Im Himmel braucht man keinen Führerschein

Liebste Nele,

ich weiß leider nicht, wie das Wetter war, als du am 23.11. vor 18 Jahren geboren wurdest, denn im Kreißsaal gab es kein Fenster. Deinen Zweitnamen Johanna hast du bekommen, weil unsere Hebamme sich so liebevoll um uns gekümmert hat, während wir alle auf dich gewartet haben. Du hast dir sehr viel Zeit gelassen, fast zwei Tage lang haben wir zu viert (dein Papa, ich, Johanna und du) im Kreißsaal verbracht. Mamas müssen ihren Kindern solche Details stets zu ihren Geburtstagen erzählen. Das ist sowas wie ein ungeschriebenes Mamakindgesetz.

An deinem 18. Geburtstagsmorgen im Himmel hat hier auf Erden die Sonne geschienen. Es waren nur vereinzelt Wolken zu sehen. Darüber haben wir uns sehr gefreut, denn wir wissen ja, dass du an deinen Geburtstagen im Himmel die Wolken stets zur Seite schiebst, um mehr Platz für deine große Party zu haben. Vor unserer Wohnungstür stand an diesem Morgen eine Tasche. Deine Grogro (Großeltern aus Groß Grönau) haben dort eine liebe Grußkarte, einen Blumenstrauß mit 18 Rosen und leckere Brötchen für uns hinterlassen. Von deiner Mamaoma bekommen wir auch noch etwas geschenkt.

Dann wurde es ein bisschen hektisch. Dadurch, dass dein Papa und ich so lange den tollen Sonnenhimmel bewundert, an den tollen Rosen geschnuppert hatten und gefrühstückt hatten, war ich ein bisschen spät dran. Ich hatte ja noch meinen Termin bei meiner Physiotherapeutin wegen meiner kranken Wirbelsäule. Also bin ich ruckizucki in meine Jacke und die Schuhe geschlüpft, habe mir die tolle Mütze, die Dorte letzten Winter für mich gestrickt hat, auf den Kopf gesetzt und meinen Fahrradschlüssel vom Schlüsselbrett genommen. In dieser Aufbruchstimmung hat dein Papa mich an meinem Ärmel zurückgehalten und gesagt, er sei ein wenig traurig. „Aber warum bist du denn an diesem schönen Tag traurig?“ habe ich gefragt und wusste nicht, wohin ich zuerst zeigen sollte. Auf den Himmel, die Sonnenstrahlen, den Rosenstrauß oder mich? Dann hat er mir erzählt, dass er mir so gerne auch einen schönen Blumenstrauß gekauft hätte. Er wollte das heimlich machen, während ich bei der Physio war, aber nun hatte er gemerkt, dass er noch so einiges vorbereiten wollte und war ein wenig ratlos. „Ist es okay, wenn du dir selbst einen schönen Strauß kaufst?“ hat er mich gefragt und mit einem Geldschein vor meiner Nase rumgewedelt. „Aber die Rosen…“, habe ich gesagt. „Aber die sind ja nicht von mir“, hat er gesagt. Die Zeit drängte, deswegen habe ich den Geldschein geschnappt und bin die Treppen hinuntergelaufen. Schnell auf’s Rad und dann in einem Affentempo zur Physio geradelt. An der Rezeption der Praxis sitzt nämlich eine strenge Frau und ich wollte keinen Ärger mit ihr an diesem, deinem Tag.

Ein wenig abgehetzt bin ich dann in den Fahrstuhl gestiegen, um mich in den 3. Stock fahren zu lassen. Ja, ich weiß, es wäre besser gewesen, die Treppen zu nehmen, aber ich brauchte eine kurze Zeit, um mich auszuruhen. Unter meinem Mundnasenschutz habe ich die Zunge raushängen lassen, so kaputt war ich. Das war keine so gute Idee, denn ich schmeckte plötzlich Waschmittel. Zum Glück nur wenig. Nicht, dass mir noch Seifenblasen aus dem Mund gekommen wären. Über diesen Gedanken musste ich plötzlich so lachen, dass ein Mann, der oben an der Fahrstuhltür wartete, mich ganz komisch angeschaut hat, als die Tür aufging. Die Rezeptionsfrau hat schon wieder streng geschaut und mir die Liste zum Unterschreiben hingelegt. „Wie geht es eigentlich ihrer Schwester?“ habe ich sie gefragt, während ich meine Unterschrift auf das Behandlungsblatt setzte. Vor Langem hat sie mir nämlich mal erzählt, dass ihre Schwester an Krebs erkrankt sei. Krebs ist eine schlimme Krankheit und es ist gut, dass du im Himmel nichts davon weißt. Keine Trauer, keine Krankheiten, keine Schmerzen. Die strenge Frau hat mir gesagt, in welchen Behandlungsraum ich gehen soll. Ich war gerade beim Hände waschen, da rief sie meinen Namen. Oh je, hatte ich meine Hausaufgaben nicht gemacht, den Kugelschreiber aus Versehen eingesteckt oder sonst etwas getan, was sie verärgert haben könnte? „Vielen Dank, dass sie sich nach meiner Schwester erkundigt haben“, sagte sie mir und ich sage dir, ich habe sie das erste Mal, seit ich dort in Behandlung bin, lachen gesehen. Ist das nicht schön, dass man mit solch kleinen Gesten jemanden zum lächeln bringen kann? Ich fand’s ganz fabelhaft.

Nach der Behandlung habe ich wieder den Fahrstuhl genommen, denn ich wollte ganz schnell wieder nach Hause zu deinem Papa. Zuerst musste ich aber noch in den Supermarkt, um Blumen für mich zu kaufen. Außerdem wollte ich noch ein Stück Torte für ihn und mich mitnehmen. An deinem Ehrentag wollten wir fürstlich speisen. Ein Moccatortenstück, wie es dein Papa so gerne isst, gab es aber nicht. Also habe ich Berliner mit Smarties drauf gekauft. Die sahen so schön bunt aus und das passt doch zu deinem Geburtstag. Im Laden selbst war eine unentschlossene Frau die immer genau dort lang lief, wo ich lang laufen wollte. Wenn ich links an ihr vorbei wollte, ging sie auch nach links und wenn ich sie rechts überholen wollte, ging sie nach rechts. Da war ich schon ein wenig genervt, aber an einem Tag wie diesem hatte ich es mir verboten, mich aufzuregen. Bestimmt würde dein Vater zu Hause schon auf mich warten. Der Blumenstand brachte mich dann auch noch vor eine Herausforderung, denn es gab fast nur Weihnachtssterne und kaum Blumensträuße. Nelken mag ich nicht und Tulpen gab es nicht. Also beschloss ich, mit dem Rad weiterzufahren, denn um die Ecke gab es noch ein paar Geschäfte. Doch auch in den Geschäften um die Ecke gab es nur Adventsgestecke und Weihnachtssterne. Ob dein Papa sauer wäre, wenn ich ohne Blumen für mich nach Hause käme? Natürlich nicht, deswegen habe ich meine Einkaufstour abgebrochen und bin nach Hause geradelt.

Zuhause angekommen hat dein Papa mir aus der Jacke geholfen und ich habe ihm berichtet, dass es keine Moccatorte gab und auch keine Blumen. Das fand er überhaupt nicht schlimm. „Die Gäste sind schon da“, hat er freudig gesagt und die Tür zum Esszimmer aufgemacht. „Das gibt’s ja nicht!“ habe ich gerufen und sofort alle begrüßt. An deiner Geburtstagstafel saßen nämlich der Ernie, Matze MuPS, Mutter Hase die eigentlich ein Schaf ist und Ministeph & Miniralf. Auf ihren Tellern lagen Gummibärchen und Lakritze. Wir hatten auch roten Wackelpudding in Herzförmchen gefüllt und wollten diesen mit Vanillesauce essen. Leider ging die Götterspeise aber nicht aus den Förmchen raus. Wir haben es probiert, aber das war ein großes Kladderadatsch. „Ich weiß was!“ habe ich plötzlich gerufen und bin mit den Herzen zum Gefrierschrank gelaufen. „Wenn wir sie kurz schockfrosten, gehen sie bestimmt besser aus der Form“, habe ich deinen Papa über mein Vorhaben aufgeklärt. Dann haben wir die bunten Berliner gegessen, die absolut köstlich waren. Alle hatten ihren Spaß. Ernie hat musiziert und ein Geburtstagslied für dich angestimmt. Er selbst war dabei am lautesten und hat so derart schief gesungen, dass wir alle lachend „Aufhören!“ riefen. Ernie wollte aber nicht aufhören, deswegen hat Matze MuPS ihm ganz viele Gummibärchen in den Mund gestopft und schon war Ruhe. Danach sind wir alle ins Bällebad gesprungen. Dafür hatten dein Papa und ich zuvor 18 Luftballons aufgepustet und im Wohnzimmer in einer kleinen Ecke verteilt. Heissa, war das ein Spaß.

Und dann ging plötzlich ein Sternenregen über uns nieder. In unserem Wohnzimmer! Wie konnte das sein? Die Antwort ist ganz einfach. In einem der Luftballons waren ganz viele Sterne versteckt und weil Mutter Hase, die eigentlich ein Schaf ist, beim Hüpfen auf eben diesen Ballon purzelte, hatten wir nun auch noch einen ganz verrückten Sternezauber mitten in der Wohnung.

Es war ein unglaublich schöner, aufregender und spaßiger Tag, den wir gemeinsam hatten. Am Abend haben dein Papa und ich noch mit Wunderkerzen auf dem Balkon gestanden. Wir wollten so gerne, dass du uns vom Himmel aus sehen kannst. Vorsorglich haben wir deshalb gleich mehrere Wunderkerzen mit Draht zu einem Wunderkerzenblumenstrauß zusammengebunden und diesen im Nachthimmel umhergeschwenkt. Als die letzte Wunderkerze ausgebrannt war, haben wir dir noch viele Küsse geschickt. Ich glaube, wir hätten noch stundenlang so auf unserem Balkon stehen können. Allerdings fiel mir dann noch etwas ein. „Ralf, herrjeh, wir haben die Wackelpuddingherzen im Gefrierschrank vergessen!“ rief ich und so kam es, dass wir an diesem Tag noch am späten Abend gefrorene Götterspeisenherzen mit Vanillesauce, garniert mit Gummibärchen, aßen.

Eines Tages sehen wir uns wieder und dann werden auch wir keine Trauer und keine Schmerzen mehr kennen, Prinzessin Nele. Unsere Liebe zu dir ist unendlich.

❤ Mama & Papa ❤

7 Kommentare zu „Im Himmel braucht man keinen Führerschein

  1. Hallo Steph.eine soooo wunderschöne Geschichte, ich habe schon viele gelesen, aber die hier ist mit Abstand die schönste,danke für diese tolle …,ich habe Pippi in den Augen, fühle dich gedrückt 😘

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  2. Liebe Steph,
    Deine Geschichte hat mich unglaublich berührt und mir stehen die Tränen in den Augen.Ich wünsche Dir und Deinen Mann alles Gute. Habt eine schöne Adventszeit.🍀🍀🍀🍀🍀💕💕✊✊🐞🐞🐞🐞🐞

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