
Der arme Ralf. Da ist er mit einer Halbhessin verheiratet, die, wie sollte es anders sein, natürlich einem Karnevalsverein beigewohnt hat. „Ich kann mit Karneval nichts anfangen“, sagte er mir mal. Da bekam ich fast Schnappatmung denn ich konnte sehr wohl etwas mit Karneval anfangen, schließlich war ich jahrelang Mitglied in einem Karnevalsverein…
Der Hut wackelt
Meine gesamte Familie war im Karnevalsverein unseres Dorfes eingetragen. Meine Mutter sang im Chor der Fuldalerchen, mein Bruder regelte als Techniker den Ton und der Mann, mit dem meine Mutter zwei wunderbare Kinder hat, saß im Männer Elferrat. Ich war vier, als ich dazustieß und in der Kindergruppe tanzte. Eigentlich wollte ich in die Prinzengarde, denn dort trugen die Mädchen Dreispitz mit Federn, goldenen Ketten und weiße Cowboystiefel. Es klackerte so herrlich kraftvoll, wenn sie mit diesen Stiefeln auftraten. „Ich will die weißen Cowboystiefel!“, jammerte ich herum. „Du stolperst doch sogar noch in deinen Gummistiefeln“, sagte mein Bruder. „Wenn du älter bist, kannst du in die Prinzengarde“, beruhigte mich unsere Mutter. Nun also erst mal Kindergarde. Jedes Jahr gab es dafür ein neues Motto und neue Kostüme. In dem Jahr, in dem ich anfing, tanzten wir zu Geier Sturzflugs „Bruttosozialprodukt“. Wir Kinder waren als Fahrerin der Müllabfuhr, Krankenschwester und Briefträgerin verkleidet. Mir wurde die Rolle der Schornsteinfegerin zugewiesen. Der Zylinder, den ich auf dem Kopf tragen sollte, rutschte mir immer wieder über die Augen, so groß war er. Daher klebte meine Mutter mir selbstklebendes Fensterdichtungsklebeband in den Hut hinein. Jeden Mittwoch stand ich pünktlich vor der Gaststätte und wartete mit anderen Kindern auf unsere Tanzlehrerin. Diese rauschte stets in letzter Minute mit ihrem Mercedes an und kachelte dabei rummsig über die hohe Bordsteinkante. Dann klatschte sie in die Hände und rief: „Los, los, Mädels, wir haben keine Zeit!“ Im großen Saal der Gaststätte roch es stets nach kaltem Rauch. Wir musste erst die Rollläden hochziehen, um etwas Licht in den Saal zu bekommen. Dann zogen wir uns um und betraten die Bühne zu Übungszwecken. Wie alle Kinder, die monatelang etwas einüben, freute ich mich sehr auf unseren allerersten Auftritt vor dem Publikum. Mehr als die Hälfte des Dorfes würde anwesend sein. An einem Samstagabend war es dann endlich soweit. Die Musik ging los, wir tanzten und die Zuschauer klatschten rhythmisch mit. Wir waren gerade beim Refrain angekommen, da rutschte ich auf der gebohnerten Bühne aus, fiel über eine Brüstung und blieb am Boden liegen. Die Musik lief weiter, die Kinder tanzten und der Zeremonienmeister hob mich auf. Ich war so geschockt, dass ich nicht einmal weinte, obwohl ich Schmerzen hatte. Schnell trug er mich zu meiner Mutter, die im Publikum mit unseren Nachbarn an einer langen Tafel saß und mich mit den Worten „Mein armes Mäusekind“ entgegennahm. Ich bekam eine Bratwurst, eine Fanta mit Strohhalm und ganz viele Kopfstreichler von vielen Menschen, denen ich leid tat. „Du bist ja ganz heiß im Gesicht“, sagte Herr Müller. Er sollte recht behalten, ich hatte ganz frisch die Röteln bekommen. Daher war die erste Karnevalssitzung für mich schon vorbei, bevor sie richtig begonnen hatte.
Im Tulpenland
In meinem zweiten Jahr war das Motto Hollandmädchen. Dieses Mal trugen wir in der Kindertanzgruppe alle die gleichen Kostüme: weiße Kleidchen bis zu den Knien, blaue Schürzen darüber, Blusen mit Puffärmeln, eine Haube auf dem Kopf und Holzschuhe, sogenannte Klompen, an den Füßen. Meine Mutter fotografierte mich vor unserem Tulpenbeet von allen Seiten und schickte Abzüge davon an meine Großeltern, Tanten und Onkel. „Hollandmädchen hübsch und fein, laden dich zum Tanzen ein“ lautete eine Textzeile des Liedes, zu dem wir tanzen sollten. Doch uns allen taten die Füße in den meist viel zu großen Holzschuhen so wahnsinnig weh, dass wir uns kaum bewegen wollten. „Stopft Watte rein“, bestimmte unsere Tanzlehrerin, aber es wurde nur wenig besser. „Du siehst ja soooo süß aus“, sagte unsere Nachbarin zu mir, als sie mich in Vorbereitung für den Straßenumzug vor unserer Tür antraf. „Mir tun die Füße weh“, sagte ich zu ihr. Also wurde nochmal Watte nachgestopft, das Kleid gerichtet und los ging es zum Start des Umzugs. Als wären schmerzende Füße nicht schon genug, bekam ich nun auch noch die wilde Jana an die Seite gestellt. Alle Kinder sollten zu zweit einen halbrunden Weizenkranz mit Schleifchen durch die Straßen tragen und ausgerechnet ich musste das mit Jana tun. Jana war wie eine wilde Katze. Sie biss, spukte einen an oder zog einem an den Haaren. Ich fand sie unberechenbar, weil ich nie wusste, wann ihr die Sicherungen durchbrannten. Dann ging der Umzug los. Wir schritten mit unseren klobigen Holzschuhen die Straßen hoch und wieder herunter. Die eine Hand hielt den Weizenkranz fest, mit der anderen winkten wir den Zuschauer:innen zu. Bei zwölf Hollandmädchen waren alle Kameras nur auf mich und Jana gerichtet. Wir wurden fotografiert wie Promis, und das hatte einzig den Grund, dass alle lustig fanden, wie Jana nach nur fünf Minuten Weg aussah. Die Zipfel der Haube, die im Normalfall links und rechts über den Ohren absteht, standen bei Jana vorne und hinten ab. Eine lange Spur Rotze lief ihr aus der Nase direkt über das Kleid und die blaue Schürze. Das Gummiband, welches unseren Weizenkranz in Form halten sollte, war gerissen, sodass er wie ein Fragezeichen aus Gummi aussah. Das Allerbeste war allerdings, dass sie einfach ihre Holzschuhe ausgezogen und bei Meiers in die Gartenhecke geschmissen hatte. Jana sorgte für mehr Lacher, als jeder Büttenredner bei einer zehnminütigen Rede je bekommen hätte.
Lollipop
Im nächsten Jahr staunten wir, als wir unsere neuen Kostüme sahen. Übergroße, quietschbunte Lollipops waren in knisternde Klarsichtfolie verpackt und an einem langen Stiel befestigt worden. Zu dem Lied „Lollipop“ der Chordettes sollten wir eine Choreografie tanzen. Monatelang übten wir an dem Stück und nie durften wir unsere großen Lollipopkostüme dabei anhaben, denn sie waren empfindlich. Dann kam der Tag der Generalprobe, einen Tag vor der Aufführung. Einzeln trug unsere Tanzlehrerin die bunten Kostüme aus ihrem Auto heraus in unsere Umkleidekabine und hängte sie dort an die Schränke. Wir waren aufgeregt wie wilde Hummeln und hüpften wie Flummis hin und her, um unsere gesteigerte Freude zu kompensieren. Doch die Ernüchterung folgte auf dem Fuß. Die Stiele der Lutscher wurden uns hinten in die Rückenansicht unserer Kleider hineingesteckt und mit einem Gürtel befestigt. Die Riesenlollis erschienen so über unseren Köpfen. Ich fühlte mich wie eine Marionette, mit dem Stab im Rücken waren die eingeübten Tanzeinlagen nur stocksteif machbar. Die Folie über meinem Kopf knisterte und raschelte laut. „Sagt dem Tonmeister, er muss unsere Musik lauter stellen“, rief unsere Tanzlehrerin und schickte ihre beiden Töchter zu meinem Bruder. Kurzum: Die Kostüme waren der Knaller, aber wir waren alle sehr froh, als wir die Stöcke aus unseren Kleidern und die knisternden Lollis über unserem Kopf endlich wieder abnehmen konnten. Nicht immer ist das, was am Schönsten aussieht, auch zum Tanzen tauglich.
Ihre Lieblichkeit Stephanie die II.
Ich war acht oder neun Jahre alt, als ich zur Karnevalsprinzessin gekürt wurde. Weil es schon eine Stefanie gab, wurde ich zu Stephanie der Zweiten. Lustigerweise war die erste Stefanie die Jugendliebe meines Bruders gewesen, nur wegen ihr hatte ich meinen Namen bekommen. Der Mann, mit dem meine Mutter zwei wunderbare Kinder hat, war im Jahr zuvor bei uns ausgezogen. Die Leute im Dorf dachten, meine Mutter würde es nicht schaffen, mich als Prinzessin auszustaffieren. Tatsächlich ließ sie mein grünes Seidenkleid von einer Schneiderin nähen. Mit Pailletten auf dem Kleid, einer Handtasche und Krönchen wohnte ich der ersten Karnevalssitzung bei, als meine Tanzgruppe die Bühne betrat. Ich hielt die Luft an, als ich sie sah, denn sie hatten so wunderschöne Kostüme an. Sie alle waren chinesische Mädchen mit langen schwarzen, geflochtenen Zöpfen, einem Hut und wunderschönen Trachten. Immer hatte ich so schöne schwarze Haare haben wollen. Oft hatte ich mir daheim meine Schlafanzughose über den Kopf gezogen, um so zu tun, als hätte ich Haare bis zur Hüfte. Die geschminkten Mandelaugen meiner Tanzfreundinnen begeisterten mich ebenfalls sehr. Warum nur war ich ausgerechnet in diesem Jahr Prinzessin geworden, hätte das nicht bei dem doofen Lollipop-Tanz geschehen können? Ich will nicht undankbar klingen, es war schon toll, eine Saison lang Prinzessin zu sein. Allerdings musste man dafür lange sitzen, durfte nur zugucken, wenn andere tanzten und musste immer lächeln und winken. Empört war ich darüber, dass die Straße, in der mein Prinz wohnte, umgehend zur Prinzenstraße ernannt wurde, meine aber nicht zur Prinzessinnenstraße wurde. Eine Ungerechtigkeit ohne Gleichen. Er konnte sich aber auch nur einen Tag darüber freuen, schon am nächsten Tag wurde das Schild geklaut. Im nächsten Jahr war ich froh, meinen Umhang mit den silbernen Eichenblättern an die nächste Prinzessin abgeben zu können.
Ich weiß nun schon sehr lange, dass ich dem Ralf den Karneval nicht schmackhaft machen kann und glaube, dass es tatsächlich etwas ist, in das man hineingeboren wird. Bei uns im Dorf war fast jeder Bewohner Mitglied im Karnevalsverein, wenn der Rosenmontag kam, hatten wir nur bis 11 Uhr Schule, da die Straßen dann frei sein mussten für Straßenumzüge. Als Prinzessin wurde ich im offenen Cabrio durchs Dorf gefahren. Weil ich so klein war, saß ich auf einem pieksenden Strohballen. Die Piekerei in meinen Po ließ ich mir gekonnt nicht anmerken. Ich winkte, lächelte und haute alle drei Minuten meinem Prinzen auf die Finger, weil dieser mal wieder in der Nase nach Öl bohrte. Auch wenn der Ralf kein Karnevalsfreund ist, so hat er mich immer dabei unterstützt, für den Karneval im Kindergarten ein tolles Kostüm zu finden oder gar selbst herzustellen. Außerdem leben wir hier im Norden ja ganz anders als in Hessen. Wie las ich neulich in einem Facebook-Post? „Das Beste am Norden ist die Stille während der Faschingszeit.“
Wie ist das bei euch, feiert ihr Karneval oder seid ihr da wie der Ralf?
Herzlichst, eure Steph ❤
Liebe Steph, es gibt Menschen, die Karneval lieben. Ich gehöre nicht dazu, im Gegenteil. Schon als Kind konnte ich dem nichts abgewinnen. Karneval, Kirmes und Zirkus sind für mich schreckliche Dinge. Trotzdem viel Spaß an den ‚tollen Tagen‘. LG Gisela 🎈🎭
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Vielen Dank liebe Gisela 🙂
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Moin liebe Steph. Ich kann mir vorstellen, dass der Karneval für Kinder eine tolle Erfahrung ist. Später darf man dann einmal im Jahr wieder Kind sein :-). Das ist schön.
Ich als Berlinerin kann damit aber auch wenig anfangen. Ich kann mich aber daran erinnern, dass wir im Kindergarten auch Fasching gefeiert haben. Liebe Grüße und einen schönen Sonntag für euch.
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Danke liebe Monika 🙂
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Also ich beneidete dich um deinen Logenplatz, während die chinesische Perücke Hitzestau verursachte, der Kajal in den Augen brannte und wir regelmässig blind tanzten mussten, wenn das rabenschwarze Haar nach dem ‚Mitzu‘-Kopfnicker vor die Augen rutschte. Lediglich um den picksigeb Strohballen beneide ich dich nicht. Danke für diese Erinnerungsperlen (das wilde Beiss-Mädchen ist mir nach 40 Jahren erstmals wieder eingefallen). :-*
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Liebste Mareike, ich freue mich unglaublich über deine Antwort zu meiner Geschichte. Und wie immer hast du etwas tröstliches im Gepäck, wenn ich mich beschwere du wunderbare Frau. Ralf, der sich immer für die Fotos meiner Bloggeschichten verantwortlich fühlt, hat im Vorfeld ein altes Foto unserer Kindertanzgarde rausgekramt. Aus Datenschutzrechtlichen Gründen habe ich es nicht veröffentlicht, aber es ist schön zu sehen wie du und ich dort zu sehen sind. Wir haben Stubenmädchenkostüme an. Kann sich heute auch keiner mehr vorstellen. Fühl dich ganz herzlich gegrüßt. Steph 🙂
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