Gut gerüstet Teil 2

Das Wochenende über hatten wir Gelegenheit, uns an das Gerüst, welches sich direkt vor unseren Fenstern befand, zu gewöhnen. Verzieren durfte ich das graue Stahlgerüst nicht, Ralf war dagegen. Drei bis vier Wochen würden wir nun damit leben müssen, nicht zu erfahren, was unten auf dem Bürgersteig vor sich ging und auch den Balkon konnten wir nur in gebückter Haltung betreten. Die Seifenblasenmaschine war eingelagert, die Fenster nach dem ersten Regen mit Gerüst komplett verdreckt und alles schien düster.

„Mach mal die Beine zusammen, die Maler kommen!“ sagte Ralf zu mir und ließ mich mit empörtem Gesichtausdruck zurück. „Also weißt du, so wie du redest, könnte man meinen, ich läge nackig in obzöner Haltung auf dem Sofa herum.“ Das stimmte natürlich gar nicht. Ich saß auf dem Sofa herum. Im Schneidersitz. Angezogen. Ringelstrumpfhose und Rock. Sweatshirt und Sehhilfe. Alles da wo es sein sollte!

Aber wo waren die Maler? Auf dem Gerüst rumpelte es. Irgendwer erklomm die Metalltreppe. Zwischen den Palmen, die meterhoch auf unserer Innenfensterbank stehen, fand ich mich ein, um wie eine Detektivin heimlich nachzusehen, wer da nun die Stufen hochkam und tappte schon wieder in die Falle. Denn der Maler sah mich sofort. Rote Haare zwischen grünen Palmenblättern. Geniale Idee, Steph… Ich verschluckte mich fast am Lutscher in meinem Mund, als ich den Maler sah, so sehr erschrak ich.

Der Maler erschrak auch. Nicht, weil er mich sah, sondern weil er mich nicht erschrecken wollte. Ach herrjeh, wie könnte ich das wieder gut machen? Ich drehte den Lolli in meinem Mund und überlegte. Ralf erschien neben mir am Fenster und fragte mich, ob alles gut sei? Natürlich habe ich ihm nicht von meinem Vorhaben, von dem ich selbst noch nicht so recht wusste, wie ich es umsetzen würde, erzählt. Ich wollte ja nicht wieder auf die Couch, um von ihm wegen meines Helfersyndroms behandelt zu werden. Kinderkekse und Schnittlauchtee hin oder her.

In einem unentdeckten Moment, in dem Ralf sich gerade im Badezimmer befand, öffnete ich schnell die Balkontür, begrüßte den Maler, fragte ihn, ob alles okay sei und schloß die Türe rasch unsanft, als ich hörte, dass Ralf das Bad wieder verlassen hatte. Die Ohren gespitzt horchte ich, wo Ralf hinging. Schlafzimmer. Wäsche zusammenlegen. Also hatte ich Zeit. Ich riss die Balkontür erneut auf und fragte den Maler: „Käffchen?“ Er stöhnte, stand aus seinem Kniestand auf, hielt sich den Rücken und sagte: „Oh nein, lieber nicht, ich hab solch hohen Blutdruck, dass ich heute keinen Kaffee mehr trinken darf.“ „Oh je!“ antwortete ich. „Brauchen Sie vielleicht eine Blutdrucktablette? Ich hätte da einmal Candesartan mit 32 Milligramm und einmal die sanfte Variante mit nur 5 mg von…“ Weiter kam ich nicht, denn Ralf zog mich sanft am Arm vom Balkon weg. Müsste ich jetzt etwa wieder auf’s Sofa, um mein Helfersyndrom kurieren zu lassen?

„Du kannst doch nicht vom Balkon aus einen Apothekerhandel betreiben“, erklärte er mir die Tatsache, mich beim Gespräch mit dem Maler unterbrochen zu haben. „Ja, aber wenn es ihm nun mal schlecht geht?“

„Er wird schon für sich selber sorgen können. Er ist ja schließlich erwachsen.“ Mein neuer „Ja, aber“-Einwand verhallte – unerhört!

Ralf hatte ja Recht. Die Leute können für sich selbst sorgen. Vielleicht wollte ich aber auch einfach nur vorsorgen? Der Maler würde die nächsten Wochen direkt vor unseren großen Fensterfronten arbeiten und durch die Scheibe in unser Leben sehen. Er sollte seinen Kollegen (m/w) nicht erzählen, dass er mich gesehen hatte, wie ich Blödsinn machte. Er sollte ihnen berichten, wie lecker der Kaffee war, den er von mir bekommen hatte. Da er den nun nicht wollte, versuchte ich es mit anderen Angeboten.

„Schnittchen? Kuchen habe ich gerade keinen da und backen… Sagen wir es mal so: Sie wären froh, dass ich nicht selbst gebacken hätte. Hihi!“ Wieder erhob er sich aus seinem Kniestand, klopfte sich mit der Hand auf den Bauch und sagte: „Schauen Sie sich mal meinen Ranzen an. Kuchen ist für mich tabu.“

Mmmmh, was könnte ich denn noch anbieten? Meine Überlegungen wurden jäh unterbrochen, als mich eine unsichtbare Hand von hinten hinein ins Esszimmer zog. „Nein, ich will nicht wieder auf die Couch!“ rief ich lachend und so fanden Ralf und ich einen guten Kompromiss. Wir holten Zettel und Stifte, schrieben Botschaften darauf und hängten sie an die Innenscheibe unseres Fensters. Damit der Maler und sein Kollege diese auch gut sehen konnten, putzte ich noch einmal schnell die vom Gerüst und Regen verdreckten Scheiben mit Glasklar. Auf drei DIN A 4 Zetteln stand geschrieben: Ihr macht das super! Klingelt, wenn ihr Kaffee wollt! Blödes Regenwetter!

Die Tage gingen ins Land und wir gewöhnten uns ein wenig besser an das Gerüst direkt vor uns. Vielleicht sogar zu sehr? An einem Tag ging es mir gar nicht gut. Rückenschmerzen plagten mich und der Heuschnupfen tat sein Übriges. Meine Nase glich einem tropfenden Wasserhahn. Jeder Atemzug hörte sich an, als würde „Hui Buh, das Schlossgespenst“ verrückt mit seinen Ketten rasseln, Kopfschmerzen machten sich breit. Leidend zog ich vom Bett auf’s Sofa um und war zu matt, um mir Frühstück zu bereiten. Da tat ich etwas, was ich wirklich noch nie in meinem Leben getan hatte! Mit der Kuscheldecke um den Körper ging ich kraftlos in die Küche, nahm das übrig gebliebene Essen vom Vortag, kämpfte mich zurück zum Sofa und aß -ACHTUNG!- kalte Spaghetti aus dem Topf! Aus dem Topf! Dazu wurde ich tatsächlich nicht erzogen. Aus dem Topf oder der Pfanne zu essen war etwas, was ich in der Kindheit aus alten Terence Hill & Bud Spencer-Filmen kannte.

Während ich völlig verrotzt und hungrig die Spaghettis direkt aus dem Topf in mich hineinschlang, spürte ich aus den Augenwinkeln, dass ich dabei beobachtet wurde. Ich traute mich anfangs gar nicht, nachzusehen, ob das stimmte, so peinlich war mir mein Auftritt. Und dennoch konnte ich es nicht lassen. Ein Blick zur Fensterfront bestätigte mir, dass man mich ansah. Der Maler war nicht der, der die Tage zuvor immer bei uns und schon fast ein Duz-Freund war. Es war eine Aushilfe, die mich da fast entsetzt durchs Fenster ansah. Herrjemineh, wie konnte ich das wieder gut machen?

Zum Glück erinnerte ich mich an die Worte meines Therapeuten. Dieser kennt meine „Ich habe sehr oft Angst, was andere von mir denken“-Bedenken und sagte mir einst, dass mein Denken nicht heißt, dass alle anderen auch so denken. Das beruhigte mich. Wir werden uns vermutlich nie wieder sehen, der Maler und ich, dachte ich nun und schmunzelte plötzlich bei dem Gedanken, wie dieser Mann zukünftig vielleicht an unserem Haus vorbei fährt und zu seinem Partner/Partnerin sagt: „An diesem Haus habe ich mal gearbeitet. Da saß eine völlig Durchgeknallte auf dem Sofa und aß morgens um 8:00 Uhr Spaghetti aus einem Topf. Ich musste darüber so lachen, dass ich fast vom Gerüst gerutscht wäre.“ Sei’s drum 😉 Ich fand es ja auch nicht unbedingt schön, baumelnde Beine eines Malers im Sitzen durch mein Fenster zu sehen, wenn ich das Wohnzimmer betrat.

Ich konnte mein Helfersyndrom gar nicht ausleben, weil keiner etwas wollte. Nichts zu essen, nichts zu trinken. Aber reden, dass wollte man dann schon. Rückenschmerzen hatte er. Und zu hohen Blutdruck. Und Übergewicht. Und sehr oft musste er allein arbeiten. Fast hätte ich ihn für eine Gesprächsrunde nach drinnen auf unsere Couch gezogen, aber da kam mal wieder Ralf des Weges und fragte mich, was ich vorhätte? Also Tür wieder zu, mit den Fingern auf die Schilder verwiesen, nett gelächelt und gewunken.

Kennt jemand das Gefühl, wenn man sich ständig beobachtet fühlt? Nach dem Spaghettigate war dieses komische Gefühl bei mir noch ausgeprägter als ohnehin schon. Wenn der Maler oder sein Kollege plötzlich am Wohnzimmerfenster auftauchten, um die dortige Außenwand zu spachteln, fugen oder anzustreichen, sprang ich wie „’ne Stulle aus dem Toaster“ auf und verließ das Zimmer. Blöd, wenn einem zuvor der Fuß eingeschlafen ist und man erst einmal der Länge nach hinfällt. Mit Handy in der Hand, welches noch am Ladekabel hängt, wohlgemerkt. Ich fragte mich, wer hier wohl Hilfe bräuchte…

Ralf war fein raus. Der saß nämlich im Arbeitszimmer. Dort gab es kein Gerüst vor’m Fenster und folglich auch keine Arbeiter, die ihm über die Schulter schauten. Allerdings saß Ralf über der Steuererklärung, und das ist etwas, um das ich ihn nicht beneidete. Ich wollte unglaublich gerne ein Knopfbild für eine Freundin herstellen und traute mich nicht. Was würde der eine der beiden Maler seiner Freundin erzählen? „Da in diesem Haus, wo die Irre mit den Spaghettis wohnt, da habe ich sie mal erwischt, wie sie am hellichten Tag Knöpfe nach Farben sortierte. Die Frau ist Sozialarbeiterin. Total gaga!“ Den Bären, dass ich eine Atomphysikerin im Ruhestand sei, konnte ich ihm auch nicht aufbinden. Er hatte mich Tage zuvor gesehen, wie ich mich „in die Materie“ einließ. Leider hielt ich ein Buch über Dyskalkulie in den Händen und dieses auch noch falsch herum. Seufz.

Die Stimme meines Therapeuten erklang zum Glück wieder in meinem Kopf. Es solle mir weniger wichtig sein, was andere von mir halten oder denken. Zudem meldete sich meine Erwachsenenstimme, die mir sagte: „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass es die Arbeiter interessiert, was du hier so tust.“ Erleichtert kroch ich von dem Sitzsack, der direkt unter dem Fenster steht (wo mich die Maler nicht sehen konnten), richtete mich auf und tat, wozu mir war. Ohne schlechtes Gewissen oder Scham. Ich war mir endlich selbst mal eine Hilfe!

Am nächsten Tag wurde das noch zarte und empfindliche Pflänzchen namens „Anti-Helfersyndrom“ noch einmal herausgefordert. Es klingelte um 7:00 Uhr an unserer Wohnungstür. „Ralf, da ist ein Einbrecher!“ flüsterte ich ihm aufgeregt zu. „Ach, und der klingelt? Das ist ja mal ein netter Einbrecher“, brummte er und drehte sich im Bett wieder um. Ich gebe zu, ich war noch im Halbschlaf, als ich ihn davon in Kenntnis setzte. Eine Woche zuvor hatten wir unsere Versicherung schriftlich über das Gerüst infomieren müssen, wegen eventueller Schäden. Darüber hinaus schloss Ralf nun immer die Balkontür mit dem Schlüssel ab, denn ein jeder konnte nun nachts locker leicht die Stufen außen am Haus hoch spazieren, um in unsere Wohnung zu gelangen. In meinen Träumen hatte ich das alles wohl vermischt, als es erneut an der Tür schellte.

„Oh nein Ralf, dass ist der Maler, der hat unsere Botschaften an der Balkontür gelesen und will nun endlich wirklich mal Kaffee!“ flüsterte ich. „Quatsch, der hat doch einen zu hohen Blutdruck“, muffelte er. Aber wer sollte denn sonst bei uns klingeln? Weiterhin im Bett liegend dachte ich nach. Und dann fuhr der Blitz der Erkenntnis so rasch in meinen Kopf, dass ich rief: „So ein Mist Ralf, dass ist der Schornsteinfeger!“ Wir schlugen synchron beide unsere Decken vom Körper, sprangen aus dem Bett in Alltagskleidung und horchten -die Ohren an die Wohnungstür gepresst- ob er nun noch vor der Tür stand oder erst einmal die anderen Nachbarn besucht hatte. Knarrende Dielenbretter über uns bestätigten diese Theorie. Puh, gerade noch mal Glück gehabt. Ein jeder von uns machte sich im Bad frisch. Wir kochten Kaffee, stellten Milch, Zucker und eine Tasse heraus und öffneten die Tür, als wir seine stampfenden Schritte von oben her kommend hörten.

„Moin Moin, meine Lieblingskunden!“ lachte er uns an, als er mit einem dicken Grinsen unsere Wohnung betrat. Dieser Mann besucht uns seit Jahren und es ist stets eine Freude, ihn bei sich zu haben, denn er erzählt die komischsten Sachen. Außerdem ist er wie Ralf ein großer Musikliebhaber und hat viel Ahnung „von der Materie“ 😉 Ich war wie Ralf happy, ihn zu sehen und freute mich auf seine neuesten Erzählungen.

Am Ende des Tages war ich zufrieden. Es ist mir jetzt erst recht egal, was andere von mir denken, denn dieser Schornsteinfeger zum Beispiel mag es, bei uns zu sein. Der Rest soll mir egal sein. Und genau das schrieb ich in mein neues Notizheft.

Abschließend waren wir froh, als es hieß, das Gerüst sollte nun endlich wieder abgebaut werden. Wir wollten den neuen Anstrich bewundern, unseren Alltag wieder und keine Stangen mehr vor’m Fenster haben.

Eine Woche ist der Abbau des Gerüstes her. Den Perlweißmann aus Teil 1 haben wir nicht mehr gesehen. Sehr schade. Das Haus sieht sehr schön aus. Statt hellgelb nun fliederfarben. Auch nett. „Unser“ Gerüst wurde sofort nach dem Abbau am Haus neben uns neu aufgebaut. Der Hausmeister des Hauses neben uns fand nämlich, dass „sein“ Haus auch einen neuen Anstrich benötigt. Den Maler sehe ich nun weiterhin täglich. Weil er trotz Hitze oder auch Regen dort steht und ihm scheinbar keiner der Mieter motivierende Botschaften schreibt, trete ich nun einmal am Tag auf unseren Balkon, winke ihm zu und sage ihm, wie schön das alles aussieht. Und wer weiß, vielleicht sehen wir uns ja bald wieder? An unserer Wohnzimmerdecke befindet sich nämlich ein großer Wasserfleck vom Mieter über uns. Der Schwiegersohn unserer Vermieterin sagt, er schickt uns demnächst mal die Maler vorbei. 😉

Habt alle eine schöne Zeit und malt euch eure Welt bunt! ❤

2 Kommentare zu „Gut gerüstet Teil 2

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