Lesen lernen

Die Schulzeit in der 1. Klasse war einfach toll. In den Schreibheften gab es drei Linien und unsere Klassenlehrerin sagte immer, dass es sich dabei um den Keller, den Wohnbereich und das Dachgeschoss handelte. Außerdem hatte sie lustige Bezeichnungen für einzelne Buchstaben. Das U wäre wie ein Kochtopf, sagte sie. Und ja, sie hatte recht! Wie bei meiner Mutter, als diese mal zu viel Druck auf dem Schnellkochtopf hatte, schoß der Buchstabe U vom Keller bis zum Dachboden hinaus.

Die Schule machte mir Spaß.

Das erste Schuljahr war bereits in vollem Gange. Die erlernten Buchstaben aneinanderzureihen und damit lesen zu lernen fiel mir sehr leicht. Zu leicht, denn meine Familie stöhnte langsam über meine Leselust. Alles wurde von mir vorgelesen. Die Inhaltsangaben auf der Cornflakespackung ebenso, wie die Inschrift auf dem Besteck, mit dem wir zu Mittag aßen. „Da steht ‚Rostfrei‘ drauf, was bedeutet das?“ fragte ich, als ich die Gabel „las“. „Dass die Gabel nicht rostet, auch wenn sie nass wird“, antwortete mein Bruder. „Heißt das, wenn ich die Gabel jetzt aus dem Fenster nach draußen ins nasse Gras werfe und morgen wieder aufhebe, dass sie dann nicht…?“ „Das wirst du sein lassen! Iss mal lieber deinen Kartoffelbrei“, mahnte meine Mutter. „Der Bauer macht gerade Pause“, sagte ich.

Wie fast alle Kinder hatte ich das Essen (Kartoffelbrei, Sauerkraut und Bratwurst) in einen Acker verwandelt. Der Brei war das Feld, welches der Bauer namens Georg Gabel pflügen musste. Das Sauerkraut war Heu und die Wurst war die Bank, auf der der Bauer sich ausruhen konnte. Leider war die Wurst so schnell aufgegessen, dass der arme unsichtbare Landwirt keine Sitzgelegenheit mehr hatte.

Tja, das Leben ist hart. Das musste ich in der Schule auch schon lernen, denn es gab ja nicht nur die Welt der tollen Buchstaben zu erlernen. Als unsere Klassenlehrerin den Zahlenstrahl über der Tafel anbrachte, um uns spielerisch in die Welt der Mathematik zu entführen, freute ich mich anfänglich. Zwar hatte Graf Zahl aus der Sesamstrasse mir stets ein bisschen Angst eingejagt, aber mit den kleinen roten und blauen Plastikchips die ein(e) jede(r) von uns zum Rechnen bekam, würde es bestimmt gut werden.

Wurde es nicht. Mir blieb die Logik des Rechnens – wie dem Bauer die Sitzbank auf meinem Mittagsteller – verwehrt. Beim allseits beliebten Eckenrechnen kam ich nie über meine Anfangsecke hinaus und stand mir die Beine in den Bauch, während sich die anderen Kinder freuten, alle vier Ecken des Klassenzimmers nach jeder richtigen Antwort auf ihre Mathefragen durchlaufen zu können. Und dann wurden sogar noch ein Rechenkönig und eine Rechenkönigin gekürt. Zum Glück gab es noch andere Unterrichtsfächer.

Das Lesen allerdings blieb meine Lieblingsbeschäftigung. Ich liebte es, abends im Bett alle Sprechblasen auf meiner Donald Duck Comic Bettwäsche zu lesen und wurde auch ob der Wiederholungen nicht müde.

Außerdem freute ich mich, die Wochentage nun auswendig zu können. „Du kannst doch jetzt so gut lesen, warum hast du denn jetzt die Dienstagsunterhose am Donnerstag an?“ fragte mich meine Mutter. Tja, gute Frage… Kennt ihr noch die Unterwäsche, auf der jeweils ein Wochentag geschrieben stand? Die Montagshose war blau mit einem Luftballon, die Dienstagshose war gelb mit einer Sonne, der Mittwoch rot mit einem Marienkäfer und so weiter. Jetzt wo ich lesen konnte, sollte ich also auch Verantwortung übernehmen? Das war ein blöder Deal. Ich mochte die Sonne auf der Dienstagshose einfach zu gerne, als das ich sie nur am Dienstag anziehen wollte. Aber aufmerksame Mütter durchkreuzen solche Pläne nunmal.

Ich saß auf dem Rücksitz des VW Käfers meiner Mutter, als ich mir im Alter von sieben Jahren ohne jegliche Mathekompetenz Betriebswirtschaftslehre aneignete. Oder machte ich mir nur Sorgen um das Geschäft der Autowerkstatt, an der wir gerade vorbeigefahren waren? Warum hatte dieses Geschäft nur Montags geöffnet? Oder war das ein besonderes Angebot? Ich rätselte. Weil ich aber wußte, dass wir als Alleinerziehende/Einelternfamilie oft unter Geldmangel litten, empfand ich es als meine Pflicht, meine Mutter auf dieses Angebot, sofern es ein solches war, aufmerksam zu machen, also krähte ich vom Rücksitz aus: „Mama, du musst auf jeden Fall am Montag noch mal hier her fahren!“ Ich sah, wie sie mich durch den Innenspiegel ansah und ihre Augenbrauen zu zwei Fragezeichen formte. Ohne etwas zu sagen hatte sie mir eine Frage gestellt. „Da steht doch ganz groß ‚REIFEN – MONTAGE’“, rief ich und überlegte, wie das Geschäft überleben könnte, wenn es nur an Montagen diesen Dienst anbot….

Eine andere, für mich bis dahin unerklärliche Situation, klärte sich für mich mit dem Erwerb der Schriftsprache dann auch auf und war mir schließlich ein wenig peinlich. Zum Hintergrund sei gesagt, dass es mich als Kind nach einem wunderschönen Urlaub bei meinen Großeltern an der Ostsee immer sehr erfreute, den Herkules zu sehen. Der Herkules ist ein Wahrzeichen der Stadt Kassel, in der ich geboren bin. Er ist riesig, nackt und steht da oben in Europas größtem Bergpark auf einem Oktogon.

Weil das ziemlich anstrengend ist, lehnt er an einer ebenfalls großen Keule. Wenn wir mit dem Auto aus dem Norden kommend den Herkules sahen, war dies für mich stets ein Indiz dafür, nun wieder zu Hause angekommen zu sein.

Als ich des Lesens noch nicht mächtig war, fragte ich mich immer wieder, wo denn die Partnerin von ihm war. Oder hatte er keine? Nein, das gab es nicht, ein jeder musste von jemandem geliebt werden. Wo war also Frau Kules und warum stand sie ihrem Mann dem Herr Kules nicht zur Seite? Oder er ihr? Fragen über Fragen…

In der Schule lernten wir, wie die Bäche in unserem Wohnort heißen, was man alles mit Ton fertigen kann (Vasen & Aschenbecher), wie man sportlich über einen Bock springt und dass der liebe Gott einen auch lieb hat, wenn man dem Bauern die Sitzgelegenheit wegfuttert.

An den Nachmittagen traf ich mich mit meinen Schulkamerad*innen auf dem Spielplatz unserer Lernstätte. Nur dann hatten wir die Möglichkeit zu rutschen, zu schaukeln oder uns im Karussell umherdrehen zu lassen, denn an den Vormittagen war dieser Spielplatz meist Dennis Rüpel und seinen Freunden aus der 4. Klasse vorbehalten.

Die Schultüten, die wir zur Einschulung bekamen, hatten ihren Dienst erfüllt. Nun standen sie als Staubfängererinnerung noch auf unseren Schränken in den Kinderzimmern. Meine Freundinnen setzten sich ihre mit glänzendem Lackpapier eingeschlagenen rosanen, roten oder lilanen Tüten dann manchmal verkehrt herum auf den Kopf, legten einen Tüllschleier darüber und spielten „Fee“. Das war mir ein wenig fremd, denn als Fee oder Prinzessin fühlte ich mich als Kind nie wohl. Da passte es doch sehr, dass meine blaue Schultüte mit hunderten von gelben Enten versehen war und meiner Lieblingsfigur aus Räuber Hotzenplotz ähnelte: Petrosilius Zwackelmann, der Zauberer.

Das Ende des ersten Schuljahres nahte. Und ehrlich gesagt war ich froh drum. Denn wie die Erwachsenen, die jeden Tag zur Arbeit gingen und sich nach einer freien Zeit sehnten, ging es mir. Die Ferien waren die Belohnung für viel, viel geleistete Arbeit und mit einem großen Schwung landete der Schulranzen dementsprechend für die ein, zwei oder mehrere Wochen dauernden Ferien im Kleiderschrank. Mit dem nicht gegessenen Käsebrot…..

Herzliche Grüße an alle Eltern, Lehrer*innen, Erzieher*innen und allen, die mit der Schule zu tun haben.

Steph ❤

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