
Ich habe neulich beim Aufräumen alte Kinderzeichnungen von mir gefunden. Großen Dank an meine Mutter, die diese Zeichungen für mich aufgehoben hat.
Zu fast jedem Bild fiel mir etwas ein. Ich erinnerte mich, warum ich dieses und jenes gemalt hatte. Bei einem Bild musste ich besonders lachen. Ich habe damals eine Kirche gemalt. Mit einem Kreuz oben drauf und an dem Kreuz hing Jesus. Neben der Kirche war eine Grabstelle. Auf der waren viele Blumen.
An dem Tag, als ich dieses Bild malte, war meine Erzieherin Frau Ö. krank und wir wurden auf die anderen Kindergartengruppen aufgeteilt. Eine Besonderheit bemerkte ich sogleich: die Kinder in der Nachbargruppe, in der ich nun war, durften mit allen Farben malen! Bei uns war es nämlich so, dass Frau Ö. alle schwarzen Stifte aus der Wachsmalstifte-Box entfernte. Ich stürzte mich auf die Farbe Schwarz, mit der ich sonst nie malen durfte, und malte mein schönes Bild mit der Kirche und Jesus und dem Kreuz und dem Grab = schwarz. Um kleine farbliche Punkte zu setzen, malte ich die Blumen auf dem Grab dann doch mal lieber in rot, lila, gelb und orange. Als Frau Ö. nach ihrer Krankheit mein Bild abheften wollte, wurde sie ganz grün im Gesicht und bestellte meine Mutter zu einem Elterngespräch herbei. Warum malt das Kind alles schwarz? Und dazu noch eine Kirche und den gekreuzigten Jesus (mit Bauchnabel, darauf lege ich wert). Ich weiß bis heute nicht, warum sie so reagierte, denn für mich war das alles ganz normal.
Als Kind wurde ich christlich erzogen. Mit allem drum und dran. Taufe im Alter von drei Monaten, den Zweitnamen der Patentante tragend, Jungschar, Konfirmation und im Alltag immer die Zehn Gebote leben.
Als mein Uropa starb, war ich vier Jahre alt, und ob meines jungen Alters empfand es meine Mutter als Pflicht, mich zur Beerdigung mitzunehmen. Sie erzählte mir über den Tod, und so erfuhr ich, dass die Seele eines Menschen in den Himmel zu Gott aufsteigt und dort in aller Herrlichkeit lebt. Schon das habe ich nicht verstanden, denn mein Uropa konnte doch auch gerne hier unten auf Erden in aller Herrlichkeit leben? Vor allem könnte er mir dann weiterhin die kleinen Teufelchen aus Weingummi in den Mund schieben und mir übers Gesicht tätscheln, wie er es zu Lebzeiten immer tat.
Meine Mutter versuchte mir zu erklären, dass ich nicht egoistisch sein darf und Gottes Willen, einen Menschen zu sich zu holen, nicht in Frage stellen sollte. Als ich ihr sagte, dass es sicher auch Gottes Wille sei, dass ich weiterhin Weingummi bekam, weil ich dann ja glücklich sei und Gott müsste das ja nun auch sein, weil er bestimmt will, dass alle seine Kinder glücklich sind, musste ich kurzerhand Mittagsschlaf halten. Das war eine Maßnahme, der meiner Mutter immer dann nachkam, wenn ihr zu meinem Verhalten nichts mehr einfiel.
Ich war also das erste Mal mit vier Jahren im Gottesdienst der „Großen“. Zuvor hatte ich immer begeistert im Kindergottesdienst mitgewirkt, aber das war etwas anderes, wie ich fand. Ich glaube, dass meine Mutter stolz war, mich mitzunehmen. Die Verwandtschaft meines Vaters fand es nämlich eindeutig zu früh, ein kleines Kind mit in den Gottesdienst zu nehmen, wogegen meine Mutter befand, dass es nie zu früh sei, ein Kind einer Beerdigung beiwohnen zu lassen. Schliesslich bekamen Christen in vorherigen Jahrhunderten zur Konfirmation ein Totenkleid geschenkt. Das mag vielleicht daran liegen, dass die Menschen früher nicht so alt wurden, aber viel mehr, dass sie sich immer bewusst sein sollten, dass der Tod selbstverständlich zum Leben gehört.
Die Beerdigung fing an. Irgendwer pupste in der ersten Reihe und ich fand das total lustig. Den Gottesdienst selbst fand ich langweilig. Da war das, was wir im Kindergottesdienst jeden Sonntag veranstalteten, doch um einiges unterhaltsamer. Vor allem, weil wir uns da verkleiden durften. Hier saß ich nun und ließ meine Füße im Sekundentakt an die Bank vor mir baumeln, was jedes mal einen kleinen Rumms verursachte. Meine Mutter legte ihre Hand auf meine Beine, was bedeutete, dass ich damit aufhören sollte. Und wenn nicht? Müsste ich dann zum Mittagsschlaf? Bei dieser ernsten Predigt, die da stattfand, sehnte ich ihn fast herbei. „Hör jetzt auf!“ flüsterte meine Mutter und legte mir etwas Rundes, kühles in die Hand.
Das war ein Geldstück! So ganz wusste ich nichts damit anzufangen, warum ich nun Geld bekam. Als Belohnung? Ich überlegte kurz, was ich mir davon wohl kaufen würde… Auf dem Geldstück war eine Eins abgebildet und es war nicht kupferfarben, sondern silbern. Dass das Silberne mehr wert war als das Kupferne wusste ich spätestens seit einem Vorfall mit meinem älteren Bruder…
…es waren die 80er und mein Bruder beherbergte viele Dinge in seinem Zimmer, die ich auch haben wollte. Matchbox-Autos, Geld in einer Spardose, Turnschuhe ohne Klettverschluss, Lackstifte, ein Bett ohne Molton-Unterlage usw. Als er mal nicht da war, ergriff ich meine große Chance und betrat sein Zimmer. Es kam mir vor wie eine Goldkammer. Ich gebe zu, die Poster an den Wänden gruselten mich sehr (Iron Maiden, The Cure), aber nun hatte ich endlich die Möglichkeit, mal in diesem Zimmer zu sein und so schaute ich mich genauer um. Auf dem unordentlichen Schreibtisch entdeckte ich plötzlich das Objekt meiner Begierde: Lackstifte! Durch mehrmalige Beobachtung wusste ich genau, wie man diese benutzt: Ein paar Mal schütteln, bis es klackert, einmal mit der Stifte auf Papier drücken und schon kam Farbe aus dem Stift, die so anders war als die Wachsmalstifte, die ich im Kindergarten benutzen durfte. Jippieh! Es waren vier Stifte: ein schwarzer, ein silberner, ein weißer und ein rosaner. Obwohl Rosa nicht unbedingt meine Lieblingsfarbe war (ich mochte Gelb, denn ich merkte im Kindergarten, dass andere Gelb nicht mochten – kurzerhand erklärte ich es zu meiner Lieblingsfarbe, damit das Gelb sich nicht so verlassen fühlte. Es hatte zur Folge, dass meine Mutter zu einem Elterngespräch in den Kiga gerufen wurde, weil ich alles nur noch Gelb malte.) Nun also Rosa.
Ich war so fasziniert von diesem Lack-Stift, dass ich es irgendwann zu langweilig fand, nur weißes Papier damit zu „belacken“. Mein Blick ging im Zimmer umher und fand: Matchbox-Autos! Erst malte ich nur die Autoscheiben an, aber weil das doof aussah, machte ich mir die Mühe, die Autos rundherum damit zu verschönern. Die Reifen zu bemalen war dann doch keine so gute Idee, weil sich die Autos plötzlich nicht mehr schieben ließen. Als mir das bewusst wurde, hatte ich schon etwas Neues gefunden, was ich lackieren könnte und so kam es, dass ich ein paar der Ein-, Zwei- und Fünf-Markstücke meines Bruders ebenfalls in einem schicken Rosa erstrahlen ließ. So sah das Geld viel, viel schöner aus. Statt Applaus gab es ein Donnerwetter, welches sich gewaschen hatte. Mittagsschlaf bei runtergelassenem Rollo inklusive. Nun wusste ich, dass Geld einen Wert hat, weil man sich damit zum Beispiel Lackstifte kaufen konnte.
Zurück zum Gottesdienst. Ich hörte mit dem Beine baumeln auf und betrachtete das Geldstück in meiner Hand. Dafür würde ich im Tante Emma-Laden bei Frau Backing bestimmt eine Packung Maoam, ein Hanuta und Weingummiteufelchen bekommen!
Weingummiteufelchen! Auf Uropas Beerdingung! Der Kreis schloss sich! Gott hatte also doch an mich gedacht!
Zufrieden lehnte ich mich zurück und malte mir aus, wie ich vor Frau Backing stehen und mir viele Leckereien auswählen würde. Als ich überlegte, ob ich mein Geld vielleicht doch lieber in eigene Lackstifte statt Süßigkeiten investieren, oder aber die meines Bruders weiterhin heimlich mitbenutzen sollte, stupste mich meine Mutter an und riss mich aus meinen wirtschaftlichen Gedanken.
Ein Mann stand vor uns und hielt an einer langen Stange einen Strumpf oder so was ähnliches hin. Der Strumpf hing an der Stange und war unten schon ganz prall. Ich beobachtete, was die Erwachsenen taten und konnte es nicht fassen:
Sie warfen Geld in den Strumpf! Was sollte das denn? Das Anstupsen meiner Mutter galt mir insofern, es den Erwachsenen gleichzutun. Wie jetzt? Ich sollte mein Geld da rein werfen? Meine Wünsche nach Hanuta, Weingummi und Co begraben? Hier auf einer Beerdigung? In der Kirche? Über folgenden Satz, den ich dann los ließ, lacht meine Mutter heute noch. Entsetzt darüber, in den nächsten Tagen keinen Hanuta-Geschmack auf meiner Zunge zu spüren und in meiner künstlerischen Ader vom lieben Gott eingeschränkt zu werden, rief ich laut – und zwar so laut, dass es jede(r) hören konnte: „Muss man hier etwa bezahlen?“ Es gab Gekicher unter den Leuten und mein Geld war weg. Adieu Weingummiteufelchen, Adieu Uropa!
Später am offenen Grab sangen sie Leute, weinten und ich glaube, dass da schon wieder jemand gepupst hatte. Ich weinte auch, allerdings nicht so sehr um Uropa… Ich weinte, weil mein Geld futsch war. Meine Verzweifelung darüber hinaus schreien durfte ich nicht. Von meiner Mutter wusste ich schließlich, dass man auf dem Friedhof nur flüstern sollte. Ich kniff meine Lippen zu einem Strich zusammen und schloss sie mit einem imaginären Schlüssel ab – ganz so, wie meine Erzieherin Frau Ö. es mir beigebracht hatte, wenn ich ihrer Meinung nach wieder zu viel redete. Dann wischte ich mir mit dem Jackenärmel die Tränen aus dem Gesicht und folgte aufmerksam dem weiteren Geschehen.
Der Sarg in dem sich mein Uropa befand, wurde von Männern, die komische Hüte aufhatten, abgesetzt. Der Pfarrer sagte noch ein paar Worte und dann begann etwas, was mich schon wieder entsetzte.
Der Sarg stand da und es waren Blumen darauf. Viele Blumen. Ein Blumenkranz. Um den Sarg waren Schnüre, die aussahen wie der Blumendraht, den meine Mama zu Hause hatte, um Kränze zu binden. Warum war denn da jetzt so viel Draht um den Sarg?
„Das sind nur Seile, um den Sarg herunter in die offene Grabstelle herunter gleiten zu lassen“, flüsterte meine Mutter mir zu und hielt meine Hand ganz fest. „Aber das ist viel zu viel Verschnürtes!“ sagte ich und war der Meinung, dass keiner mich ernst nahm. Die Leute lächelten mich an und trotzdem ging der Sarg plötzlich in die Tiefe. Hatten die dummen Erwachsenen denn nichts verstanden? Ich musste also lauter werden und rief: „Wie soll der Liebe Gott denn den Sarg aufbekommen, wenn er den Uropa zu sich holen will?“
In meinen Vorstellungen kam nämlich der liebe Gott in einem Fahrstuhl kurz herunter, öffnete den Sarg, begrüßte meinen Uropa mit einer netten Umarmung, und zusammen fuhren sie im Lift dann wieder nach oben. Gott ist allmächtig, der schafft das schon, hörte ich einen Mann, der in der Reihe vor uns stand, sagen. Es blieb mir nur zu hoffen, dass es so war! Die Leute nahmen eine Schippe, und statt Gartenarbeit zu verrichten – was mein anfänglicher Gedanke war – schippten sie Erde auf den Sarg. Erst zugeschnürt wie ein Paket und dann noch Erde drauf. Gott musste ein Held mit Superkräften sein!
Der Nachmittag nach der Beerdigung war langweilig. Leichenschmaus nannten sie es oder „das Fell versaufen“. Ich durfte nicht toben und ein Spielplatz war auch nicht in der Nähe. Wie öde. Ich überlegte, ob Uropa schon im Himmel angekommen war und wenn ja, was er dort jetzt wohl machte? Sich hinlegen und ausruhen fiel ja schon mal flach. Im Himmel sind alle Menschen wieder gesund und munter und hüpfen und springen herum wie junge Rehe, hatte meine Mutter gesagt. Na super. Während ich hier in einem großen Saal mit lauter traurigen Leuten sitzen musste, ohne mit den Beinen zu wackeln, durfte mein Uropa da oben machen, wozu er gerade Lust hatte. Der Himmel musste das Paradies sein.
Dass das Leben hier unten aber auch schön sein kann, erfuhr ich, als die Wirtin, in deren Gaststätte die Trauerfeier stattfand, mich plötzlich mit einer Handbewegung zu sich lotste. Gespannt ging ich zu ihr hinter die Theke und schaute atemlos zu, wie sie mit einem Schlüssel den Schrank im Lagerraum öffnete, im Regal nach einer großen transparenten Dose griff, diese öffnete und mir befahl, die Hand zu öffnen. Ich tat (endlich mal), wie man mir befahl und legte gleich beide meiner Hände zu einer Schüssel zusammen. Sie griff mit ihrer Hand in die Dose und legte mir eine große Portion Weingummiteufelchen in die Hand. Okay, wenn es so lief, könnte ich es hier unten noch ein paar Jährchen aushalten, bis ich im Himmel bei meinem lieben Gott tun und lassen konnte, was ich wollte. Vergelt´s Gott.
Herzlichste Grüße
Steph
Ein Kommentar zu „Weingummiteufel und der liebe Gott“