Bücherschätze

Neulich habe ich ein ausgesetztes Buch gefunden. Erst dachte ich, dass es jemand vergessen hatte, aber als ich es in die Hand nahm, entdeckte ich einen Aufkleber auf der Rückseite. Book Crossing stand darauf geschrieben. Eine Internetadresse war beigefügt. Zu Hause las ich mehr über das Thema. Book Crossing wurde von dem Amerikaner Ron Hornbaker vor über zwanzig Jahren erfunden. Der Sinn dabei ist es, Bücher miteinander zu teilen, und das eben öffentlich. Irgendwann muss die Idee nach Deutschland geschwappt sein, wo ich nun auch ein ausgesetztes Buch in den Händen hielt. Jedes Buch, das man selbst auswildern möchte, muss zuvor auf der Internetseite Bookcrossing registriert werden. Zu diesem Zweck bekommt es eine eigene Identifikationsnummer. Andere Menschen, die das Buch finden, können dann auf der Webseite nachgucken, wo sich das Buch gerade aufhält. Ich erfuhr, dass sich „mein“ Buch, welches ich in einer Regionalbahn gefunden hatte, zuvor durch die halbe Republik begeben hatte. Es lag bei Ikea in Fürth/Bayern, dann in einem Edekamarkt in Fulda, reiste nach Würzburg an die Festung Marienberg, tauchte in einem Blumenladen in Braunschweig auf, wurde im Europacenter in Hamburg ausgesetzt und lag nun vor mir.

Erste Bücherliebe

Alle zwei bis drei Wochen fuhr meine Mutter mit dem Rad (und mir hinten drauf ) zur Bücherei. Ich war drei Jahre alt und hatte viele Bücher zu Hause, aber meine Mutter wollte mir gerne neue Anreize zum Lesen und Betrachten geben. Der Weg zur Bücherei war mit dem Rad ein bisschen beschwerlich. Wer die Kasseler Berge kennt, der hat eine Ahnung davon, wie dieser Weg in einem kleinen hessischen Dorf ausgesehen haben könnte. Meine Mutter rollte mit mir die Straße, in der wir wohnten, hinab, nahm Anschwung für den Hügel (den wir immer den Kindergartenberg nannten, weil sich dort „oben“ auch der Kindergarten befand) und schaffte es mit Schnaufen und sehr viel Anstrengung, den Berg ohne abzusteigen radelnd zu erklimmen. Ich auf meinem Fahrradsitz war da sicher keine große Hilfe, im Gegenteil. „Schneller, schneller!“ rief ich und klopfte auf ihren Rücken, um sie anzufeuern. Das mag ziemlich frech erscheinen, jedoch hatte sie mir die Welt der Bücherei gezeigt und ein Feuer in mir entfacht. Zum Glück ging es nach dem Erreichen des Kindergartenbergs wieder einen Berg hinunter, sodass sich meine arme, geplagte Mutter ein wenig ausruhen konnte. Indes war ich so dermaßen aufgeregt, dass ich meine Beine kaum mehr still halten konnte und fast vergaß, sie von den Speichen fernzuhalten.

Die Bücherei war gegenüber der Post und schon das war für mich ein Highlight, denn welches Kind liebt es nicht, sich im Warteraum einer Behörde auf einen Stuhl vor einen kleinen Tisch zu setzen, um dort mit einem Kugelschreiber, der an einer Kette hängt, wichtige Formulare auszufüllen? Es gab dort keinen Kindertisch, geschweige denn eine Kinderecke mit Spielsachen, aber das wollte ich auch nicht. Sich an einen der Erwachsenentische zu stellen, auf einem der Stühle Platz zu nehmen und mit dem Kugelschreiber an der Kette alles auszufüllen, was man ausfüllen kann, war schon extrem toll. Das durfte ich auch lange machen. Bis ich in den orangenen Schwamm biss, der eigentlich nur dazu gedacht war, dass Menschen dort ihre Briefmarken anfeuchteten. Die Bücherei, die wir wöchentlich besuchten, war in einem alten Gebäude untergebracht. Es roch nach Papier. Sessel und Stühle im Stil der 60er Jahre standen neben den ellenlangen Regalen voller Bücher, die alle geduldig warteten, bis sie jemand herauszog. „Dieses Buch will ich ausleihen!“, rief ich aufgeregt und zeigte es meiner Mutter. „Oh, die kleine Raupe Nimmersatt von Eric Carle, schön“, sagte sie und ging mit mir zur sogannten Kasse. Die nächsten Tage las mir meine Mutter jeden Tag das ganze Buch vor. Nichts durfte weggelassen oder verändert werden. Wie jedes Kind hatte ich Milliarden von Nervenzellen in meinem Gehirn, und dieses klatschte Beifall, wenn die Synapsen knallten. Mir gefiel die Geschichte der kleinen Raupe so sehr, dass ich gar nicht merkte, wie ich nebenbei einiges über die Welt der Raupen, aber auch das Zählen und Aufzählen, Farben und Bezeichnungen einiger Lebensmittel lernte. Der Unterschied zwischen Salat- und Essiggurke zum Beispiel. Ach, es war einfach zu schön. Die kleine Raupe fraß und fraß, aber satt war sie immer noch nicht…

… und so ging es mir auch. Nicht wegen des Essens. Sondern wegen der Bücher. Ich konnte es kaum erwarten, wieder in die Bücherei zu kommen, und so holte meine Mutter zwei Wochen später wieder das Rad aus der Garage, sagte mir, ich solle die Füße von den Speichen fernhalten, radelte den einen Berg hinunter, den anderen wieder hinauf und dann wieder hinunter, bis wir wieder vor der Bücherei standen. Ein Jahr später, ich war vier Jahre, bekam ich von Ralfs Eltern ein neues Buch zum Geburtstag geschenkt. Es war ein Buch von Janosch, den ich bis heute verehre und heißt Post für den Tiger. Es war eine Sonderausgabe der deutschen Post und handelt davon, wie der kleine Bär und der kleine Tiger die Briefpost, die Luftpost und das Telefon erfinden.

Selber lesen

Im Sommer 1984 wurde ich eingeschult und konnte Weihnachten des gleichen Jahres selbstständig lesen. Es war mir ein unglaubliches Erlebnis, Texte lesen und verstehen zu können. Ab da gab es kein halten mehr, ich durchsuchte die Bibliothek meiner Mutter wöchentlich, las und las und las. Am meisten wurde ich durch die Buchrücken dazu motiviert, ein neues Buch zu beginnen, allerdings wurde ich auch so manches mal arg gettäuscht. Das Jimmy nicht wirklich zum Regenbogen ging (Johannes Mario Simmel) und die Entdeckung der Langsamkeit (Sten Nadolny) mich als quirliges Kind bereits nach der zehnten gelesenen Buchseite eher zu einem Nickerchen als zum Weiterlesen inspirierte, verbuchte ich – siebenjährig – als Reinfall, der mal vorkommen kann. Zwischendurch schaute ich mir im Wartezimmer meines Kinderarztes begeistert Wimmelbücher von Ali Mitgutsch an und nahm kaputte Bücher wie „Mein kleiner Esel Benjamin“ mit nach Hause, um die losen Buchseiten mit Tesafilmstreifen zu kleben, um sie anschließend in der Bücherbox des Arztes wieder auszulegen. Irgendwann bekam ich ein großes Medizinbuch in die Hand. Mit fein säuberlicher Handschrift hatte mein Urgroßvater eine Widmung hineingeschrieben. Es war ein faszinierendes Buch, denn von vielen Krankheiten waren Fotos abgebildet. Halb erschrocken, aber noch mehr gebannt, schauten meine Freundin und ich uns Furunkel, chronische Insuffizienz und Fußpilz an, um unseren Müttern am nächsten Tag zu erklären, wir könnten nicht zur Schule gehen, da wir an Skorbut litten.

Die verlorene Ehre

In der Schule selbst bekamen wir vorgeschriebenen Lesestoff. Bücher musste man ausleihen und im Falle des Verlustes bezahlen. Noch heute erinnere ich mich an die zerquetschte Banane in meinem Diercke Schulatlas, der einen Wert von 40 DM besaß. Der Atlas war hin, roch allerdings matschig süß und gut. Zu meiner Grundschulzeit ließ sich meine Mutter von dem Mann, mit dem sie zwei wunderbare Kinder hat, scheiden. Weil sie wusste, dass es viele Themen gab, die mich nun umschwirrten, bestellte sie mir bei einem Buchbasar der Schule das Buch „Von Supereltern kannst du träumen“. Ich habe das Buch mehre Male begeistert gelesen, weil ich mich damals darin so unfassbar verstanden fühlte. Ab der Orientierungsstufe wurde es lesetechnisch für mich wirklich interessant. Endlich nicht mehr in Fibeln lesen und Sätze ergänzen, sondern anspruchsvolle Literatur genießen. Die verlorene Ehre der Katharina Blum von Heinrich Böll öffnete mir die Augen über die gängige Praxis der Boulevardzeitung mit den vier großen Buchstaben. Ich war erschrocken, entsetzt, angeekelt und gewarnt. Später kamen die kleinen gelben Reclamheftchen in unseren Unterrichtsstunden zum Einsatz. Gehasst, geliebt, gelesen steht auf einem Plakat, das mir meine Freundin, als Literaturwissenschaftlein bei Reclam angestellt, vor ein paar Jahren mal schickte. Oft war es die Hausaufgabe, zwei bis drei Kapitel zu Hause zu lesen, was ich aufgrund meiner ausgeprägten Freizeitgestaltung selten tat. Schon früh hatte ich mir bei Büchern, deren Inhalt mich nicht sonderlich interessierte, antrainiert, die Texte querzulesen, weswegen meine Hausaufgabenfaulheit nicht auffiel. Ich lernte, dass die Jungfrau von Orleans einer Amazone gleich als Märtyrerin starb, erfuhr, wie Santiago (Der alte Mann und das Meer) mit dem Fang seines Lebens kämpfte und wie sich Henrik Ibsens Nora von ihrem Mann und ihrem Vater emanzipiert. Noch heute habe ich viele der kleine gelben Reclamheftchen bei mir zu Hause, die Zeichungen darin erinnern mich daran, wie langweilig mir im Deutschunterricht oft war.

Helen Keller

Da meine Mutter seit ihrer Kindheit selbst gerne liest, konnte sie mein Schulwissen oft noch unterstützen. Ich weiß noch genau, wie sie mir das erste Mal von Helen Keller berichtete. Ihre Lebensgeschichte hat mich so unglaublich gefesselt, dass ich mir neben ihrem autobiografischem Buch auch gleich den Film dazu kaufte. Wie konnte es nur möglich sein, dass eine Frau, die taubblind war, das Alphabet begreift und später zig Bücher verfasste? Es war ein Segen für sie, als Ann Sullivan als Teacher in ihr Leben trat und dem ungezogenen, verwöhnten Kind Buchstaben in die Hand dirigierte. Helen Keller überzeugte mich als Jugendliche davon, dass es keine Hürden gibt, wenn man sein Leben gestalten will.

Im Grunde ging es immer so weiter. Wenn Ralf und ich zu einem Kurzurlaub/Städtetrip aufbrechen, muss ich in einen Buchladen gehen und mich dort umsehen. Vieles habe ich gelesen, mich wunderbar verloren, weitergebildet und meine Phantasie angeschubst. Ich fürchtete mich in Paul Cleaves „Der siebte Tod“, Truman Capotes „Kaltblütig“ und Bret Easton Ellis „American Psycho“. Ich lachte Tränen bei Wladimir Kaminer, Joachim Meyerhoff und Oliver Uschmann. Ich war begeistert von den Werken der Jeanette Walls und erfuhr Trost durch den kleinen Prinzen, der Bibel und Elisabeth Kübler-Ross. Wie der Comedian Kurt Krömer in seinem Buch „Du darfst nicht alles glauben, was du denkst“ seine eigene Depression beschreibt, empfand ich als hilfreich. Es sind Welten, in die man abtauchen kann, wenn man liest und lesen kann. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich von meiner Mutter stets dazu angehalten wurde, Literatur als etwas ganz Besonderes zu betrachten, zu erleben und daran zu wachsen. Meine Anleiterin schenkte mir, nachdem unsere Tochter Nele Johanna verstarb, das Buch „Über den Tod und das Leben danach“ von Elisabeth Kübler-Ross. Ich habe dieses Buch dreimal verliehen und musste es mir dreimal erneut kaufen, weil ich die Bücher nicht wiederbekam. Erst war ich sauer darüber, aber dann dachte ich mir, dass es etwas Tolles sein muss, wenn man ein Buch liest, welches man nicht mehr hergeben mag.

Ich gebe mein Buch jetzt weiter und werde es an einem Ort aussetzen, wo es schnell gefunden wird. Mal sehen, wo es landet.

Herzlichst, eure Steph ❤

4 Kommentare zu „Bücherschätze

  1. Liebe Steph, in vielen Büchern, die Du hier vorstelltest, habe ich mich wiedergefunden. Mir ging es wie Dir: Das Buch von Elisabeth Kübler-Ross hatte ich verliehen und nie wiederbekommen. Ich empfehle ein Buch, das leider sehr schwer erhältlich ist: „Überseele Sieben“. Viele der von Dir gelesenen Bücher habe ich selbst gelesen. Als 5jähriges Kind konnte ich bereits lesen und habe nach meiner Einschulung in höheren Klassen vorlesen müssen. Ich liebe heute noch den Geruch eines frisch gedruckten Buches. Leider gibt es das nicht mehr. Danke für Deine Erinnerungen und liebe Grüße, Gisela

    Gefällt 1 Person

  2. Liebe Steph,

    vielen Dank für die schönen Worte. Ich bin auch von Kindheitstagen eine absolute Leseratte. In unserer Bibliothek war das Regal, welches für mein Alter war schnell weggelesen, so dass ich bei meinen Eltern anfing die Bücher zu lesen. Ich bin dann auch Buchhändlerin geworden, was für mich ein absoluter Traumberuf ist.

    Ganz liebe Grüße Annette

    Gefällt 1 Person

    1. Buchhändlerin muss ein schöner Beruf sein liebe Annette, Wenn ich für Geburstage des Sohnes meiner besten Freundin Bücher kaufe, dann freue ich mich immer, hier in Lübeck zu einer kleinen aber feinen Buchhandlung gehen zu können. Es riecht so gut dort, ich werde sehr gut beraten und mir werden Zeit und Ruhe bei der Auswahl geboten. Da ich in meinem Ausgangsberuf Erzieherin bin, interessiere ich mich stets sehr dafür, was es neues auf dem Markt der Kinderliteratur gibt. Am liebsten gehe ich an kalten, trüben Wintertagen dorthin, weil ich dann mehr das Gefühl habe, „draußen“ nichts zu verpassen. In meiner Bücherliebe könnte ich dort stundenlang sitzen und stöbern. Hab vielen Dank für deine Zeilen, Steph 🙂

      Like

Hinterlasse einen Kommentar