.
„Ein Taschentuch holen, wenn sie weinen, weil die Mama weg ist“, sagte Sarah.
„Einen Kühlakku holen, wenn das Kind von der Schaukel gefallen ist“, sagte Anna.
Stolz, mit einer so wichtigen Aufgabe betraut zu werden, purzelten die Vorschläge der Kinder witerhin nur so aus ihnen heraus.
„Beim Abputzen auf’m Klo helfen“, meinte Jona.
„Einen Kühlakku holen, wenn das Kind vom Klettergerüst gefallen ist!“ sagte Anna.
„Mit dem Wichtelkind ein Spiel spielen, wenn es keinen Spielkameraden findet“, rief Ina.
„Einen Kühlakku holen, wenn das Kind beim ‚Fangen spielen‘ hingefallen ist“, meinte Anna.
„Aufpassen, dass das Kind sein Frühstück auch isst“, antwortete Nils.
„Einen Kühlakku holen, wenn das Kind..“
„Anna!“
„Jaaa?“
„Wir sind hier nicht in einem Kriegsgebiet! Man könnte ja fast meinen, dass ich jeden Tag zehn mal den Notarzt kommen lassen muss. Es gibt doch auch Situationen, in den die Kleinen nicht weinen und dennoch Hilfe brauchen.“
Das schien auch Anna einzusehen.
Die nächste Zeit verbrachte ich damit, Anna vom Kühlakku zu entwöhnen.
Es dauerte ein bißchen, aber nach einiger Zeit hatte ich sie soweit, dass sie fast gar nicht mehr an das kalte Dings im Gefrierfach dachte.
Nun aber wollte sie etwas anderes. Es war Tag 14 nach der Entwöhnung, als Anna vom Spielen im Garten zu mir in den Gruppenraum hinein kam.
Ich war gerade mit dem Eindecken des Mittagstisches beschäftigt.
„Ich bin hingefallen!“ schimpfte sie. Für einen kurzen Moment schlug mir das Herz bis zum Hals. Würde sie nun nach dem Kühlakku verlangen?
Doch sie schwieg und schaute betroffen. Erleichtert fragte ich sie, wo sie sich denn wehgetan habe. „Am Seil vom Klettergerüst.“
Ich lächelte.
„Nein Anna, ich meinte an welchem Teil deines Körpers du dich verletzt hast“, erklärte ich ihr.
„Na, an der Hand“, sprach sie und streckte mir ihre gesund aussehende rechte Hand zur Ansicht vor’s Gesicht.
Es war rein gar nichts zu sehen. Ich pustete ihr ein wenig Zauberluft auf die „Wunde“, redete ihr gut zu und schickte sie wieder hinaus zum Spielen in den Garten.
Schließlich machte ich mich wieder daran, den Mittagstisch zu decken. Gedankenverloren faltete ich die Servietten und legte sie neben jeden Teller. Doch was war das? Ein Geräusch, ein Schatten. Als ich mich rumdrehte, stand Anna in der Tür. „Was ist denn nun schon wieder, was machst du hier?“ fragte ich und war ein wenig genervt.
„Ich glaub‘, ich brauch noch was“, sagte Anna in schleppend langsamen Ton und nestelte, ohne mich anzusehen, an ihrem Schal herum.
Oh nein! Bitte sprich das K-Wort nicht aus!!!
Ich war neugierig und sehr, sehr mutig.
Deswegen fragte ich sie direkt: „Was brauchst du denn nun noch?“
Herzklopfen…
„Naaaajaaaa“….Sie biss sich nervös auf der Lippe rum. „Ich brauche….hmmmh…ich brauche….hmmmmh… ich brauche…“
„Anna, komm zur Sache!“
Erschrocken zuckte sie zusammen. Das tat mir zwar leid, aber immerhin war sie nun endlich in der Lage, ihren Satz mal zu beenden.
„Ich brauche noch ein Tröste-Bonbon!“ So, nun war es raus.
Anna kannte mich und die Tröstebonbon-Geschichte. Ich hatte bei Ausflügen mit den Kindern immer ein Taschentuch und ein Tröste- Bonbon in der Tasche. Denn wenn sich bei Ausflügen mal jemand weh tut, hat man meist keinen Kühlakku zur Seite.
Aber in dieser Situation war es wirklich nicht angebracht.
„Wie wollen deine Kühlakkusucht nicht beenden und gleichzeitig eine neue aufbauen“, sagte ich leise im Ton eines Drogenberaters und streichelte ihr sanft über den Kopf. Ich pustete noch einmal ein wenig Zauberluft auf ihre rosige Hand und schickte sie wieder nach draußen.
Ab da wurde alles gut. Es vergingen Tage und Wochen, in denen Annas alter Freund und Kumpel endlich mal nur dann zum Einsatz kam, wenn sich ein Kind ernsthaft verletzt hatte.
Dann kam der Tag, an dem ich erst später in den Kindergarten kam. Ich musste vormittags zu einer Fortbildung und so kam ich erst gegen 12:00 Uhr zu meinem Arbeitsort. Eine Mitarbeiterin hatte die Betreuung meiner Kinder übernommen. Eine Mitarbeiterin, die Anna noch nicht kannte.
Noch mit Jacke, Schal und Straßenschuhen bekleidet streckte ich kurz den Kopf zur Tür herein, um Kinder und Mitarbeiterin zu begrüßen.
Die freudigen „Hallo“- Rufe der Kinder machten mich glücklich. Nur Anna gefiel mir nicht so ganz. Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl herum und hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck.
„Was’n los?“ fragte ich sie.
Doch anstatt Anna antwortete meine Mitarbeiterin.
Sie sagte: „Die Anna ist so eierig wegen dem Kühlakku.“
„Was?“ Mein Herz raste plötzlich wieder, als wäre ich fünf Stockwerke (ohne Lift ) hochgerannt.
„Jaaaa,….. die Anna brauchte halt einen Kühlakku wegen ihrem Popo“, leierte die Kollegin im Zeitlupentempo herunter.
„Waaas?“ wiederholte ich erneut. Mein Herz stand kurz vor’m Stillstand.
„Und du hast ihr jetzt einen Kühlakku gegeben?“ fragte ich inzwischen atemlos geworden.
„Naaaa klar, sie hatte ja solche Schmerzen.“
„Solche Schmerzen…“ murmelte ich vor mich hin, als ich mit schnellen Schritten zu Annas Stuhl ging, sie am Arm von ihrem Sitzplatz zog und mit den Worten „Geh bitte auf’s Klo!“ ein wenig unfreundlich wegschickte.
Die Kollegin machte große Augen.
Ich klärte sie auf und sagte:
„Anna heißt nicht ohne Grund Kühlakku-Anna. Sie liebt den Kühlakku und denkt, sie kann nicht ohne ihn. Das kann sie und das weiß sie auch eigentlich. Dass ihr nun der Popo weh tat, kommt nur davon, dass Anna vor dem Mittagessen nicht auf dem Klo war und der ‚Stinker‘ nun auf sein Recht auf Freiheit pocht.“
Die Kollegin starrte mich an, als hätte ich ihr gerade gesagt, sie müsse mir alle Namen der Kinder rückwärts aufsagen.
„Mensch, die Anna muss mal ganz gepflegt kacken gehen und hält das nun ein, weil sie weiß, dass sie vor dem Essen auf das Klo gehen soll.“
„Ach sooo!“ Die Kollegin starrte mich immer noch an, als wäre ich von einem anderen Stern.
„Aber sie hat mir doch gesagt, sie hat so Popo-Weh“, versuchte sie sich zu entschuldigen.
„Klar hat sie Popo-Weh. Wenn das Ei gelegt werden muss, dann muss es gelegt werden. Das ist der natürliche Lauf der Natur. Und wenn der Stinker schon halb rausguckt, dann tut es weh, wenn man ihn am Freigang hindert!“
Ab da war ich bei der Kollegin bestimmt unten durch. Wie konnte ich nur so reden?
Mir egal. Hauptsache meine Theorie stimmte (sie stimmte tatsächlich) und Anna brauchte nun wirklich keinen Kühlakku mehr.
Mit entspanntem Gesichtsausdruck und viel mehr Bewegungsfreiheit in den Beinen betrat sie nach ihrem Klogang den Gruppenraum.
Ab da war sie wirklich geheilt.
Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass sie das Draufsitzen auf dem Kühlakku als sehr unangenehm empfand und ihm deshalb gänzlich abschwor, oder ob sie nun merkte, dass sie ihn eigentlich ja wirklich gar nicht brauchte.
Eine Woche später
Lisa war im Garten hingefallen. Nina kümmerte sich um sie, hob sie vom Boden auf und schob Lisa zu mir.
„Ich glaub die Lisa braucht jetzt ’nen Kü….“
Meiner streng aussehenden Gesichtsmimik entnehmend, dass ich den Rest des Satzes gar nicht hören will, verbessert sich Anna und sagte: „Die Lisa braucht, glaub‘ ich, ein bisßchen Zauberluft!“
Hahaha, na Gott sei Dank 🙂
Noch ein Nachtrag: Ralf hat neue Pflaster gekauft. Sie glitzern je nach Lichteinfall in den schönsten Farben. Hologrammpflaster. Seit er sie gekauft hat, will ich sie jeden Tag auf meinen Körper kleben. Über Mückenstiche ärgern oder darüber, sich an einem Blatt Papier geschnitten zu haben? Mit mir nicht, denn schneller als der Schmerz bin ich an der Pflasterbox, um mir das bunte Dings herauszusuchen. Und während meine beklebten Stellen so schön funkeln, fühle ich mich so süß an Anna und ihren Kühlakku erinnert 😉 ❤
Wie schön, dass du Anna schon frühzeitig von ihrem Kühlakku „trennen“ konntest. Manche Kinder setzen dieses ständige Verlangen nämlich noch in der Schule fort – mit der Folge, dass alle von mir gespendeten Kühlkissen binnen kürzester Zeit ( wegen irgendwelcher Nichtigkeiten) aus dem Kühlschrank verschwinden – i.d.R. auf Nimmer-Wiedersehen.
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Oh je Regina 🙈 Ich fühle mit dir. Heiße Grüße statt Kühle Akkus 😄😘
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Kühlpacks helfen gegen alles, das ist doch klar. Wie schön, dass ich jetzt in den Ferien keine verteilen muss😂
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Und nach den Ferien auch nicht mehr. Das wär‘ doch was, Birgit. 😂 Dann haben sich die Schüler*innen den Kühlakku abgewöhnt. 😂 👍
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hahaha! Kinder sind so genial mit ihren Spinnereien. Meine Tochter ist ein halbes Jahr mit einer Taucherbrille rumgelaufen. Warum konnten wir allerdings nie rausfinden. Ich mag das, wenn „Kindergartentanten“ Humor und Durchsetzungskraft haben. Mein Sohn schwärmt noch immer von seiner alten „Tante“, die mittlerweile seit zwei Jahren in Pension ist und an die ich beim Lesen dieser Geschichte sehr, sehr stark denken musste. 🙂
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Ich lache noch über die Taucherbrille 😂 👏 Jedes Kind ist ein Individuum und sollte seine Spleens haben dürfen. ❤
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Stimmt. Aber es ist trotzdem schön, dass diese Phasen auch wieder verschwinden. 😉
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😄
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