Jugend in der Herberge

Der Sohn einer Freundin war das erste Mal auf Klassenfahrt. Drei Tage lang weg von zu Hause. Mit anderen Mitschüler:innen in der Jugendherberge. Ich erinnerte mich sofort an Früchtetee aus Edelstahlkannen, Küchendienste und Nachtwanderungen…

Ich war fünf Jahre alt, als mein 14-jähriger Bruder von seiner Klassenfahrt aus Berchtesgaden wieder nach Hause kam. Er zeigte meiner Mutter das Foto, auf dem er mit seinen Klassenkamerad:innen auf einer langen Bank sitzt. Sie haben alle Kostüme an und sind auf einer Rutsche 650 Meter tief in die Alpen hineingerutscht. Während mein Bruder weitererzählte, lutschte ich an den bunten, eckigen Steinen, die er mir in einer Schachtel mitgebracht und überreicht hat. „Das sind doch keine Bonbons, Steph!“, sagte mein Bruder und las mir vor, was auf der Schachtel stand: Die Salzlagerstätte Berchtesgaden ist vor ca. 250 Millionen Jahren entstanden. Besonders schöne und seltene Salzgebirgspartien enthalten bis zu 95 % Salz. Glück auf! 250 Millionen Jahre. Wow. Ich war erst fünf und fand das schon viel. Bald würde ich zur Schule gehen und dann würde ich mich auf meine Klassenreise freuen, denn rutschen fand ich supertoll.

Brustbeutel und Co

Ich hüpfte auf meinem Bett herum, während meine Mutter den Zettel von der Schule las. Ihre rot lackierten Fingernägel tippten immer wieder auf einzelne Zeilen, zu denen sie „Haben wir“ sagte. „Was haben wir, Mama?“, fragte ich und unterbrach dafür kurz meine Hüpferei. „Deinen Brustbeutel“, antwortete sie. Ich musste immer kichern, wenn sie dieses Wort sagte: Brustbeutel. Weil man ja auch Busen zur Brust sagen kann, fragte ich mich, warum es nicht Busenbeutel hieß. Allerdings wollte ich nun nicht nachfragen, schließlich hatten die Erwachsenen neulich schon alle gelacht, weil ich sagte, BH sei die Abkürzung für Busenbehälter. Wir packten in die Reisetasche alles rein, was auf der Liste meiner Lehrerin stand: Regenkleidung, festes Schuhwerk, Hausschuhe, Handtücher, Badeanzug, Bettwäsche, Hygieneartikel, Schlafsachen, Kleidung, Brustbeutel, kleiner Rucksack für Wanderungen, Taschengeld. Selbstredend musste auch mein Ernie mit, der treue Gefährte seit meinem zweiten Lebensjahr. Vom Freund der Familie bekam ich sogar eine Taschenlampe mit. Sie sah nicht aus wie die Taschenlampen die ich kannte, sie hatte eine Drehscheibe vorne. Ein sogenannter Farbfilter in Grün und Rot. „Falls die Wildschweine kommen, musste du das Licht ändern“, wurde mir gesagt. Ich war 10 Jahre alt und absolut angstfrei, aber einfach so einem Wildschwein zu begegnen, fand ich dann doch ein wenig befremdlich. Ich wollte doch nur rutschen! Einen Tag später ging es los. Aufgeregt wuselten wir an der Bushaltestelle unserer Schule herum. Der Busfahrer verstaute unsere Taschen, die Lehrerin zählte uns alle durch, die Eltern verabschiedeten sich mit Küsschen von uns. Dann stiegen wir in den großen Reisebus und winkten, bevor wir ins 45 Kilometer entfernte Schwarzenborn gefahren wurden. Die Fahrt war lustig. Wir erzählten uns, was wir alles dabei hätten und verabredeten, mit wem wir uns ein Zimmer teilen würden. Martin hielt sich eine Tüte vor’s Gesicht, weil ihm beim Busfahren immer schlecht wurde, Caro weinte, weil sie immer Heimweh hatte, Meike verteilte Butterkekse und ich freute mich auf’s Rutschen.

Boglerhaus

Am Ziel angekommen, zischte der Bus. „Der Bus hat gepupst“, sagte einer und wir lachten alle. Kinderwitze eben. Die Jugendherberge mit ihren vier Stockwerken erhob sich vor uns. Wir rissen alle die Münder auf, denn so ein großes Haus kannten wir alle nicht. Bevor wir unsere Zimmer beziehen konnten, mussten wir alle in den Frühstückssaal kommen, uns auf die Stühle setzen und still sein, denn es sprach der Herbergsvater. Meine Großeltern waren auch Herbergseltern einer Jugendherberge. Ob die sich wohl kannten? Auf den harten Stühlen sitzend hörten wir schweigend zu, was der Herbergsvater uns zu erzählen hatte. Er sprach von Nachtruhe, Küchendienst und Mittagszeiten, zu denen wir still sein mussten. Martin sagte, er dürfe nicht beim Küchendienst helfen, da seine Haut auf Spülmittel allergisch reagieren würde. „Oh, das ist schade. Bist du auch gegen Chlor allergisch, denn wir haben ein eigenes Schwimmbad im Keller“l fragte der Herbergsvater und kurierte Martins Spülmittelallergie damit in Nullkommanix. Ich hatte indes verstanden, dass nicht jede Klassenfahrt bedeutete, ein Salzbergwerk hinunterzurutschen und hatte keine Zeit, darüber traurig zu sein, denn hier im Boglerhaus mitten im Rotkäppchenland Schwarzenborn gab es soviel mehr: Ein Schwimmbad, eine Kegelbahn und bunt bemalte Wände in allen Fluren. Mein Zimmer teilte ich mir mit Meike und Ernie. Wir bezogen unsere Betten mit der von uns mitgebrachten Bettwäsche und waren uns schnell einig, wer im Stockbett oben und wer unten schlief. Anschließend halfen wir Martin, der noch nie in seinem Leben ein Bett selbst bezogen hatte und erkundeten dann im Alleingang das ganze Haus von unten bis oben. Es war schwierig, sich nicht zu verlaufen, denn es gab vier Stockwerke und viele Zimmer. Doch schon einen Tag später sausten wir in unseren Hausschuhen durch das Haus, als wohnten wir dort schon seit Jahren. Weil Martin auch zu Hause in meiner unmittelbaren Nachbarschaft wohnte, half ich ihm hier in der neuen Unterkunft, wo ich konnte. „Den Brustbeutel musst du immer um den Hals tragen und wenn du schläfst, trägst du ihn unter deinem Schlafanzug“, erklärte ich, die Herbergsenkelin, ihm in ernstem Ton. „Warum?“, fragte er ängstlich. „Na, wegen der Einbrecher, die nachts ins Haus kommen könnten“, antwortete ich, als wäre es völlig normal das so etwas passierte. Da war zuviel für ihn und er weinte, wofür ich ihn beruhigen und sagen musste, dass dies nur ein Scherz gewesen sei. Die Strafe folgte eine Stunde später auf dem Fuße: Ich spielte gerade mit Meike zur Mittagsruhe auf unserem Zimmer „Fingertwist“, als wir plötzlich einen lauten Knall hörten. Erschrocken zuckten wir zusammen. „Was war das?“, flüsterte Meike. „Ich weiß es nicht, aber da krabbelt ein Mann an unserem Fenster vorbei“, antwortete ich. Jetzt war mir selbst Angst und Bange, denn der Mann, der da vor unserem Balkonzimmer auf allen Vieren über den Acker kroch, sah merkwürdig aus. Er hatte einen Helm auf, trug fleckige Klamotten und hatte eine Waffe bei sich. Das war keine einfache Pistole wie die Erbsenpistole meines Bruders, das war ein Gewehr! Als ich vier Jahre alt war, hatte mein Opa mir Luftballons an den Gartenzaun seines Grundstückes gehängt und gezeigt, wie man mit einem Luftgewehr darauf schießt. Doch was machte der Mann, der sich krabbelnd wie ein Baby fortbewegte, hier vor unserem Fenster? Zum Glück betrat unsere Lehrerin in diesem Moment unser Zimmer und klärte uns darüber auf, dass in der Nähe ein Militärübungsplatz der Bundeswehr sei und der Mann ein Soldat sei, der übts wie man sich mit einem schweren Rucksack auf dem Rücken durch das Gelände kämpft. Puh, und ich dachte, das wilde Schweine hier mein Problem sein würden. Was für eine Aufregung. Wir waren nur vier Tage auf dieser Klassenfahrt, aber wir erlebten so viel. Zur Tageswanderung bekamen wir alle von den Herbergseltern eine transparente Tüte, in der sich ein Apfel, eine Safttrinktüte und ein mit Käse belegtes Brötchen befand. Letzteres schmeckte, als wäre es aus Gummi. Bei der Nachtwanderung stellte ich meine Bundeswehrtaschenlampe auf Rot, um ein Wildschwein anzulocken, denn ich war schon immer der Meinung, dass man sich seinen Ängsten stellen muss. Aber als Martin deswegen anfing zu weinen, ließ ich es bleiben. Ich lernte, dass der Küchendienst nicht so schlimm war, wie die Tatsache beim Kegeln zu verlieren und fühlte mich im hauseigenen Hallenbad pudelwohl wie ein Fisch im Wasser. Als wir nach vier Tagen wieder nach Hause fuhren, war ich an Erfahrungen und Erlebnissen wieder einmal reicher.

Boglerhaus Revival

Jahre später, ich war inzwischen Teenager, da fuhren wir mit dem Jugendclub des Dorfes ein Wochenende in den Knüll und selbstverständlich übernachteten wir in der gleichen Jugendherberge. Es hatte sich fast nichts geändert: Die Wände im Treppenhaus waren noch immer bunt bemalt, die Scheiben des Hallenbads waren beschlagen und in der Kegelbahn roch es nach kaltem Zigarettenrauch. Doch eines war anders, denn ich war schwer verliebt in Helge. Er ging in meine Parallelklasse, war ein Skater und maßgeblich Schuld daran, dass ich mein Französischbuch mit seinem Namen vollkrickelte. Wegen ihm trug ich Homeboy-Klamotten, lernte die Biografie von Tony Hawk (weltbester Skateboardfahrer) auswendig und schwänzte den Nachmittagsunterricht. Er wäre auf dem Ausflug in den Knüll dabei. Und es war ja nicht nur ein ganz normales Wochenende, es war das Wochenende, an dem ich Geburtstag hatte. In meinen Träumen rollte Helge um Mitternacht auf seinem Skateboard an mich heran, balancierte ein Yes Torty mit brennender Kerze in der einen Hand und küsste mich. Ich war so aufgeregt, dass ich tagelang nicht schlief. Am Tag der Tage hatten wir alle unsere Zimmer bezogen, die Reisetaschen ausgepackt und auf der Kegelbahn ein paar Kegelspiele gespielt. Zum Abendbrot bot die Jugendherberge wieder kalte Platten und Früchtetee aus Edelstahlkannen. Um 23:55 Uhr versammelten sich alle meine Freunde vor meiner Tür. Ich konnte sie tuscheln hören und fand es süß, wie sie mich gleich überraschen würden. 0:00 Uhr. Sie stimmten ein Geburtstagslied an, ließen mich hochleben und überreichten mir kleine Geschenke. Ich wollte gerade die Kerze auf dem Yes-Törtchen auspusten, als Patrick rief, jemand müsse kommen, dem Helge ginge es schlecht. „Natürlich geht es ihm schlecht, ich bin ja auch nicht bei ihm“, dachte ich selbstbewusst. Wenn er mich erst einmal geküsst hätte, dann würde er ganz schnell wissen, wie sich der siebte Himmel anfühlt. Es kam anders. Als wir in Helges Zimmer ankamen, hing dieser über der Kloschüssel und erbrach sich. „Er hat zuviel gesoffen“, sagte einer. „Bei dem, was der in sich hineingeschüttet hat, kein Wunder“, sagte ein anderer. Es folgten weitere Würggeräusche. Als Helge seinen Kopf zu mir drehte und irgendetwas von „Herzlichen Glückwunsch“ faselte, war meine Liebe zu ihm so schnell aus wie die Kerze auf dem Yes Torty. „Du kotzt mich an“ war meine uncharmante Antwort auf sein lallendes Glückwunschgefasel. Ein kurzes Wochenende im Knüll hatte gerreicht, um mich zu entlieben.

Schnullerpartys

Die nächste Klassenfahrt folgte und sie ging ins 70 Kilometer entfernte Eschwege. Die Jugendherberge dort war die schönste, die wir bisher gesehen hatten: Vierbettzimmer mit Galerie, ein Spielplatz vor der Tür, Tischkicker und eine eigene Dusche auf dem Zimmer. Wir Mädchen im Teenageralter waren total verrückt nach Jungs und Babyschnullern. Fragt mich nicht warum, aber eine jede von uns hatte einen Schnuller am Rucksack hängen. Ein Jahr davor waren es noch Gummibärchen aus Plastik gewesen, nun also Schnuller. Die Angebote, die die Jugendherberge hatte, interessierten uns nicht. Wir Mädchen saßen in Gruppen auf der Tischtennisplatte des Spielplatzes und beobachteten die Jungs, die aus anderen Dörfern angereist waren. Für uns war diese Reise wie eine andere Welt. Hier kannte man uns nicht, wir könnten sein, wer wir sein wollten. „Ich heiße Uli, und du?“, fragte ich einen der Jungs. Wir fanden es aufregend, in andere Rollen zu schlüpfen, aber lange hielten wir das Spiel nicht aus. „Ich brauch mal wieder ’nen neuen Schnuller, lass mal ins Dorf gehen!“, schlug Anja vor. Kein Zweifel, wir hörten uns an wie Drogensüchtige. Im Nachhinein war es eine Katastrophe, mit uns „Pubertieren“ auf Klassenfahrt zu gehen. Alles Tolle wie Bogenschießen, Fahrradfahren und Spielenachmittage schlugen wir aus. Alles, was wir wolten, war mit Jungs zu knutschen und im Dorfladen neue Schnuller zu kaufen. Nicht, um daran zu nuckeln, sondern um sie an unsere Rucksäcke zu hängen. Im Dorfladen fiel uns auf, dass Jule fehlte. Unsere sportliche Jule mit dem trockenen Humor und einer Lache, die so ansteckend war, dass man einfach immer mitlachen musste. Wollte sie wohl keinen neuen Schnuller? Wo war sie nur? Wir fanden sie hinter den Tannen und sie war nicht alleine. Sie machte das, wovon wir anderen nur träumten: Sie knutschte mit einem Jungen! „Na, dass die keinen Schnuller mehr braucht, ist mir klar!“, sagte Katrin und zwinkerte uns zu. Abends im Bett versuchten wir Jule auszufragen, aber sie strahlte nur wie ein Honigkuchenpferd und starrte im Bett liegend die Decke an, als wäre dort das Antlitz ihres Knutschboys in Postergröße angebracht. Das alles ist jetzt 31 Jahre her. Noch heute ist Jule mit ihrem Posterboy zusammen und seit zehn Jahren sind sie Eltern eines Sohnes. Merke: Lieben enden oder beginnen auf Klassenfahrten. Als Grundschulkind hat man noch Heimweh, dann kommt die erste Liebe und entweder sie erbricht sich über einer Kloschüssel oder ist der Grund, warum man keine Schnuller kaufen geht.

Ich weiß nicht, ob die Herbergsleute immer wissen, welche kleinen und großen Dramen sich ergeben, wenn Kinder oder Teenager in ihren Häusern zu Gast sind. Es soll wie ein Zuhause weiter weg sein mit dem Küchendienst, der Mittags- oder Nachtruhe, den Nachtwanderungen und den Kegelbahnen. Und zwischendurch passiert das Leben. Das sich Zurechtfinden in einem neuen Haus, das Erkunden der Jungsschlafzimmer bei Nacht, das Grenzen überschreiten und Erkennen, dass das Leben ein großes Abenteuer ist. Ich habe die Übernachtungen in Jugendherbergen immer sehr gemocht und war fast traurig, als unsere Abschlussfahrt nach Amsterdam ging und wir uns selbst in kleinen Hütten versorgen sollten. Aber das ist eine andere Geschichte und vielleicht schreibe ich irgendwann darüber.

Herzlichst, eure Steph ❤

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