
„Hast du gewusst, dass „Die Sendung mit der Maus“ nun werktäglich um 11:30 Uhr ausgestrahlt wird?“ fragte Ralf und hielt mir unsere Tageszeitung vor die Nase. Sofort schaute ich zur Küchenuhr, die leider gerade 12 Uhr schlug. Wie schade. „Die Maus“ ist älter als ich und wird seit 1971 im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Schon im ersten Lockdown aufgrund der Pandemie im März zeigte der WDR diese Sendung werktags, um Kindern wissenswerte Lach- und Sachgeschichten im TV zu zeigen.
Fernsehen und Kinder, ein Thema für sich. Medienkompetenz sollen sie erwerben und dennoch nicht jeden Unsinn im Fernsehen anschauen. Von Letzterem gibt es eindeutig zu viel. Die Maus hingegen ist pädagogisch wertvoll und ich freute mich nun, dass sie von Montag bis Freitag im TV-Programm laufen sollte.
Wie war das eigentlich früher?
Bei uns wurde selten Fernsehen geschaut, wir bevorzugten das Spielen in der Natur. So trafen wir uns auf der Straße zum Gummitwist spielen, stromerten am Bach herum und aßen Sauerampfer, bauten eine Höhle am Waldhang mit Ausguck, fuhren mit den Fahrrädern umher und ließen uns gegenseitig auf dem Karussell des Spielplatzes drehen, bis uns schwindelig wurde. Fernsehen war was für Regentage oder abends und dann freuten wir uns sehr darauf. Ich weiß noch genau, dass an einem Abend der Spielfilm „Momo“ gezeigt werden solllte. Jeder von uns Kindern kannte Momo, dieses kleine Mädchen, das die Erwachsenen das Leben auf besondere Art und Weise lehrte. Ich hatte sowohl die Kassetten darüber mehrmals gehört als auch das Buch von Michael Ende gelesen. Den ganzen Tag über waren die Kinder aus der Nachbarschaft und ich total aufgeregt ob des Fernsehspektakels am Abend. An manchen Wochenendtagen wusste man bis zuletzt nicht, was abends im TV gezeigt werden würde, denn es gab die sogenannten Wunschfilme. Das Konzept war einfach: Es gab drei Filme zur Auswahl und man sollte mit dem Telefon anrufen, um für seinen Wunschfilm abzustimmen. Es gab keine langen Gesichter, wenn der eigene Wunschfilm nicht gezeigt wurde, denn es gab so schöne Rituale drumherum, die wir nicht missen wollten.
Flach atmen
Frisch gebadet im Nachthemd und Bettdecke auf dem Sofa liegen zu können und „Wetten dass?!“ sehen zu dürfen war ein Highlight. Vor allem aber, und das war auch mithin das Größte, durfte man länger aufbleiben. An Wochentagen war das nicht möglich. Der wunderbare Joachim Meyerhoff, dessen Bücher ich neulich las, hat es in einem Kapitel so klasse beschrieben, dass ich mich sofort darin wieder erkannte und laut loslachen musste. Damals im Kindesalter lagen er und seine Brüder abends gemeinsam vor dem Fernseher, die Eltern saßen auf dem Sofa. Joachim war das jüngste der drei Kinder. Keinen Fernsehfilm am Abend konnte er so wirklich genießen, denn er fürchtete sich insgeheim davor, dass einer seiner älteren Brüder irgendwann merkte, dass er immer noch „an Bord“ und noch nicht im Bett war. Man buhlte damals oft um Sendezeit bei seinen Eltern. „Nur noch eine Viertelstunde bitte“, hieß es dann oder „Warum darf der denn noch wachbleiben, der ist doch viel jünger als ich?!“ Joachim Meyerhoff beschreibt in seinem Buch die Situation,die sicherlich viele, die in den 70er/80er Jahren Kinder von Fernsehabenden kennen, so lustig und wahr. Als ich davon las, wie er liegend vor dem Flimmerkasten lag und versuchte, so flach wie möglich zu atmen, musste ich losprusten vor Lachen, denn so erging es mir auch oft. Da liegt man mit einem knallgelben Frotteeschlafanzug genau vor dem TV-Gerät und hofft durch flaches Atmen verhindern zu können, dass die eigene Mutter, die auf dem Sofa hinter einem sitzt, einen sieht. In meinem kindlichen Gemüt hätte ich auch Uhren abgehängt oder ihre versorgenden Batterien rausnehmen wollen, um meine Mutter davon abzuhalten, mich mitten in einer abendlichen Sendung frühzeitig ins Bett zu stecken. Es fällt ja auch gar nicht auf, wenn da eine kleine gelbe Hummel mit Pseudokrupphusten auf dem braunen Teppich vor dem Fernseher liegt und so dermaßen angestrengt flach atmet, dass sie fürchten muss, ein Hustenschwall würde gleich durch ihren Körper fahren.
Wie bereits geschrieben war das abendliche Fernsehen unter der Woche anders als zum Wochenende. Ich kann mich gut erinnern, wie ich an manchen Tagen auch vor dem Fernseher lag. Das ganze Wohnzimmer war mit Teppich ausgestattet und vor dem Fernseher lag zusätzlich ein großer Läufer. Ich kämmte oft die Teppichfransen mit meinem kleinen Barbiekamm, wenn ich die „Sesamstrasse“, „Spaß am Dienstag“ oder eben „Die Sendung mit der Maus“ sah. Wenn meine Freunde aus der Nachbarschaft an Regentagen zu Besuch waren, dann stellten wir uns auch gerne kleine Kindercampingstühle vor das Gerät. Wir fanden es klug, ganz dicht davor zu sitzen, denn einer musste ja immer mal umschalten, da es keine Fernbedienung gab. Solidarisch saßen wir alle in der ersten Reihe. Gerne hielten wir uns auch die Nasen an den Bildschirm, weil das so herrlich prickelte. Mutig fanden wir uns, weil wir noch immer keine eckigen Augen hatten, obwohl uns das bei zu vielem Konsum von Serien von den Eltern prophezeit wurde.
Die Sache mit dem Teppich
war unbewusst geschehen. Wie gesagt holten wir die kleinen Campingstühlchen, wenn wir uns in großer Kindergruppe vor dem TV-Gerät versammelten. War ich allerdings nur mit einer Freundin alleine, dann legten wir uns zu gerne auf den Läufer vor dem Fernseher und schauten der „Danger Mouse“ oder „Doktor Snuggles“ bei ihren Abenteuern zu. Meine Mutter schnitt indes in der Küche Apfelschiffchen oder schälte Apfelsinen, die sie auf einem kleinen Teller hübsch drapierte. Im Sommer gab es Melonenstückchen, Erdbeeren, Kirschen, im Winter Mandarinen oder Orangen. Den Teller schob sie uns dann ganz unauffällig unter’s Kinn in der Hoffnung, wir würden das leckere und gesunde Obst nebenbei wegschnabulieren. Doch genauso, wie sie meine Flachatmung vor dem Krimiabend entdeckte und ich frühzeitig zu Bett musste, so durchschaute ich ihren Obstplan, mit dem ich nicht so recht einverstanden war. Ich aß zwar gerne Obst, allerdings am liebsten Selbstgepflücktes. Kirschen vom Baum, Erdbeeren vom Feld und Rhabarber aus der Staude. An einem Tag kam mir daher eine, wie ich fand, grandiose Idee. Meine Freundin Sabine war zu Besuch. Draußen wechselten sich Regen und Windböen ab, wir lagen auf unserem Fernsehplatz und glotzten wie hypnotisiert in den Kasten vor uns. Es lief eine Folge „Regina Regenbogen und das Fest der Farben“. Meine Mutter fragte, ob sie uns kurz alleine lassen könne, denn sie wolle unten im Waschkeller die Wäsche aufhängen. „Kein Problem!“ riefen wir und steckten uns die von ihr bereiteten Apfelschnittchen in den Mund.
Ist die Katz‘ erst aus dem Haus…
Noch während meine Mutter die Treppenstufen zum Waschkeller hinabging, erhob ich mich und schlug einen anderen Weg ein. In die Küche ging es und dort direkt zum Schnuckeschrank. Schnuckezeug ist ein nordhessisches Wort für Süßigkeiten. „Was machst’n da?“ rief Sabine aus dem Wohnzimmer. „Iss du mal die Apfelschnittchen auf, ich hol uns was Tolles“, rief ich zurück und stand bereits auf dem Stuhl, um den Küchenschrank mit meinen Begehrlichkeiten besser erreichen zu können. Anders als in anderen Haushalten war bei uns der Schnuggeschrank nie abgeschlossen. „Wer sowas macht, erzieht sich kleine Fresser“, sagte meine Mutter. Dabei hatte sie mich im Alter von zweieinhalb Jahren mal erwischt, wie ich unter dem Küchentisch saß und eine Schachtel Mon Chéri in meinen Händen hielt. „Wer kann dazu schon nein sagen?“ säuselte ich nach zwei Pralinchen, die mir überhaupt nicht geschmeckt und die ich eigentlich nur wegen des tollen glänzenden Papieres ausgepackt hatte. Und wenn es dann schon ausgepackt ist, dann kann man es auch essen. Meine Mutter hatte die Mon Chéris beim Blutspenden geschenkt bekommen. Dort ging sie seit Jahren regelmäßig hin und nahm meinen Bruder und mich stets mit. Soziales Engagement zum Anschauen und Nachmachen. Nach jeder Blutspende gab es dort ein üppiges Buffett mit Gehacktesbrötchen, Käseschnittchen, Gurken aus dem Glas und kleinen Tomaten, die so klein waren, dass sie mit einem Happs in den Mund passten. Für eine Alleinerziehende, deren Ex-Mann keinen Unterhalt für die beiden gemeinsamen Kinder zahlte, war dieses Essen fulminant. Aber nicht mal, nachdem ich zwei der Pralinen mit Piemont-Kirschen gegessen hatte, schloss meine Mutter den Schnuggeschrank ab. Sie vertraute uns, es gab wirklich fast keine Verbote. „Wo bleibste denn?“ rief Sabine erneut aus dem Wohnzimmer. „Hab’s gleich, iss die Äpfel!“ antwortete ich. Ich barg eine Stange Schleckis, eine Packung Maoams und zwei Duplo-Schokoriegel aus dem Schrank, stopfte mir alles in meine Latzhose, räumte den Stuhl zurück an den Küchentisch und hastete zurück ins Wohnzimmer. Dort flimmerte gerade Zini, dieser neonfarbene wuselige Wurm im Zickzack über die Mattscheibe. „Sind die Äpfel alle?“ fragte ich streng. Sabine nickte mit vollem Mund und hielt mir den leeren Teller vor die Nase. „Sehr gut, dann können wir jetzt richtig reinhauen“, sagte ich und holte die Naschis aus meiner Tasche. „Barf bu bas?“ fragte Sabine – noch immer den Mund mit Äpfeln voll. „Na klar darf ich das, meine Mama liebt mich!“ antwortete ich selbstbewusst und packte bereits den ersten Schlecki aus. „Sind ja auch Früchte drin“, ergänzte ich, um mich selbst zu beruhigen, denn so ganz sicher darüber, ob meine Mutter das so toll fand, war ich mir auch nicht. Schleckis, eigentlich Fruchtschleckis, waren sehr flache Lutscher von Storck, die es in sehr vielen Geschmacksrichtungen gab. Cola, Zitrone, Himbeer, Kirsche usw. Sie hingen immer an einem langen Band an der Supermarktkasse, in jedem Band waren zehn Lutscher enthalten.
Wohin mit dem Papier?
Wir hatten bereits zwei Schleckis, acht Maoams und beide Duplos intus, als ich hörte, wie meine Mutter nach dem Wäsche aufhängen im Keller wieder unsere Wohnung betrat. „Nach dem Fressen kommt die Moral“, sagte Bertholt Brecht einmal. Mir kam allerdings eher der Gedanke: „Wohin mit dem Papier der eben gegessenen Süßigkeiten?“ Wie bereits geschrieben, hatte meine Mutter nichts dagegen, dass wir Süßes aßen, aber die Menge macht’s und die hatten wir, glaube ich, eindeutig überschritten.
Meine Mutter betrat den Flur. In meinem Gehirn ratterte es. Das Papier müsste weg und zwar schnell. Da kam mir rasch eine Idee, für die ich mich lange Zeit noch selbst loben sollte. Mit beiden Armen schob ich all die knisternden Verpackungen zu mir und stopfte sie unter den Läufer, auf dem wir lagen. Gerade noch rechtzeitig, denn meine Mutter betrat gerade das Wohnzimmer. „Oh, ihr habt ja alles Obst aufgegessen, soll ich euch noch einen Apfel schneiden?“ fragte sie und nahm den leeren Teller von Sabine entgegen. „Bloß nicht!“ wollte ich rufen. „Nein danke, wir sind satt“, antwortete ich stattdessen. Und das stimmte schließlich auch. Meine Idee, die Verpackungen von Süßigkeiten unter dem Läufer zu schieben fand ich so genial, dass ich es mir auch nach Sabines Fernsehbesuch beibehielt. Im abendlichen Gebet dankte ich dem lieben Gott für meine tolle Idee und war mir sicher, dass er so etwas Ausgefuchstes auch bewundernswert fand.
Alles hat eine Ende
Ca. zwei Wochen nach meiner grandiosen Idee hatte unser Läufer vor dem Fernseher eine kleine Beule. Zu viel Verpackungsmüll hatte ich dort schon unter den Teppich gekehrt. Inzwischen verzichtete ich auf das von mir so sehr geliebte samstägliche Abendritual, mit Bettzeug auf dem Sofa zu liegen. Stattdessen lag ich, die kleine gelbe Hummel mit dem Frotteeschlafanzug, auf dem Läufer vor dem Fernseher, um die dortige Beule flachzudrücken. Meine Mama und mein Bruder saßen hinter mir auf dem Sofa, knabberten Salzstangen und wußten nichts von meiner Not, den knisternden Müllberg unter mir flach halten zu müssen. Zum Glück hatte ich Erfolg, die Delle war fast kaum noch zu entdecken. Tage später kam der blöde Staubsaugervertreter, der meiner Mutter einen nach eigenen Angaben ganz tollen, mit Teppichschaum,reinigenden Rüttelschüttelstaubsauger für 14 Tage zur Probe ausleihen wollte. Ich war gerade in der Schule und lernte das, was man als Grundschülerin der 1. Klasse so gelehrt bekommt, als meine Mutter sich im heimischen Wohnzimmer darüber wunderte, dass der Staubsauger beim Rütteln und Schütteln und Saugen so merkwürdig knisterte. Komischerweise nur, wenn sie damit über den Läufer vor dem Fernseher entlangfuhr. Und so kam es, dass meine monatelang aufgebaute, illegale Mülldeponie unter dem Teppich aufflog. Ärger hatte ich keinen zu befürchten, meine Mutter fand das eher zum Schmunzeln. Und irgendwie war ich auch erleichtert, dass nun alles raus und ich wieder auf dem Sofa Platz nehmen konnte. Kuschelig im Schlafanzug und Bettdecke. Ach, war das schön.
Die vergangene Woche habe ich keine Folge der Sendung mit der Maus verpasst. Der Ralf und ich schauen sie als Ritual sowieso jeden Sonntag. Dazu frühstücken wir ganz in Ruhe, staunen über Experimente, lachen über die Abenteuer von Shaun dem Schaf und freuen uns über die selbst auferlegte Seelenhygiene an einem Sonntagvormittag. Weil ich weiß, dass viele meiner Leser:innen meinen Blog gerne an einem Sonntag lesen, will ich es nicht versäumen, euch einen schönen Sonntag zu wünschen. Bleibt alle gesund oder werdet es.
Herzlichst, Eure Steph ❤
Wieder eine herrliche Geschichte, die mich total an meine Kindheit erinnert. Wetten dass war auch bei und ein absolutes Highlight. Freitagabends war bei uns Badetag ( wohlgemerkt 1x in der Woche ) und mein Bruder und ich wurden in die Wanne gesetzt. Danach saßen wir im Bademantel vor dem Fernseher, da gab es Schnittchen, als Nachtisch Wackelpudding und wir durften Dick und Doof oder Western von Gestern sehen. Dies lief nämlich damals im Vorabendprogramm. Ansonsten gab es auch wenig fernsehen. Draußen spielen war angesagt. Vom Hütten bauen bis tote Tiere beerdigen, Rollschuh laufen und Fahrrad fahren.
Ich schätze ja, dass Du jünger bist als ich und trotzdem ähneln sich unsere Erinnerungen.
Ich hatte eine Schnuckeldose, die leider fast immer leer war.
Liebe Grüße und noch einen schönen Sonntag
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Was für schöne Erinnerungen liebe Annette. Ich danke dir dafür. 😘
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